Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Zwischen Doping und Coping

Neuroenhancement am Arbeitsplatz

Der DAK-Gesundheitsreport von 2009 hat für Deutschland die Frage zum Einsatz von leistungssteigernden Medikamenten in der Arbeitswelt erstmals aufgeworfen, systematischer analysiert und 2015 aktualisiert. Mit einem Memorandum zum Neuroenhancement wurde 2009 für den deutschen Raum ein erster Positionsentwurf vorgestellt (Galert et al. 2009). Die betriebliche Prävention eines pharmakologischen Neuroenhancements (PN) steht noch am Anfang. Dieser Beitrag liefert einen kurzen Überblick zum Thema PN am Arbeitsplatz und die Ansätze der Prävention.

Substanzen für das pharma­kologische Neuroenhancement

Bei diesen Substanzen handelt es sich um psycho- und neurotrope Medikamente, die zur Therapie gegen Demenz (Antidementiva/Nootropika, v. a. Pirazetam), Aufmerksamkeits- oder Schlafstörungen (Psychostimulanzien, v. a. Methylphenidat und Modafinil) sowie Depressionen (Antidepressiva, v. a. Fluoxetin) zugelassen sind, sowie um Betablocker (z. B. Propranolol und Meto­prolol) (Weiergräber u. Broich 2019). Bei der spezifischen pharmakologischen Wirkung sind insbesondere die noradrenergen/dopaminergen und cholinergen Rezeptor- und Transportersysteme oder auch Interaktionen mit dem Adenosin-, Serotonin- und Gluta­mat-Rezeptorsystem als Target-Strukturen von Bedeutung.

Pharmakologisches Neuroenhancement im weiteren Sinne schließt Substanzen und Präparate wie beispielsweise Gingko, Nikotin, Koffein, Taurin, Alkohol und vieles mehr mit ein (Förstl 2009). Die Differenzierung zwischen Doping-, Genuss- oder Nahrungsmitteln ist bisher nicht eindeutig.

Epidemiologie

Bisher liegen drei repräsentative und bevölkerungsbasierte Erhebungen zur Prävalenzschätzung für das PN in Deutschland vor:

  • Eine Studie des Robert Koch-Instituts zum Konsum leistungsbeeinflussender Mittel in Alltag und Freizeit (KOLIBRI) mit einer 12-Monatsprävalenz eines PN von 1,5 %,
  • der Epidemiologische Suchtsurvey mit einer 12-Monatsprävalenz von 0,7 % zum Missbrauch von zum Beispiel Amphetaminen in der deutschen Allgemeinbevölkerung (Pabst et al. 2010) und
  • der Report der Deutsche Angestelltenkrankenkasse (DAK) mit einem Schwerpunkt „Doping am Arbeitsplatz“ von 2009 und 2015 mit einer Lebenszeitprävalenz eines PN von 5 % beziehungsweise 6,7% und unter Berücksichtigung der Dunkelziffer von bis zu 12 % (Krämer u. Nolting 2009).
  • Allerdings muss bei diesen Untersuchungen die Problematik der „sensiblen Fragen“ beachtet werden, die in diesem Heft im Beitrag von Pavel Dietz diskutiert wird.

    Initial wurde in der Altersgruppe 18 bis 44 Jahren ein erhöhtes Risiko für die Einnahme von Mitteln ohne medizinische Notwendigkeit beschrieben. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 15 bis 24 Jahren war die Bereitschaft, nicht der Konsum, zum PN überdurchschnittlich hoch ausgeprägt.

    Im Vergleich dazu zeigte 2015 die Altersgruppe der 45- bis 50-Jährigen die höchste Gebrauchsprävalenz von PN, und der Anteil der regelmäßigen Verwender war von 2,2 auf 4,2 % gegenüber 2009 gestiegen (Kordt 2015). Bezieht man illegale und nicht verschreibungs- oder apothekenpflichtige Substanzen mit ein, so kommt man auf eine Gebrauchsprävalenz in den letzten zwölf Monaten von bis zu 20 % (Dietz et al. 2013). Stärker verbreitet ist das pharmakologische Neuroenhancement unter Studierenden (Kowalski 2013).

    In einer schweizerischen Umfrage unter 10 171 Erwerbstätigen und Auszubildenden im Alter von 15 bis 74 Jahren gaben 32 % einen arbeitsbezogenen Substanz- beziehungsweise Medikamentenkonsum (z. B. Schmerz- und Schlafmittel) innerhalb der letzten 12 Monate an, 4 % der Befragten hatten mindestens einmal verschreibungspflichtige Medikamente zum Zweck der kognitiven Leistungssteigerung oder Stimmungsaufhellung eingenommen (Maier u. Schaub 2014). In der Schweizer Stressstudie (n = 1005) betrachteten 4 % der Erwerbstätigen ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut und konsumierten gleichzeitig Substanzen zur Leistungssteigerung (unter Einbezug der Dunkelziffer: 6 %) (Grebner et al. 2010).

    In einer repräsentativen Befragung von 5017 Erwerbstätigen in Deutschland im Alter von 20 bis 50 Jahre, zeigte sich eine Lebenszeitprävalenz von 6,7 % (inklusive Dunkelziffer etwa 12 %) und eine 12-Monatsprävalenz von 3,2 % (Hildebrandt u. Marschall 2016). Der Anteil von Männern und Frauen war gleich. Männer verwenden zum höheren Anteil PN zur Leistungssteigerung, Frauen eher zur Verbesserung des psychischen Wohlbefindens.

    Gründe und Risikofaktoren

    Die Gründe für ein PN sind komplex und finden häufig in Anforderungs- und Leistungskontexten (z. B. Erwerbsarbeit und Studium) statt. Als allgemeine Risikofaktoren gelten beispielsweise Nacht- und Schichtarbeit, Stress, Leistungsdruck sowie die fehlende Trennung von Arbeit und Freizeit (Berlowitz 2012).

    Neben individuellen Faktoren (z. B. Bewältigungsstile und Persönlichkeitsmerkmale) und den sozialen Bedingungen (z. B. Gruppen- und Konkurrenzdruck) spielen auch die strukturellen und systemischen Bedingungen der modernen Bildungs- und Arbeitswelt eine Rolle (z. B. kompetitive Arbeitskulturen, Verdichtung der Arbeitsmenge und hohe Wochenarbeitszeit). Themen wie Chronobiologie, Rationalisierung von Arbeitsprozessen und Dienstleistung im quartären Sektor erhöhen den Wunsch nach PN (Moesgen u. Klein 2018).

    Weniger relevant sind der Schulabschluss und die Arbeitsplatz- beziehungsweise Beschäftigungssicherheit. Entscheidend ist eher das Niveau der Tätigkeit. Wenn quer zu den beruflichen Statusgruppen nach Niveau der Tätigkeit unterschieden wird, haben Erwerbstätige mit einem einfachen Tätigkeitsniveau den höchsten Anteil, Erwerbstätige mit einem hohen Tätigkeitsniveau einen geringen Anteil an PN. Ungünstig ist eine Tätigkeit, bei der kleine Fehler schwerwiegende Konsequenzen haben können, bei der häufig an der Grenze der Leistungsfähigkeit gearbeitet wird oder das Gefühl vorherrscht, alles im Griff haben zu müssen (Hildebrandt u. Marschall 2016).

    Personen mit mangelnder Stress-Resi­lienz, geringer Gewissenhaftigkeit, emotio­naler Instabilität und geringer Zuversicht wird eine erhöhte Tendenz zur Einnahme leistungssteigernder Mittel zugeschrieben (Bagusat et al. 2018). Persönlich berichten manifeste Konsumenten allerdings in vielen Fällen, dass sie einen hohen Anspruch an sich selbst bezüglich der zu erbringenden Leistung und der eigenen Funktionsfähigkeit haben, das heißt sehr gewissenhaft sind.

    Manifeste Konsumenten geben als konkretes Motiv insbesondere hohe Arbeitsanforderungen mit einer hohen Arbeitsdichte und einem gewissen Leistungs- und Zeitdruck an. Besonders gewissenhafte Arbeitnehmer berichten über eine schlechtere psychische Gesundheit und höhere Anfälligkeit für Stress (Schröder 2015).

    Der Auslöser für einen Substanzkonsum im Arbeitskontext kann aber auch nur der Wille zur Leistungsverbesserung sein.

    Ziele für PN

    Die Befürworter und Verwender eines PN versprechen sich im Wesentlichen drei Wirkungen:

  • eine geistige Leistungssteigerung (Cognitive Enhancement),
  • eine Verbesserung des psychischen Wohlbefindens (Mood Enhancement) und
  • den Abbau von Ängsten und Nervosität.
  • PN soll somit zu einer Steigerung der Konzentrationsfähigkeit, des Erinnerungsvermögens, der Auffassungsgabe und Lernfähigkeit, zu einer Verlängerung von Wachphasen und zur Verbesserung von Stimmung und Wahrnehmung beitragen.

    Wirkung bei Gesunden

    Die Datenlage zu den vermeintlich leistungssteigernden Effekten und deren potenziellen Folge- und Langzeitschäden von PN ist bislang unzureichend und widersprüchlich. Bisher wurde noch kein Präparat dafür zugelassen. Mögliche langfristige Nebenwirkungen oder Schädigungen durch den Konsum bei Gesunden sind zurzeit kaum erforscht (Repantis 2011).

    Fraglich ist, ob Arbeits- und Langzeitgedächtnis gleichzeitig positiv beeinflusst werden können. Wenn das Arbeitsgedächtnis verbessert wird, verschlechtert sich das Langzeitgedächtnis und umgekehrt. Dasselbe gilt auch für weitere kognitive Funktionen, wie zum Beispiel für die kognitive Breite bei der Entscheidungsfähigkeit (fokussierte Aufmerksamkeit versus flexible Aufmerksamkeit).

    Antidepressiva verbessern die Stimmung von gesunden Menschen im Vergleich zu Plazebos nicht, sondern führen eher dazu, dass Aufmerksamkeit und Wachheit abnehmen. Antidementiva verbessern die Gedächtnisleistung Gesunder nur im Einzelfall, zum Beispiel bei Schlafentzug; eher überwiegen die Nebenwirkungen (Glaeske et al. 2013, siehe „Weitere Infos“).

    Methylphenidat (Ritalin®) steigert kurzfristig die Konzentrationsfähigkeit, unterdrückt Müdigkeit und erhöht damit womöglich die Lernfähigkeit bei neuen Aufgaben und in ungewohnten Situationen. Im Umgang mit bekannten, alltäglichen und eingeübten Aufgaben kommt es zu einer Steigerung der Impulsivität und zu einer Häufung von Flüchtigkeitsfehlern, wodurch ein längerfristiges Lernen eher gestört wird. Auch Modafinil erzielt eine kurzfristige Steigerung der Konzentration und hält Gesunde dauerhaft wach (Gründer u. Bartsch 2014). Modafinil führt zur Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit und zu einer subjektiven kognitiven Leistungsverbesserung. Es besteht eine Diskrepanz zwischen gefühlter Wirkung und effektivem, objektivierbarem Erfolg.

    Die Nebenwirkungen der bislang eingesetzten PN sind mannigfaltig und reichen über Kopfschmerzen, Nervosität, Schlaflosigkeit, Stimmungsschwankungen, Verdauungsstörungen bis hin zu psychotischen Zuständen, epileptischen Anfällen, Angstzuständen, Herzrhythmusstörungen und Persönlichkeitsveränderungen sowie psychischer Abhängigkeit (Weiergräber u. Broich 2019). Insbesondere die stimulierenden Wirkstoffe Methylphenidat und Modafinil haben ein psychisches Abhängigkeitspotenzial (Suchtrisiko) (Glaeske et al. 2013).

    Berufsgruppen

    Bereits im DAK-Gesundheitsreport von 2009 wurden Berufsgruppen aus dem Management, der Finanzbranche, dem Journalismus, der Medizin und der Politik als Risikogruppe hervorgehoben, da sie nach Expertenmeinung zu den „kognitiv stark beanspruchten, leitungsbereiten Berufsgruppen“ gehören (Krämer u. Nolting 2009). Expertinnen und Experten in der Schweiz zählen noch Tätigkeiten im Nachtleben, Berufe mit häufigem Kundenkontakt, physisch belastende Tätigkeiten, Lehr- und Erziehungsberufe und das Transportwesen hinzu (Berlowitz 2012). Es hat sich aber im Verlauf im DAK-Gesundheitsreport von 2015 gezeigt, dass Beschäftigtengruppen, denen man eine hohe Leistungsorientierung unterstellen würde, wie Akademiker oder Führungskräfte, tendenziell eher weniger zum PN neigen (Kordt 2015).

    In einer Online-Befragung des Handelsblatts unter 954 Managern (82,7 % männlich, 17,3 % weiblich) mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche betrug die Lebenszeitprävalenz der Einnahme von Ritalin 5,1 %, Adderall 3,3 %, Modafinil 2,3 %, Ecstasy 4,4 %, Ephedrin 5,3 %, Kokain 6,5 % und Crystal Meth 1,8 % (Dietz et al. 2016).

    In einer anonymen Befragung von 1145 Chirurginnen und Chirurgen zum Gebrauch von verschreibungspflichtigen oder illegalen Substanzen zum PN gaben 8,9 % der Befragten einen Gebrauch mindestens einmal während der Lebensdauer an. Dabei waren Leistungsdruck bei der Arbeit und im Privatleben sowie das Bruttoeinkommen positiv mit der Verwendung von Arzneimitteln assoziiert (Franke et al. 2013).

    Im Vergleich zu Stichproben in der Erwerbsbevölkerung fanden Müller et al. (2019) in den Berufsgruppen der Werbung
    und Softwareentwicklung eine leicht erhöhte Lebenszeitprävalenz von 8,4 % und eine 12-Monatsprävalenz von 2,9 %. Um den Einfluss psychischer Belastungen von Erwerbstätigen am Arbeitsplatz auf das PN zu überprüfen, untersuchten Schröder et al. (2015) 4166 Beschäftigte (Ärztinnen/Ärzte, Programmiererinnen/Programmierer, Werbefachleute und publizistisch Tätige) mit hohen psychischen Arbeitsanforderungen. Sie fanden einen (statistisch nicht signifikanten) Zusammenhang zwischen Arbeitsbelastung und mentaler Gesundheit. Die Belastung führte allerdings nicht zwangsläufig zu einem PN. Die Vierwochenprävalenz lag bei 1,25 %, die Jahresprävalenz bei 2,8 % und die Lebenszeitprävalenz bei 8,3 %. Die zusätzlich durchgeführten Tiefeninterviews ergaben, dass ein PN durch das Zusammenspiel von hohen Arbeitsbelastungen und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen begünstig wird (Schröder 2015).

    Lehrpersonal in Deutschland kennt häufig PN, lehnt es jedoch meistens aufgrund des Suchtrisikos ab. Die eigene Konsumprävalenz ist hier eher niedrig; die Prävalenz unter der Schülerschaft wird dabei oft unterschätzt und das Thema selten angesprochen (Wiegel et al. 2016; Franke et al. 2016).

    Screening auf NE

    Die Neuroenhancement Attitude Scale (NEAS) und die Cognitive Enhancement Attitude Scale (CEAS) mit Fragen zur Einstellung zu „Hirndoping“ sind adaptierte Fassungen der Performance Enhancement Attitude Scale zu Doping im Sport (Wolff u. Brand 2013; Stoeber u. Hotham 2016). Sie bieten Hilfestellung, um die Varianz von PN frühzeitig zu erfassen und gezielte Präventionsmaßnahmen abzuleiten.

    Rolle von Ärztinnen und Ärzten

    In einer Befragung von niedergelassenen praktisch tätigen Ärztinnen und Ärzten sowie Psychiaterinnen und Psychiatern mit einem Rücklauf von 393 Fragebögen (1600 Fragebögen, Rücklaufquote 24,7 %), gaben 80,2 % der Befragten an, ein- bis zweimal im Jahr Anfragen zu PN in ihrer Sprechstunde zu erhalten (Ott et al. 2012). Die Medikamente zum PN sind so weit verbreitet, dass heute alle Ärztinnen und Ärzte Grundkenntnisse über diese Subtanzen und deren Indikationen beziehungsweise deren Missbrauchspotenzial haben sollten (Gründer u. Bartsch 2014). Das Thema ist bereits Teil der medizinischen Ausbildung (Mäulen 2013). Im Falle von chronischem Missbrauch und Abhängigkeit greifen therapeutische Ansätze (Moesgen u. Klein 2018) und die Frage nach möglicherweise bestehenden psychischen und psychiatrischen Komorbiditäten ist Teil der ärztlichen Beratung.

    Prävention

    Ein pharmakologisches Neuroenhancement befördert pathologische Arbeitsanforderungen und steigert den Medikamentenmissbrauch im betrieblichen Setting. Potenziell negative Folgen sind eine erhöhte Selbst- oder Fremdgefährdung. Maßnahmen zur Prävention am Arbeitsplatz und die Alternativen zum PN ergeben sich aus den bekannten Ansätzen der menschengerechten Arbeitsgestaltung, des Gesundheitsmanagements, der betrieblichen Verkehrs- und Arbeitssicherheit und der Suchtarbeit (Verhaltens- und Verhältnisprävention) unter Einbezug der Pflichtleistungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung der Krankenkassen (§ 20a
    SGB V) und der Selbsthilfe (Hermet-Schleicher u. Cosmar 2014). Diese Ansätze fußen auf einer integrierten und kombinierten Gefährdungsbeurteilung und bedarfsorien­tierter Analyse psychischer Belastungen.
    Ein „Dopingverbot“ bei betrieblichen Prüfungsleistungen ist in aller Regel kaum durchsetzbar. Drogen- oder Dopingtests am Arbeitsplatz sind nur bei akuter Beeinträchtigung erlaubt. Die „Spielregeln“ sollten am besten in Konzepten und Programmen der betrieblichen Gesundheitsförderung und unter Abschluss einer Betriebsvereinbarung festgelegt werden (DGUV 2019). Zielgruppen können hier beispielsweise Berufseinsteiger mit Überlastungsreaktionen und Berufserfahrene in Belastungssituationen sein.

    Diskussion

    Die kognitive Leistungsfähigkeit steht heute mehr denn je im Fokus der Arbeitswelt. Pharmakologisches Neuroenhancement kann Störungen normalisieren oder unerwünschte Eigenschaften unterdrücken, aber auch normale Funktionen stören. Es gibt bis heute kein effektives PN, bei dem ein nachhaltiger und nutzbarer Effekt auf die kognitiven Leistungen gesunder Personen nachgewiesen werden konnte. Erfolgreiche Lernprozesse sind komplexer, und ein PN macht weder intelligenter noch garantiert es ein erfolgreiches Abschneiden bei Prüfungen oder Arbeitsleistungen. Es schafft allenfalls die Voraussetzung, um
    kognitive Aufgaben erfolgreich bewältigen zu können, indem das Schlafbedürfnis reduziert und die Aufmerksamkeit länger aufrechterhalten wird. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei ein spezifisches Verständnis des menschlichen Körpers als System diskreter, austauschbarer Teile, der den jeweiligen Anforderungen am Arbeitsplatz angepasst werden kann, ein zweckbestimmtes Handeln mit der Idee der Selbstoptimierung, um einer nahezu imperativen dynamischen und komplexen Steigerungslogik zu begegnen. Pharmakologisches Neuroenhancement ist somit eine Facette der interessierten Selbstgefährdung.

    Demgegenüber wird das Missbrauchs­potenzial hirnleistungssteigernder Substanzen bisher deutlich unterschätzt und Kon­trollen gibt es fast keine.

    In Deutschland wird PN vor allem im Zusammenhang mit gesellschaftlichen, rechtsphilosophischen und politischen Fragestellungen diskutiert, und auch die ethische Debatte innerhalb der Arbeitswissenschaft und der Arbeitsmedizin über das Für und Wider eines PN ist noch nicht abgeschlossen (Baumgarten et al. 2015). Es besteht eine deutliche Dissoziation zwischen Anwendung und Forschung zu diesem Thema und von Seiten der Bundesregierung sind derzeit keine wesentlichen Bestrebungen in Hinblick auf Forschung und Prävention zum Thema PN erkennbar (Deutscher Bundestag 2011, 2018).

    Verlässliche Aussagen zur Verbreitung eines pharmakologischen Neuroenhancements in Deutschland sind schwierig, da sich Definitionen, Stichproben, Befragungsmethoden und die Auswahl an verschreibungspflichtigen oder legalen beziehungsweise illegalen Substanzen unterscheiden (Schäfer 2020). Das Suchtrisiko und die Frage nach PN als „Einstiegsdroge“ (gilt insbesondere für die Stimulanzien) wird kontrovers diskutiert. Auffallend hohe Komorbiditäten von Abhängigkeitserkrankungen und der ADHS-Diagnose sind bekannt, was auf ein erhöhtes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial auch bei Gesunden schließen lässt (Franke u. Lieb 2010).

    Wenn auch augenscheinlich die Verbreitung des PN in der Gesamtheit der Beschäftigten in Deutschland vergleichsweise gering ist, so sind Abhängigkeit und Missbrauch von verschreibungspflichtigen Medikamenten prävalente Störungen, die durch das bestehende (Sucht-)Hilfesystem kaum erreicht werden. Verfahren zur frühen Erkennung von Betroffenen in medizinischen und beruflichen Settings könnten zu einer Verbesserung der Versorgung beitragen, wobei entsprechende Screening-Verfahren unzureichend validiert sind (Bischof et al. 2020). Die Individualisierung systemischer Risiken und die „Medikalisierung“ sozialer Probleme sind allenfalls Scheinlösungen.

    Eine prinzipielle Verurteilung oder ein „Dopingverbot“ von PN im Arbeitskontext analog zum Sportdoping ist aufgrund fehlender „Spielregeln“ und etablierter Nachweismethoden derzeit nicht durchsetzbar. PN nimmt global zu und ist im angloamerikanischen Raum stärker verbreitet. In Deutschland sind die Zahlen noch niedrig, aber ebenfalls steigend (Weiergräber u. Broich 2019).

    Noch fehlt eine einheitliche Definition, Typisierung und Kategorisierung des PN in Bezug auf die Arbeitsmedizin und -wissenschaft. Zu Begriffsverständnis, Erfahrung, Chancen, Erwartungen, Nutzen, Einflussfaktoren und Probleme zum Thema PN aus Sicht deutscher Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner ist bisher wenig bekannt. Auch fehlen bis heute eingehende Handlungsrichtlinien (Metzinger 2012; Larriviere et al. 2009). Analogien ergeben sich aus den Stellungnahmen der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2012, 2009) zur „Ärztlichen Behandlungen ohne Krankheitsbezug“ und „Doping und ärztliche Ethik“.

    Das Thema Neuroenhancement bleibt aufgrund des Einsatzes von neueren Techniken wie beispielsweise der transkraniellen Gleichstromstimulation (tDCS) zur Verbesserung der chirurgisch technischen Leistung aktuell (Patel et al. 2020). Neurotechnologien für die kognitive Augmentation und ein Monitoring des Menschen werden schon in naher Zukunft zum Routineeinsatz kommen (Cinel et al. 2019).

    Ob die Automatisierung und Digitalisierung des tertiären und quartären Sektors letztendlich die versprochene Erleichterung in Hinblick auf die kognitiven Anforderungen an die Beschäftigten bringt oder ob deren Dynamik und Komplexität manche Beschäftigte ins PN zwingt, bleibt abzuwarten.

    Fazit

    Eine dauerhafte und gesundheitsverträgliche Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit gesunder Personen ist mit den derzeit verfügbaren Substanzen nicht realisierbar. Das öffentliche Interesse an Neuroenhancement steht in Gegensatz zur geringen Studienlage und den Bestrebungen der Bundesregierung. Die Abgrenzung von kurativen, therapeutischen und optimierenden Maßnahmen ist zentraler Bestandteil der medizinethischen Debatte und bis heute noch nicht befriedigend abgeschlossen. Zur Klärung der Perspektive des pharmakologischen Neuroenhancements im Arbeitskontext sind weitere Forschungsansätze vonnöten.

    Das Thema sollte selbstverständlich in das Handlungsfeld der betrieblichen Arbeitsorganisation und -sicherheit, der Gesundheitsförderung und Suchtprävention einbezogen werden (Henkel 2013).

    Interessenskonflikt: Der Autor erklärt, dass kein Interessenskonflikt besteht.

    Literatur

    Badura B, Ducki A, Schröder H, Klose J, Meyer M (Hrsg.): Fehlzeiten Report 2013. Verdammt zum Erfolg – die süchtige Arbeitsgesellschaft? Berlin: Springer, 2013.

    Bagusat C, Kunzler A, Schlecht J, Franke AG, Chmitorz A, Lieb K: Pharmacological neuroenhancement and the ability to recover from stress - a representative cross-sectional survey among the German population. Substance Abuse Treatment, Prevention, and Policy 2018; 13: 37.

    Franke AG, Lieb K: Pharmakologisches Neuroenhancement und „Hirndoping“: Chancen und Risiken. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 2010; 53: 853–859.

    Henkel D: Pharmakologisches Neuro-Enhancement in der Arbeitswelt: Verbreitung und Prävention. In: Gaßmann R, Merchlewicz M, Koeppe A (Hrsg.): Hirndoping – Der große Schwindel. Weinheim: Beltz Juventa, 2013, S. 63–75.

    Kordt M: DAK-Gesundheitsreport 2015. Hamburg: Deutsche Angestelltenkrankenkasse, 2015.

    Losch D: Neuroenhancement am Arbeitsplatz. Zbl Arbeitsmed 2015; 65: 229–232.

    Moesgen D, Klein M: Neuroenhancement am Arbeitsplatz. PiD – Psychotherapie im Dialog 2018; 19: 65–69.

    Pabst A, Piontek D, Kraus L, Müller S: Substanzkonsum und substanzbezogene Störungen. Sucht 2010; 56: 327–336.

    Weiergräber M, Broich K: Neuroenhancement – Hirndoping. Psychopharmakotherapie 2019; 26: 117–127.

    Weitere Infos

    DGUV: DGUV Information 206-009 „Suchtprävention in der Arbeitswelt“. Deutsche Gesetz­liche Unfallversicherung, 2019
    https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/1268

    Glaeske G, Merchlewicz M, Schepker R et al.: Hirndoping – Die Position der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS)
    https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/news/2011-06-20_Positionsp…

    Schröder H et al. (Hrsg.): Einfluss psychischer Belastungen am Arbeitsplatz auf das Neuroenhancement – empirische Untersuchungen an Erwerbstätigen. Forschung Projekt F 2283. Dortmund, Berlin, Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2015.
    https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/F2283.pdf?__blob…

    Definition

    Pharmakologisches Neuroenhancement (PN) ist eine Maßnahme zur gezielten Verbesserung geistiger Fähigkeiten oder psychischer Befindlichkeiten bei Gesunden und der Versuch, die Leistungsfähigkeit des Gehirns durch die Einnahme von Medikamenten zu verbessern (Losch 2015). Dabei ist die Einnahme nicht medizinisch indiziert, die Substanzen werden nicht zu diesem Grund ärztlich verordnet und der Konsum erfolgt nicht aus Genussgründen, das heißt, der Konsum findet fehl- beziehungsweise missbräuchlich oder „off label“ statt.

    Info

    Präventionsmaßnahmen, um der Verwendung von pharmakologischen Neuroenhancement ­entgegenzuwirken (Henkel 2013; Badura et al. 2013):

  • die arbeitsmedizinische Vorsorge bei Risikotätigkeiten,
  • Fortbildungen zu Selbst-, Zeit-, Stress-Resilienz, Schlaf- und Konfliktmanagement,
  • zielgruppenorientiertes und integriertes betriebliches Gesundheitsmanagement mit gesunder Führung und Themen wie Entspannungstechniken, Sport- und Bewegungsausgleich, gesunde Ernährung und Pausen- beziehungsweise Sozialmanagement,
  • Information und Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen sowie Alternativen zum pharmakologischen Neuroenhancement.
  • Kontakt

    Dr. med. Bernhard Engel, M.Sc.
    Facharzt für Innere und Arbeitsmedizin48149 Münster

    bernhardengel@gmx.de

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen