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Videoconference Fatigue

Videokonferenz-Müdigkeit

Hintergrund

Seit Beginn des ersten Lockdowns aufgrund der COVID-19-Pandemie nutzen zunehmend mehr Menschen Videokonferenz-Applikationen über das Internet, um aus dem Homeoffice oder mobil von unterwegs mit Kolleginnen und Kollegen den Austausch zu suchen, aber auch privat zu kommunizieren. Allein im Jahr 2020 hat Zoom als der Branchenprimus 485 Millionen Downloads seiner mobilen Videokonferenz-Applikation verzeichnet (Dean 2022; s. „Weitere Infos“). Zweifelsohne haben Videokonferenzen es ermöglicht, den Arbeitsbetrieb während der Pandemie aufrechtzuerhalten, obwohl es die Auflagen gab, sich aufgrund der Pandemie-Eindämmung nicht physisch zu treffen. Durch die Verwendung der Videokonferenz-Werkzeuge wurde zudem deutlich, dass viele Geschäftsreisen obsolet werden, da es sehr einfach ist, sich mit Hilfe der Online-Plattformen über große Distanzen und Zeitzonen auszutauschen.

Erfassung von Videokonferenz-Müdigkeit per Fragebogen

Trotz der vielen positiven Effekte durch die Videokonferenz-Applikationen wird mittlerweile in der Fachliteratur darüber diskutiert, ob ein Zuviel an Videokonferenzen einen ermüdenden Effekt haben kann und welcher Art diese Form der Fatigue (= Müdigkeit) genau ist (Nesher Shoshan u. Wehrt 2021). Mittlerweile gibt es auch einen psychologischen Fragebogen mit dem Namen „Zoom Exhaustion and Fatigue-Skala“ (ZEF-Skala), um die Ausprägung der Videokonferenz-Müdigkeit messbar zu machen. Diese wurden zum ersten Mal von Fauville et al. (2021a) vorgelegt. Zoom ist in diesem Zusammenhang – genauso wie der Begriff „Zoom Fatigue“ – als synonym für die vielen Videokonferenz-Applikationen auf dem Markt zu verstehen, seien es die Angebote von Cisco Webex, Microsoft Teams, Skype, Facetime oder andere.

Die ZEF-Skala misst mit fünfzehn Items die Ermüdungserscheinungen der Videokonferenz-Nutzenden in unterschiedlichen Domänen. Dazu gehört ein genereller Müdigkeitsbereich, weiterhin die visuelle, soziale, motivationale und emotionale Müdigkeit aufgrund der eigenen Videokonferenz-Erfahrungen. Visuelle Fatigue zielt auf die Müdigkeit des visuellen Apparats ab (unscharfes Sehen, schmerzende Augen) und die soziale Müdigkeit darauf, dass die Teilnehmenden an Videokonferenzen danach unter anderem weniger Menschen sehen möchte. Die motivationale Müdigkeit äußert sich in Problemen, nach den Videokonferenzen weiteren Arbeitsaufgaben nachgehen zu können und die emotionale Müdigkeit hat oft emotionale Erschöpfung zur Folge. Diese unterschiedlichen Bereiche können isoliert betrachtet oder auch zusammengenommen werden, um einen generellen Faktor Videokonferenz-Müdigkeit auszumachen. Um die Natur der Videokonferenz-Müdigkeit im deutschsprachigen Raum besser zu verstehen, wurde die ZEF-Skala in die deutsche Sprache übersetzt: In der Studie von Montag et al. (2022) konnten darüber hinaus substanzielle Zusammenhänge zwischen der Videokonferenz-Müdigkeit sowie Tendenzen zu depressiven Verstimmungen und dem Burnout hergestellt werden. Die Überlappungen fanden im Bereich > 0,50 statt, das heißt, es wurde über 25 % geteilte Varianz in den Konstrukten beobachtet. Damit wird deutlich, dass die Videokonferenz-Müdigkeit mit bereits etablierten affektiven Störungsbildern im Zusammenhang steht.

Wie kommt es zu einer ­Videokonferenz-Müdigkeit?

