Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Messinstrument für Folgen psychosozialer Belastungen

Der Allostatic Load Index

Einleitung

Eine gesunde Belegschaft stellt eine wichtige Ressource für Unternehmen dar und wird auch in den nächsten Jahren ein zentrales personalpolitisches Thema sein. Besonders vor dem Hintergrund einer sich verändernden Arbeitswelt (z. B. durch Globalisierung, Komplexität, Arbeitsverdichtung, ständige Erreichbarkeit) und den Folgen des demografischen Wandels (z.B. ältere Belegschaften, Fachkräftemangel) gewinnt diese Ressource immer mehr an Bedeutung. Arbeitsbedingter Stress ist ein Thema, das auf der einen Seite zunimmt, auf der anderen Seite zu gravierenden gesundheitlichen Beschwerden führen kann. Die europäische ESENER-Umfrage hat festgestellt, dass arbeitsbedingter Stress zukünftig eine der wichtigsten Herausforderungen für Unternehmen darstellen wird (s. „Weitere Infos“).

Die physischen und psychischen Auswirkungen von psychosozialem Stress können abhängig von individueller Resilienz und Ressourcen teilweise sehr unterschiedlich ausfallen. Um diese unterschiedliche Vulnerabilität bei Beschäftigten frühzeitig messen zu können, werden praxisrelevante Instrumente benötigt. Der Allostatic Load Index, ein Summenindex kumulativer physischer Folgen von chronischem Stress, stellt hierfür eine gute Möglichkeit dar.

Das Allostatic-Load-Konzept

McEwen und Stellar haben 1993 das Konzept der Allostase entwickelt. Hierbei sollen sich Körperfunktionen an chronische Belastungen anpassen, um das körperliche Gleichgewicht (Homöostase) aufrecht zu erhalten. Die Folge dieser allostatischen Anpassung ist physischer und psychischer Verschleiß sowie vorzeitiges Altern, was als „allostatic load“ bezeichnet wird.

Es wird dabei zwischen Primärmediatoren, Sekundär- und Tertiärfolgen unterschieden. Primärmediatoren wie zum Beispiel Stresshormone können dem Körper in akuten Belastungssituationen helfen, die Homöostase aufrecht zu erhalten. Die vermehrte Ausschüttung von Primärmediatoren begünstigt einen „allostatic overload“ und „Sekundärfolgen“ wie beispielsweise subklinische Störungen von kardiovaskulären, metabolischen und entzündlichen Biomarkern. Durch eine chronische, stressbedingte Fehlregulation entstehen letztendlich manifeste klinische Störungen – die Tertiärfolgen. Diese Tertiärfolgen können durch Extremwerte der Sekundärfolgen und Primärmediatoren vorhergesagt werden (➥ Abb. 1).

Der Allostatic Load Index

Vereinfacht gesagt beschreibt der „allostatic load“ die durch psychosoziale Belastungen verursachten Abnutzungserscheinungen verschiedener Organsysteme und trifft damit eine Aussage über mangelnde Resilienz und erhöhte Anfälligkeit für stressbedingte Erkrankungen. Durch den Allostatic Load Index (ALI) wurde die Idee operationalisiert, physische Auswirkungen von psychischen Belastungen in einem Summenscore abzubilden. Seeman und Kollegen haben 1997 den Allostatic Load Index entwickelt. Der Originalindex basiert auf zehn Variablen, bestehend aus sechs Sekundärfolgen (systolischer und diastolischer Blutdruck, Gesamtcholesterin, HDL [High-Density Lipoprotein], HbA1c [Glykohämoglobin], Bauch-Hüft-Verhältnis) sowie vier Primärmediatoren (DHEA-S [Dehydroeoiandrosteronsulfat] im Blut sowie Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol im Urin). Aus diesen Variablen wird ein Summenscore gebildet, der jeweils auf der statistischen Verteilung in der untersuchten Gruppe beruht. Die teilnehmenden Personen im jeweils höchsten Risikoquartil erhalten dabei einen Indexpunkt (niedrigstes Quartil bei DHEA-S und HDL, höchstes Quartil bei allen anderen Parametern), alle anderen erhalten keinen Punkt. Der Allostatic Load Index kann somit Werte zwischen 0 und 10 annehmen.

