Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Arbeitsfähigkeit und sozialmedizinische Begutachtung bei Fatigue-Syndromen

Fähigkeitsbeeinträchtigungen und das ICF-Konzept der funktionellen Gesundheit

In der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (WHO 2001) wird eine Struktur zur Beschreibung von Krankheitsfolgen gegeben mit der Unterscheidung von

  • Funktionsstörungen (Krankheitssymptomen),
  • Einschränkung der Fähigkeit zur Ausübung von Aktivitäten und
  • Kontextanforderungen beziehungsweise -barrieren, die die Teilhabe einschränken.
  • Fähigkeitsbeeinträchtigungen können im Zusammenhang mit körperlichen Erkrankungen oder psychischen Störungen auftreten, entweder gleichzeitig oder mit zeitlicher Verzögerung. Subjektive Fatigue- oder Erschöpfungszustände (Funktionsstörungen nach ICF) können dazu führen, dass die Betroffenen sich für arbeits- beziehungsweise erwerbsunfähig einschätzen. Gutachterlich stellt sich damit die Frage, welcher Stellenwert dem subjektiven Insuffizienzerleben im Verhältnis zur objektiv validierbaren Leistungsunfähigkeit beizumessen ist und wie sich dies insbesondere in der sozialmedizinischen Beurteilung von Arbeits(un)fähigkeit/Erwerbs(un)fähigkeit bei psychischen Störungen widerspiegelt (AWMF 2019). Zu beurteilen ist, welches (Rest-)Leistungsvermögen vorhanden ist und dies ist mit den Aktivitäts- beziehungsweise Leistungsanforderungen des jeweiligen Arbeitsplatzes abzugleichen. Der bloße Nachweis einer strukturellen Organschädigung oder Krankheitssymptomatik sagt allein für sich noch nichts darüber aus, welches Leistungsvermögen die Betroffenen trotz dieser Erkrankung noch zur Verfügung haben. Der Begriff „funktionale Gesundheit“ beschreibt, wie sehr eine Erkrankung Betroffene in ihrer beruflichen oder gesellschaftlichen Teilhabe beziehungsweise ihren Fähigkeiten und Aktivitäten einschränkt. Nach dem biopsychosozialen Modell der ICF hängt dies neben personbezogenen Faktoren (beispielsweise Vorhandensein von effektiven Copingstrategien) maßgeblich auch von den sozialen Rahmenbedingungen ab (beispielsweise Erleichterung der beruflichen oder gesellschaftlichen Teilhabe).

    Unter Aktivitäten wird alles gefasst, was ein Individuum konkret tut oder tun könnte, sowohl auf der Ebene von körperlichen Tätigkeiten als auch auf der sozial-interaktionellen Ebene. Für die gutachterliche Beurteilung des Fähigkeitsprofils insbesondere bei psychischen Störungen eignen sich beispielsweise Fremdratinginstrumente wie der Mini-ICF APP (Linden et al. 2009, 2015), der korrespondierend dazu auch als Selbstratinginstrument Mini-ICF App-S vorliegt. Mittels beider Assessments werden folgende 13 Fähigkeitsdimensionen erfasst:

  • Anpassung an Regeln und Routinen,
  • Planung und Strukturierung von Aufgaben,
  • Flexibilität und Umstellungsfähigkeit,
  • Anwendung fachlicher Kompetenzen,
  • Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit,
  • Durchhaltefähigkeit,
  • Selbstbehauptungsfähigkeit,
  • Kontaktfähigkeit zu Dritten,
  • Gruppenfähigkeit,
  • familiäre bzw. intime Beziehungen,
  • Spontanaktivitäten,
  • Selbstpflege sowie
  • Verkehrsfähigkeit.
  • Das Fremdrating erfolgt im Rahmen eines manualgestützten strukturierten Interviews, dessen adäquate Durchführung ein spezielles Vorbereitungstraining der Interviewenden erfordert, um eine möglichst objektive Explorierung der Fähigkeitsdimensionen zu gewährleisten.

    Vorgehen bei der sozial­medizinischen Begutachtung

    Die Begriffe „Arbeitsfähigkeit“, „Erwerbsminderung“ beziehungsweise „Erwerbsunfähigkeit“ oder „Pflegebedürftigkeit“ sind sozialrechtliche Kategorien, die Versicherte im Fall von Krankheit vor nachteiligen so­zialen Konsequenzen oder gesundheitlichen Folgeschäden absichern und die Voraussetzung für finanzielle Hilfen schaffen sollen.