Bailenson (2021; s. „Weitere Infos“) hat mehrere theoretische Erklärungen vorgelegt, um das Aufkommen der Videokonferenz-Müdigkeit zu verstehen. Zunächst diskutiert er in seinem Artikel die so genannte „Mirror Anxiety“, die auch als „Facial Appearance Dissatisfaction“ bekannt ist (s. Ratan et al. 2022). Diese Form der Spiegelangst oder Unzufriedenheit mit dem eigenen Äußeren würde durch ständiges „sich selbst betrachten“ verstärkt zu Ermüdungserscheinungen führen, da häufig das Selbstbild in Videokonferenzen per Standardeinstellung zu sehen ist. Ein weiterer möglicher Grund für die Ermüdungserscheinungen durch eine Vielzahl an Videokonferenzen findet sich in den Restriktionen der eigenen Bewegungen durch die Grenzen des Computerbildschirms. Implizit passen sich die Nutzenden an die Restriktionen des Bildschirms an, das heißt, die Bewegungen finden nur noch begrenzt statt, damit die Teilnehmenden auf der anderen Seite der Videokonferenz möglichst viel vom Gegenüber sehen können. Weitere Müdigkeitsfaktoren finden sich in der Schwierigkeit wieder, alle relevanten non-verbalen und verbalen Informationen aufzunehmen, die bei einem physischen Treffen in einem Raum ganzheitlicher verarbeitet werden können. Genauer: In Präsenz kann man die Gesprächspartnerin oder den Gesprächspartner in der gesamten Erscheinung wahrnehmen, auch die Körperhaltung des Gegenübers etc. kann also verarbeitet werden.

Erwähnt werden sollte als Erklärung für die Videokonferenz-Müdigkeit auch der „Hypergaze“. Hierunter wird das dauernde „Angestarrt werden“ durch eine oder mehrere Personen in einer Videokonferenz verstanden. Dies würde sich beim Aufein­andertreffen von Menschen in Präsenz – beispielsweise in einem Büro – aus Höflichkeitsgründen verbieten. Ähnliches ist auch aus Aufzugssituationen bekannt. Fremde Personen neigen in einer solchen Situation dazu, sich nicht nur nicht anzustarren, sondern sich gegenseitig auch möglichst viel Platz zu gewähren und die entgegengesetzte Ecke des Aufzugs aufzusuchen. In einer Videokonferenz sitzen stattdessen viele der Teilnehmenden so nah am Bildschirm, dass der natürliche Abstand, den Menschen sich eigentlich geben wollen, verletzt wird.

Personenmerkmale und die ­Videokonferenz-Müdigkeit

Neben der Erforschung der Ursachen der Videokonferenz-Müdigkeit haben sich Forschende auch mit der Frage beschäftigt, welche Personengruppen besonders unter der Videokonferenz-Müdigkeit leiden. In der Literatur zeigt sich unter anderem, dass jüngere Menschen und weibliche Personen eher eine Videokonferenz-Müdigkeit berichten (Fauville et al. 2021b, s. „Weitere Infos“; Montag et al. 2022). Möglicherweise nehmen jüngere Menschen häufiger an Videokonferenzen teil, so dass dies die höhere Belastung erklären kann. Diese Annahme ist aber spekulativ und die Zusammenhänge mit dem Alter sind bezüglich der Effektstärke klein. Im Durchschnitt leiden Frauen möglicherweise eher unter einer Videokonferenz-Müdigkeit als Männer, weil bei ihnen die bereits eingeführte Spiegelangst stärker ausgeprägt ist (Ratan et al. 2022).

Aus der Persönlichkeitspsychologie ist ein weiterer Faktor bekannt, der robust mit höheren Tendenzen zur Videokonferenz-Müdigkeit assoziiert ist. Es handelt sich um die Persönlichkeitseigenschaft Neurotizismus aus den großen Fünf der Persönlichkeit, die beispielsweise mit erhöhter Ängstlichkeit, emotionaler Instabilität und Grübeln einhergeht. Da neurotische Personen eher zu negativer Emotionalität neigen (Marengo et al. 2021), ist es wenig überraschend, dass diese Personen auch vermehrt Videokonferenz-Müdigkeit erleben (Fauville et al. 2021b; Montag et al. 2022).

Die Faktoren Alter, Geschlecht und Persönlichkeit sind in den genannten Arbeiten von Fauville et al. (2021b) und Montag et al. (2022) nur querschnittlich untersucht worden, so dass unklar ist, wie die Wirkmechanismen genau aussehen. Aufgrund der zeitlichen Stabilitätsannahme der Persönlichkeit ist es aber nicht unwahrscheinlich, dass Neurotizismus einen Risikofaktor für das Erleben einer Videokonferenz-Müdigkeit darstellt, genauso wie Alter und Geschlecht, obwohl dies noch weiterer Untersuchungen, auch experimenteller Natur, bedarf.

Möglicherweise sind auch bereits bestehende Psychopathologien wie eine Depression oder Burnout Vulnerabilitätsfaktoren. Oben wurde bereits über Zusammenhänge zwischen der Videokonferenz-Müdigkeit mit beiden affektiven Erkrankungen hingewiesen (Montag et al. 2022), wobei auch hier die genaue Wirkrichtung unklar ist.

Mögliche Interventionen, um die Videokonferenz-Müdigkeit zu reduzieren

Neben der Ursachenforschung, der genauen Charakterisierung des neuen Phänomens sowie dem Herausarbeiten von Resilienz- und Vulnerabilitätsfaktoren ist es auch von Bedeutung näher zu verstehen, durch welche Interventionen sich Menschen vor einer aufkommenden Videokonferenz-Müdigkeit schützen können. Aufgrund vorläufiger Betrachtungen der deskriptiven Statistiken im Supplement der Arbeit um Montag et al. (2022) lässt sich möglicherweise die Empfehlung ableiten, dass weniger Videokonferenzen pro Tag, längere Pausen zwischen den Online-Meetings und eine geringere Zahl an Teilnehmenden helfen könnten. Letzteres mag besonders für die Teamarbeit via Videokonferenz gelten. Dies alles muss allerdings strukturierter und mit größeren Fallzahlen in zukünftigen Arbeiten erforscht werden.

Shockley et al. (2021) empfehlen außer­dem, dass das Ausschalten der eigenen Kamera helfen könnte, die Videokonferenz-Müdigkeit zu reduzieren. Laut Shockley et al. (2021) profitieren von einer solchen Intervention Frauen und auch jene Personen, die noch nicht lange im Unternehmen/der Organisation tätig sind. Letztere machen sich möglicherweise aufgrund des neuen Arbeitsumfelds mehr Gedanken um ihr Äußeres oder ihre Wirkung auf die Mitarbeitenden. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass in einigen Tools auch nur die Selbstansicht ausgeschaltet werden kann. So können andere die Person noch sehen, während diese nicht dauernd mit ihrem Selbstbild konfrontiert ist. Ob dies genauso wirkungsvoll im Hinblick auf die Reduktion der Videokonferenz-Müdigkeit ist, wie das komplette Ausschalten der Kamera, muss noch getestet werden. Bennett et al. (2021) tragen zudem in ihren Empfehlungen vor, dass generelle Regeln über Verwendung von Kameras oder Multitasking während des Meetings etc. ebenfalls hilfreich sind, um die Erfahrungen mit Videokonferenzen positiv zu gestalten. Dies könnte auch zu einer aktiveren Teilnahme führen, die weniger ermüdend sein könnte als sich „passiv“ nur beschallen zu lassen. Dass Personen, die gerade nicht sprechen, am besten das Mikrofon ausmachen, ist wohl mittlerweile hinreichend bekannt. Weiterhin wird in der Arbeit um Bennett et al. (2021) der Rat ausgesprochen, das Gruppenzughörigkeitsgefühl in Videokonferenzen zu stärken, um Videokonferenz-Müdigkeit vorzubauen. Die vielen Empfehlungen in der gerade genannten Arbeit basieren allerdings zum Teil auf qualitativen Berichten oder sind im Hinblick auf ihre tatsächliche Wirkkraft noch uneindeutig und müssen daher tiefergehend untersucht werden.

Fazit

Online-Videokonferenzen stellen eine sinnvolle Ergänzung der modernen Arbeitswelt dar, die viele Möglichkeiten des Zusammenerarbeitens ermöglicht. Der häufige Einsatz von Videokonferenz-Applikationen kann allerdings zu einer Videokonferenz-Müdigkeit führen. Dies gilt es zu vermeiden, da die Videokonferenz-Müdigkeit nicht nur die Produktivität der betroffenen Personen reduzieren könnte (motivationale Fatigue), sondern auch aufgrund der Nähe zu Burnout und depressiven Tendenzen ernst genommen werden sollte.

Es sei allerdings auch darauf hingewiesen, dass die Wirkrichtungen zwischen vielen untersuchten Variablen noch unklar sind und nach Kenntnis des Autors auch repräsentative Angaben darüber fehlen, wie viele Menschen im deutschsprachigen Raum unter einer Videokonferenz-Müdigkeit leiden. Dies zeigt, dass noch viel Forschung in diesem Bereich notwendig ist, um sowohl die wahre Natur der Videokonferenz-Müdigkeit, deren tatsächliche Verbreitung sowie funktionierende Interventionen gegen diese Form der Müdigkeit genau herauszuarbeiten.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Bennett AA, Campion ED, Keeler KR, Keener SK: Videoconference fatigue? Exploring changes in fatigue after videoconference meetings during COVID-19. J Appl Psychol 2021; 106: 330.

Fauville G, Luo M, Queiroz AC, Bailenson JN, Hancock J: Zoom exhaustion & fatigue scale. Computers in Human Behavior Reports 2021a; 4: 100119.

Marengo D, Davis KL, Gradwohl GÖ, Montag C: A meta-analysis on individual differences in primary emotional systems and Big Five personality traits. Scientific Reports 2021; 11: 1–12.

Montag C, Rozgonjuk D, Riedl R, Sindermann C: On the associations between videoconference fatigue, burnout and depression including personality associations. J Affect Disord Reports 2022; 100409.

Nesher Shoshan H, Wehrt W: Understanding “Zoom fatigue”: A mixed – method approach. Appl Psychol 2002; 71: 827–852.

Ratan R, Miller DB, Bailenson JN (2022). Facial appearance dissatisfaction explains differences in zoom fatigue. Cyberpsychol Behav Soc Netw 2022; 25: 124–129.

Shockley KM, Gabriel AS, Robertson D, Rosen CC, Chawla N, Ganster ML, Ezerins ME: The fatiguing effects of camera use in virtual meetings: A within-person field experiment. J Appl Psychol 2021; 106: 1137-1155.

doi:10.17147/asu-1-245705

Weitere Infos

Bailenson JN: Nonverbal overload: a theoretical argument for the causes of zoom fatigue. Technology, Mind, and Behavior 2021; 2(1).

https://tmb.apaopen.org/pub/nonverbal-overload/release/2

Dean B: Zoom User Stats: How Many People Use Zoom in 2022?

https://backlinko.com/zoom-users

Fauville G, Luo M, Muller Queiroz AC, Bailenson JN, Hancock J: Nonverbal mechanisms predict zoom fatigue and explain why women experience higher levels than men. 2021b

https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3820035

Kernaussagen

  • Videokonferenz-Müdigkeit wird zunehmend als arbeitsbezogenes Gesundheitsthema in
    der Fachliteratur diskutiert.
  • Als Gründe für die Videokonferenz-Müdigkeit werden unter anderem die Spiegelangst, ­Probleme beim Verarbeiten (non-)verbaler Hinweisreize und das dauernde unvermittelte ­„Angestarrt werden“ angeführt.
  • Videokonferenz-Müdigkeit ist mit Tendenzen zu depressiven Verstimmungen und Burnout ­assoziiert.
  • Unter anderem könnten kürzere Videokonferenzen, längere Pausen zwischen den Video­konferenzen sowie das Ausschalten des Selbstbilds/der Kamera bei der Durchführung von ­Videokonferenzen dabei helfen, die Videokonferenz-Müdigkeit zu reduzieren.
  • Kontakt

    Prof. Dr. Christian Montag
    Abteilung für Molekulare ­Psychologie; Institut für Psychologie und Pädagogik, Universität Ulm; Helmholtzstr. 8/1; 89081 Ulm

    Foto: Marcus Braun

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