Entwicklung des kurzen ALI

Leider ist dieser Originalindex nicht sehr praktikabel, hat aber auch nie den Anspruch auf einen Goldstandard erhoben. Die meisten Variablen sind zum einen aufwändig und teuer zu messen, zum anderen beruhen sie auf der statistischen Verteilung in der Untersuchungsgruppe. Ziel war es deshalb, einen einfachen und kurzen Index zu entwickeln, der sich an vordefinierten subklinischen Grenzwerten orientiert. Beschäftigte, die aufgrund ihrer individuellen Situation ein höheres Risiko für die Entwicklung von stressbedingten Folgeerkrankungen haben, sollten somit einfach und kostenbewusst erkannt werden, um sie passenden Präventivmaßnahmen zuzuführen (Mauss et al. 2016).

Die praktische betriebsärztliche An­wendung sollte gewährleistet werden, indem für jeden einzelnen Parameter subklinische Grenzwerte vordefiniert wurden (➥ Tabelle 1). Überschreitet eine Testperson diesen Wert (oder unterschreitet ihn im Fall der Herzfrequenzvariabilität [HRV]), erhält sie einen ALI-Indexpunkt. Es sind bis zu fünf Indexpunkte erreichbar. Je höher der Summenwert, desto größer ist die körperliche Abnutzung.

Tabelle 1:  Vordefinierte subklinische Grenzwerte zur Berechnung des Allostatic Load Index

Tabelle 1: Vordefinierte subklinische Grenzwerte zur Berechnung des Allostatic Load Index

Praktische Anwendung

Aus den Ergebnissen lassen sich Konsequenzen für das betriebliche Gesundheitsmanagement ableiten. Äußere Einflüsse scheinen sich im Arbeitsalter stärker auf die Gesundheit auszuwirken als im Rentenalter. Im Zeitraum des Arbeitslebens werden also die Weichen für vorzeitiges Altern gestellt. Es zeigt sich ein Handlungsfenster zwischen dem 20. und 60. Lebensjahr, um Gesundheit positiv zu beeinflussen (Crimmins et al. 2003). Ein regelmäßiges Screening von vermeintlich gesunden jüngeren Erwachsenen erscheint demnach wichtig, um körperliche Folgen psychosozialer Belastungen zu erkennen, vorzeitiges Altern zu vermeiden und gezielte Maßnahmen zur individuellen Gesundheitsförderung einzuleiten. Handlungsbedarf besteht mindestens bei Personen mit einem Indexwert von 4 oder 5. Der Allostatic Load Index liefert somit einen wichtigen und innovativen Beitrag zur Versorgungsforschung und Präventivmedizin.

Ausblick

Selbstverständlich existieren aus praktischer Sicht verschiedene Möglichkeiten, um das Instrument zu verbessern. Beim Messen der fünf Variablen stellt bisher die Bestimmung der HRV die größte Herausforderung dar. Obwohl das Ziel der HRV-Messung die Bestimmung der Vagusaktivität als so genannte „Stressbremse“ ist und dies üblicherweise eine Langzeitmessung unter Einschluss der Nacht bedarf, lässt eine Ultrakurzmessung der HRV über 60 Sekunden wohl dennoch eine zuverlässige Bestimmung der RMSSD (Root Mean Square of Successive Differences = HRV-Wert der Erholungsfähigkeit) zu (Shaffer u. Ginsberg 2017). Bei der subklinischen Grenzwertdefinition der RMSSD (derzeit 30 ms) wären zudem altersbezogene Werte sinnvoll, da die HRV mit zunehmenden Alter abnimmt.

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Crimmins EM, Johnston M, Hayward M, Seeman T: Age differences in allostatic load: an index of physiological dysregulation. Exp Gerontol 2003; 38: 731–734.

Mauss D, Jarczok MN, Fischer JE: The streamlined Allostatic Load Index: a replication of study results. Stress 2016; 19: 553–558.

McEwen BS, Stellar E: Stress and the individual. Mechanisms leading to disease. Arch Intern Med 1993; 153: 2093–2101.

Seeman TE, Singer BH, Rowe JW, Horwitz RI, McEwen BS: Price of adaptation – allostatic load and its health consequences. MacArthur studies of successful aging. Arch Intern Med 1997; 157: 2259–2268.

Shaffer F, Ginsberg JP: An overview of heart rate variability metrics and norms. Front Public Health 2017; 5: 258,­

Weitere Infos

González ER: ESENER – Euro­pean Survey of Enterprises on New and Emerging Risks: ­Managing safety and health at work. 2010
https://osha.europa.eu/en/publications/european-survey-enterprises-new-…

Autor

Priv.-Doz. Dr. med. Daniel Mauss
Mannheimer Institut für Public Health, Sozial- und Präventivmedizin
Leiter Gesundheitsmanagement, Porsche AG

Foto: privat

Jetzt weiterlesen und profitieren.

+ ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
+ Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
+ Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

Premium Mitgliedschaft

2 Monate kostenlos testen