    Bei der sozialmedizinischen Beurteilung von beruflichem Leistungsvermögen oder Fähigkeitsprofil sind maßgeblich die Leistungsanforderungen und kontextuellen Rahmenbedingungen des jeweiligen Arbeitsplatzes zu berücksichtigen, das heißt, je nachdem, wie diese sich konkret darstellen, kann sich ein Fähigkeitsproblem für die Betroffenen unterschiedlich stark auf ihre Arbeits-/Erwerbsfähigkeit auswirken. Das bloße Vorliegen einer allgemeinen Fähigkeitsbeeinträchtigung sagt für sich allein kaum etwas darüber aus, wie sehr Betroffene deswegen in der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit tatsächlich eingeschränkt sind. Entscheidend für die Beurteilung ist vielmehr, welche konkreten Aktivitäten und Leistungs­anforderungen an einem konkreten Arbeitsplatz zu erbringen sind. Diese müssen speziell für einen typischen Arbeitstag erfragt werden. Zum Beispiel: „Können Sie bitte erzählen, wie ein üblicher Tag bei Ihrer Arbeit aussieht? Welche Aufgaben sind typischerweise zu erledigen – welche Aktivitäten von Ihnen sind dazu erforderlich?“. Durch diese Fragen soll eine möglichst genaue Auflistung des geforderten Aktivitätsspektrums ermöglicht werden.

    Im nächsten Schritt ist zu klären, ob beziehungsweise in welchem Grad eine bestimmte Aktivität aus dieser Auflistung ausgeführt werden kann. Die Begutachtung fokussiert hierbei vor allem darauf, ob diese Aktivität grundsätzlich im festgestellten Umfang ausgeübt werden könnte („Capacity“), unabhängig davon, ob die begutachtete Person es tut oder will. Diese expertenseitige Beurteilung des aktuellen Leistungsvermögens stützt sich auf möglichst detaillierte Verhaltensschilderungen und -beobachtungen und nicht nur auf die alleinige Selbsteinschätzung der oder des Begutachteten.

    Arbeits(un)fähigkeit

    Der Begriff Arbeits(un)fähigkeit fällt in den sozialrechtlichen Geltungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Veranlasst diese eine sozialmedizinische Begutachtung bei einer versicherten Person, soll meist geklärt werden, ob bei ihr Arbeitsunfähigkeit und infolgedessen auch Anspruch auf Krankengeld besteht. Laut Rechtsprechung des Bundessozialgerichts liegt Arbeitsunfähigkeit (AU) vor, wenn Versicherte aufgrund von Krankheit ihre zuletzt vor der AU ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen können (BSG-Urteil vom 30.05.1967, AZ.: 3 RK 15/65, § 2 Abs. 1 AU-Richtlinie). Als wesentliches Kennzeichen der AU gilt, dass aufgrund von krankheitsbedingter Leistungsminderung die Anforderungen des Arbeitsplatzes nicht mehr erfüllt werden können. AU liegt auch vor, wenn aufgrund eines bestimmten Krankheitszustands, der für sich allein genommen noch keine AU bedingt, bei weiterer Arbeitstätigkeit die Gesundheit beziehungsweise Gesundung der Versicherten so sehr beeinträchtigt werden, dass sie zur AU führen (vgl. MDS 2021). Bedeutsam für die Feststellung von AU sind dabei nur die Erkrankungen und deren Auswirkungen, die aktuell den Versicherten an der Erbringung ihrer vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung hindern. In allen diesen Fällen kann Arbeits(un)fähigkeit nur im Sinne einer Ja-Nein-Entscheidung festgestellt werden, das heißt, eine graduelle Abstufung der Arbeitsfähigkeit ist prinzipiell nicht möglich.

    Die sozialmedizinische beziehungsweise gutachterliche Feststellung von „Arbeitsunfähigkeit“ hängt nicht vom Krankheitszustand im engeren Sinne ab, sondern von den sich daraus ergebenden Fähigkeitsbeeinträchtigungen, die in Verhältnis zu den konkreten beruflichen Anforderungen im Einzelfall gesetzt werden müssen. Krankheitsbedingte Fähigkeitsstörungen können für den individuellen Arbeitsplatz relevant sein, müssen es aber nicht.

    Erwerbs(un)fähigkeit bzw. Minderung der Erwerbsfähigkeit

    Der Begriffe „Erwerbs(un)fähigkeit“ ist sozialrechtlich der Rentenversicherung zugeordnet und bezieht sich auf das Leistungsvermögen von Versicherten, im gesamten Arbeitsmarkt entsprechend ihrer Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen Fähigkeiten einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können (BSG 16.06.2015 B 13R12/14 R). Im Gegensatz zur Arbeitsfähigkeit ist bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit eine graduierte Einstufung möglich – zum einen
    bezogen auf die zumutbare Arbeitszeit (übliche Stufung: unter drei Stunden; drei bis unter 6 Stunden; 6 Stunden und mehr), zum anderen bezüglich der Minderung von beruflichen Anforderungen (beispielsweise Verbot von Nachtschicht) oder erforderlichenfalls auch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsplatz (beispielsweise Einsatz von behindertengerechten Hilfsmitteln). Besteht Erwerbsunfähigkeit ohne Aussicht auf Besserung, haben Versicherte ein Anrecht auf Erwerbsunfähigkeitsrente, die anders als das auf maximal 72 Wochen befristete Krankengeld der Krankenversicherung zeitlich variabel bis spätestens zum Eintritt der regulären Altersrente zu gewähren ist.

    Eine „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ liegt vor, wenn infolge gesundheitlicher Beeinträchtigungen eine erhebliche und länger als sechs Monate andauernde Einschränkung der Leistungsfähigkeit besteht, wodurch die Versicherten die bisherige oder zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit nicht mehr im vollen zeitlichen Umfang oder nur unter wesentlichen Einschränkungen ausüben können. Die Unfallversicherung zahlt in solchen Fällen in Abhängigkeit vom Grad der Erwerbsunfähigkeit einen relativen Lohnausgleich.

    Bei der abschließenden Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit sind die konkreten Vorgaben des jeweiligen Rechtsgebiets zu berücksichtigen, inwieweit der allgemeine Arbeitsmarkt, die zuletzt ausgeübte berufliche Situation und/oder eine zumutbare Verweistätigkeit Maßstab sind. Dabei sind in der Prognoseeinschätzung meist auch zeitliche Aspekte und potenzielle Veränderungen durch die Teilnahme an therapeutischen oder rehabilitativen Maßnahmen zu bewerten.

    Sozialmedizinische Begutachtung auf Veranlassung der Rentenversicherung

    Grundsätzlich gilt für die Rentenversicherung das Primat „Reha vor Rente“, das heißt, wo noch eine Chance auf Besserung des chronifizierten Leidenszustands besteht, soll vor Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente möglichst noch eine Rehabilitationsbehandlung durchgeführt werden, sofern die hierfür geltenden Indikationskriterien erfüllt sind.

    Die sozialmedizinische Beurteilung von Erwerbs(un)fähigkeit auf Veranlassung der Rentenversicherung sollte ein möglichst differenziertes Bild des Leistungsvermögens beziehungsweise Fähigkeitsprofils beschreiben (DRV 2018). Dies ist von großer Bedeutung, da seitens der Rentenversicherung ein breites Spektrum von Leistungen zur beruflichen Teilhabe vorgehalten wird, worauf Versicherte bei Vorliegen der erforderlichen Voraussetzungen auch einen Rechtsanspruch haben. Aufgrund dieser Sachlage erfordert es eine differenzierte sozialmedizinische Begutachtung, die die sozialrechtlichen Konsequenzen ihrer Beurteilung für die Betroffenen angemessen im Blick hat. Folgende Fragenkomplexe sind hierbei von besonderer Bedeutung und gutachterlich detailliert zu beantworten:

  • Welche Gesundheitsstörungen (ICD-Diagnosen) sind feststellbar?
  • Welche Leistungseinschränkungen („ne­gatives Leistungsbild“) und welches noch
    vorhandene Restleistungsvermögen („positives Leistungsbild“) ist in ihrer qualitativen Ausprägung darzustellen?
  • Sind entsprechend dem erkennbaren positiven und negativen qualitativen Leistungsbild mögliche quantitative Leistungseinschränkungen vorliegend?
  • Wie ist die Prognose der Gesundheits- bzw. Funktionsstörungen?
  • Gibt es noch Therapie- oder Trainingsmöglichkeiten oder Möglichkeiten einer „leidensgerechten“ Anpassung der Arbeitsanforderungen an das vorliegende Fähigkeitsprofil, um so eine Erwerbsminderung zu verhindern?
  • Zumutbare Willensanstrengung

    Bei der sozialmedizinischen Begutachtung psychischer Störungen und vor allem bei somatoformen oder funktionellen Syndromen stellt sich die Frage, ob den Betroffenen zumutbar ist, trotz subjektiven Leidensdrucks einer Berufstätigkeit weiterhin nachzugehen. Das Ergebnis kann sein, dass trotz subjektiv beeinträchtigender Symptome die Weiterführung der beruflichen Tätigkeit unter Berücksichtigung der speziellen Anforderungen des Arbeitsplatzes möglich ist, das heißt keine Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit besteht. Solche Beurteilungen sind naturgemäß kontrovers, wenn die Betroffenen sich selbst als nicht mehr arbeitsfähig beziehungsweise beruflich nicht belastbar erleben, obgleich aus gutachterlicher Sicht diesbezüglich noch ein ausreichendes Leistungsverbögen zur Verfügung steht. Ursächliche Einflussfaktoren für solche negativen Selbsteinschätzungen bei den Betroffenen sind häufig bewusste oder unbewusste Wünsche nach passivem Versorgtwerden bis hin zum manifesten Rentenbegehren, wobei diese Motive und Absichten letztlich meist neurotischen Konfliktkonstellationen entspringen.

    Der „Wille“ als handlungsleitende Inten­tionalität ist keine mit objektiven Testverfahren messbare Größe. Hier bleibt es maßgeblich Aufgabe der Gutachterin oder des Gutachters, sich ein Urteil über die kog­nitiven und emotionalen Ressourcen des Begutachteten zu bilden, ob die Voraussetzungen für eine autonome Willensbildung ausreichend gegeben sind und dementsprechend eine je nach Erfordernis angemessene Willensanstrengung zumutbar ist (Landolt 2003). Bei psychischen Störungen gilt seitens der Rentenversicherung die Feststellung, dass wenn Versicherte die Hemmungen, die einer Arbeitsaufnahme entgegenstehen, mit zumutbarer Willensanstrengung nicht mehr überwinden können, die berufliche Leistungsfähigkeit als aufgehoben betrachtet werden muss, unabhängig davon, dass ein zeitlich uneingeschränktes Leistungsvermögen besteht.

    In diesem Zusammenhang ist auch die sozialrechtlich geregelte Mitwirkungspflicht zu erwähnen. Dazu gehören beispielsweise die Mitwirkung bei Behandlungsmaßnahmen oder an einer gestuften beruflichen Wiedereingliederung, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsplatz oder auch die Übernahme eines dem Fähigkeitsprofil der begutachteten Person besser angepassten (neuen) Arbeitsplatzes. Die Mitwirkungspflicht bleibt uneingeschränkt bestehen, selbst wenn sich die Begutachteten aufgrund eigener Überzeugung nicht in der Lage sehen, die im Rahmen solcher Empfehlungen zugemutete Willensanstrengung leisten zu können.

    Sofern die Krankenversicherung zuständig ist, hat sie bei Ablehnung der gutachterlichen Empfehlung den Krankengeldbezug zu beenden. Im Zuständigkeitsbereich der Rentenversicherung besteht die Regelung, dass wenn sich Versicherte einer zumutbaren erfolgversprechenden Behandlung oder Eingliederung ins Erwerbsleben widersetzen oder nicht aus eigenem Antrieb das ihnen Zumutbare dazu beitragen, ihnen die Leistungen vorübergehend oder dauerhaft gekürzt oder verweigert werden können.

    Beschwerdevalidierung

    Die sozialmedizinische Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit sowie krankheitsbedingter Fähigkeitseinschränkungen ist ohne ergänzende Validierung der subjektiven Beschwerdeschilderung der begutachteten Person unvollständig. Hierzu ist eine eingehende, explizit und nachvollziehbar dargelegte Beschwerdevalidierung erforderlich (Merten 2014). Die Bewertung der Gültigkeit von Aussagen, Beobachtungen oder Testleistungen sollte dabei im Rahmen einer Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung mittels geeigneter psychologischer Validierungskonzepte und -methoden erfolgen. Dazu können standardisierte und normierte Validierungsmethoden ebenso wie testpsychologisch gestützte Merkmalsvergleiche in den Bewertungsprozess integriert werden.

    Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Literatur

    AMWF: Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen. 2019. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-029.html (abgerufen am 03.03.2022).

    Deutsche Rentenversicherung: Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung. Sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen. Berlin: DRV, 2018.

    Landolt H: Die Rechtsvorstellung der zumutbaren Willensanstrengung im Sozialversicherungsrecht
    (No. 23, pp. 141-212). Institut für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis IRP-HSG, 2003.

    Linden M, Baron S, Muschalla B: Mini-ICF-Rating für psychische Störungen (Mini-ICF APP). Ein Kurz­instrument zur Beurteilung von Fähigkeits- bzw. Kapazitätsstörungen bei psychischen Störungen. Göttingen: Hans Huber, 2009, 2015.

    Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS): Begutachtungsanleitung Arbeitsunfähigkeit (AU). Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes nach § 282 SGB V. Essen: Eigendruck,
    2014.

    Merten T: Beschwerdenvalidierung. Göttingen: Hogrefe, 2014.

    WHO – World Health Organization (2001): International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Geneva: World Health Organization, 2001.

    doi:10.17147/asu-1-216976

    Kernaussagen

  • Mittels der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der WHO lassen sich Krankheitsfolgen differenzieren hinsichtlich Funktionsstörungen (Krankheitssymptomen), Fähigkeitseinschränkungen zur Ausübung von Aktivitäten sowie Kontextanforderungen bzw. -barrieren, die die Teilhabe einschränken.
  • Im Rahmen der ICF-Systematik beschränkt sich die sozialmedizinische Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit nicht auf die bloße Feststellung der dem Individuum möglichen Aktivitäten und Fähigkeiten, sondern bezieht maßgeblich auch das jeweilige berufliche Anforderungsprofil mit ein.
  • Insofern sagt der bloße Nachweis einer strukturellen Organschädigung oder Krankheitssymptomatik für sich genommen noch nichts darüber aus, welches berufsbezogene Leistungsvermögen die Betroffenen trotz ihrer Erkrankung noch zur Verfügung haben.
  • Die sozialmedizinische Beurteilung bzw. Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit sowie krankheitsbedingter Fähigkeitseinschränkungen ist durch eine sorgfältige Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung der subjektiven Beschwerdeschilderung zu vervollständigen, wofür entsprechend geeignete psychologischer Validierungskonzepte und -methoden zur Verfügung stehen.
  • Kasuistik

    Ein 56-jähriger Elektriker berichtet beim Hausarzt von Schwindelsymptomen und häufigen ausgeprägten Erschöpfungszuständen, die erstmals im Anschluss an eine vor einigen Wochen durchgemachten Corona-Infektion aufgetreten seien. Er sei überzeugt, an Long-COVID zu leiden und fühle sich aufgrund dieser Beschwerden nicht mehr arbeitsfähig.
    Eine orthopädische Abklärung der Halswirbelsäule sowie HNO-ärztliche und neurologische Untersuchungen ergaben außer altersentsprechenden Befunden keine pathologischen Auffälligkeiten. Im Rahmen einer ergänzenden psychosomatischen Diagnostik zeigten sich schließlich deutliche Hinweise dafür, dass die Schwindelsymptomatik (überwiegend Schwankschwindel in größerer Höhe auf Leitern sowie Dächern) wahrscheinlich als somatisches Angstäquivalent zu bewerten ist.
    Anamnestisch wurde deutlich, dass der Pa­tient schon seit langem dazu tendierte, ins­besondere bei psychischen beziehungsweise körperlichen Belastungen mit starken vegetativen Symptomen sowie ausgeprägten gesundheitsbezogenen Befürchtungen zu reagieren. Des Weiteren erwähnte er beiläufig, dass er einen Berufskollegen kenne, der unter ähnlichen Symptomen wie er leide und bei dem man schließlich Long-COVID diagnostiziert habe. Aufgrund seines höheren Alters und seiner Meinung nach ungünstigen Prognose seiner körperlichen Beschwerden habe er die Absicht, eine Berufsunfähigkeitsrente zu beantragen. Nach motivierender Beratung durch seinen Hausarzt erklärte er sich bereit, an einer psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung teilzunehmen. Im Rahmen dieser Behandlung konnte eine deutliche Besserung seiner starken Erschöpfungsneigung erreicht werden, während die Schwindelanfälligkeit weitgehend unverändert blieb. Seitens des Sozialdienstes der Klinik wurde mit der Firma des Patienten geklärt, dass er künftig keine Installationstätigkeiten mehr auf Dächern oder in größerer Höhe auf Leitern ausüben müsse. Nach eingehender Erörterung dieser Perspektiven erklärte sich der Patient im
    ärztlichen Abschlussgespräch bereit, unter diesen Voraussetzungen seine berufliche Tätigkeit wieder aufzunehmen. Im Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik wurde der Patient als vollschichtig leistungsfähig für alle berufsspezifischen Tätigkeiten als Elektriker im Stehen, Sitzen und Überkopfarbeiten beurteilt, jedoch wegen seiner nicht gebesserten höhenbedingten Schwindelanfälligkeit bis auf weiteres kein Leistungsvermögen für Tätigkeiten in größerer Höhe attestiert. Eine ambulante Verhaltenstherapie zur besseren Bewältigung der höhenbedingten Schwindelanfälligkeit wurde empfohlen.

    Kontakt

    Prof. Dr. med.  Markus Bassler
    Institut für Sozialmedizin, Rehabilitationswissenschaften und Versorgungsforschung; Hochschule Nordhausen; Weinberghof 4; 99734 Nordhausen

    Foto: privat

    Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen