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Travel medicine and vaccination prevention – new tasks for occupational medicine
Global business travel, international projects, and climate change require proactive health protection for employees. Travel medical advice and vaccination prevention are now central tasks of occupational medicine. In a conversation with Dr. Martin K. Riedel, Head of Health Management at Mercedes-Benz AG for the Stuttgart/Berlin/Hamburg locations and Medical Coordinator for Travel Medicine/Medical Crisis Management, we discuss current developments in travel risk management, company vaccination strategies, and the role of occupational medicine in this regard, both now and in the future.
Reisemedizin und Impfprävention – Neue Aufgaben für die Arbeitsmedizin
Globale Geschäftsreisen, internationale Projekte und klimatische Veränderungen verlangen einen vorausschauenden Gesundheitsschutz für Beschäftigte. Reisemedizinische Beratung und Impfprävention sind heute zentrale Aufgaben der Arbeitsmedizin. Im Gespräch mit Dr. Martin K. Riedel, Leiter Gesundheitsmanagement der Mercedes-Benz AG an den Standorten Stuttgart/Berlin/Hamburg und Ärztlicher Koordinator Reisemedizin/medizinisches Krisenmanagement, geht es um aktuelle Entwicklungen im Reiserisikomanagement, betriebliche Impfstrategien und die Rolle der Arbeitsmedizin hierbei heute und in Zukunft.
Herr Dr. Riedel, Reisemedizin wird oft mit Urlaubsberatung assoziiert. Welche Bedeutung messen Sie der arbeitsbezogenen Reisemedizin bei, insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender Auslandseinsätze, globaler Lieferketten und mobiler Projektarbeit?
M. Riedel: Bei Mercedes-Benz ist arbeitsbezogene Reisemedizin heute Teil der Personal- und Einsatzplanung. Die Gleichsetzung von Reisemedizin mit Urlaubstipps wird der strategischen Bedeutung im Unternehmenskontext nicht gerecht. Berufliche Auslandsaufenthalte sind keine Erholungsreisen, sondern oft körperlich und psychisch fordernde Einsätze unter Bedingungen, die mit hiesigen Standards kaum vergleichbar sind. Arbeitgeber tragen eine besondere Verantwortung für Gesundheit und Rückkehrfähigkeit, sei es auf Baustellen in fremden Ländern, in internationalen Projekten oder der Inbetriebnahme neuer Produktionsstandorte. Eine arbeitsmedizinisch fundierte Reisemedizin, die Risiken und Belastungsgrenzen systematisch bewertet und präventiv handelt, ist heute unverzichtbar.
Wie hat sich die Risikobewertung beruflich bedingter Auslandsreisen in den letzten Jahren verändert – etwa durch Pandemien, Klimawandel oder neue geopolitische Spannungen?
M. Riedel: Die Risikobewertung hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Neben medizinischen Faktoren sind geopolitische Entwicklungen, klimatische Extrembedingungen und psychische Belastungen zu berücksichtigen. Die COVID-19-Pandemie hat das Bewusstsein für infektiologische Risiken geschärft. Impfakzeptanz, Quarantänepflichten und Versorgungslücken im Krisenfall sind heute zentrale Aspekte der Reisevorbereitung. Luftverschmutzung und Wetterextreme erschweren Einsätze zusätzlich, während politische Krisen und Konflikte dynamische Restrisiken schaffen und eine laufende Neubewertung der Lage erfordern. Mentale Belastungen durch Isolation und Unsicherheit am Einsatzort sind ernst zu nehmen. Unsere Gefährdungsbeurteilungen berücksichtigen all dies im Zusammenspiel von Arbeitsmedizin, Sicherheitsmanagement und Personalmanagement. Präventive Beratungen, individuelle Risikoanalysen und adaptive Notfallstrategien gewährleisten gemäß § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) sichere und gesunde Dienstreisen.
Inwiefern sollte Reisemedizin fester Bestandteil arbeitsmedizinischer Vorsorgeprogramme sein – etwa bei Aufenthalten in Tropengebieten, regelmäßigem Kontakt mit potenziell infektiösen Arbeitsstoffen oder humanitären Einsätzen?
M. Riedel: Reisemedizin ist bei uns kein Add-on, sondern strategisch integrierter Teil der modernen arbeitsmedizinischen Vorsorge, besonders bei Geschäftsreisen in Risikogebiete mit erhöhten Gesundheitsrisiken, in Tropen und Subtropen. Für unsere Betriebsärztinnen und -ärzte bedeutet Vorsorge mehr als Impfungen und eine Reiseapotheke. Eine differenzierte Beratung unter Berücksichtigung von Reiseziel, Dauer, Tätigkeit und Gesundheitsstatus ist essenziell. Wir adressieren systematisch die „Big Five“ der Reisemedizin: vektorübertragene Erkrankungen, enterale Infektionen, kardiovaskuläre Belastungen, sicherheits- und verkehrsbezogene Gefahren sowie psychosoziale Herausforderungen. Eine fundierte Vorbereitung stärkt Sicherheit und Vertrauen unserer Beschäftigten und ist Zeichen verantwortungsvoller Unternehmenspraxis.
Welche rechtlichen und normativen Rahmenbedingungen sollten Betriebsärztinnen und -ärzte bei der reisemedizinischen Beratung von Mitarbeitenden kennen und beachten?
M. Riedel: Unsere Betriebsärztinnen und -ärzte beraten im Rahmen eines komplexen rechtlichen Geflechts: Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV), Biostoffverordnung, Infektionsschutzgesetz, relevante Arbeitsmedizinische Regeln (AMR; z. B. 6.5 und 6.6), Empfehlungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) sowie internationale Normen. Entscheidend ist nicht nur die Kenntnis, sondern die systematische, risikobasierte Anwendung dieser Vorgaben, bereits bei der Entsendeplanung. Reisemedizin ist für uns eine Compliance-relevante Disziplin und ihre Qualität hat unmittelbaren Einfluss auf individuellen Gesundheitsschutz, Einsatzfähigkeit und letztlich auf den organisationsbezogenen Schutz des Unternehmens.
Die COVID-19-Pandemie hat die Impfbereitschaft teilweise gestärkt, teils aber auch geschwächt. Welche Trends beobachten Sie aktuell hinsichtlich der Impfakzeptanz im beruflichen Kontext?
M. Riedel: Wir beobachten ein gemischtes Bild. Einerseits erleben wir eine gestiegene Impfbereitschaft in verantwortungsvollen Arbeitskontexten, andererseits besteht Skepsis bei einigen Mitarbeitenden, ausgelöst durch Unsicherheit, Informationsflut und politische Polarisierung. Überzeugung braucht evidenzbasierte Kommunikation: Transparente Darstellungen von absoluten Risiken, Expositionswahrscheinlichkeiten und Schutzwirkungen schaffen Vertrauen. Druck und Moralisierung wirken kontraproduktiv. Im beruflichen Umfeld gilt für uns: Eigenverantwortung und Schutz sind keine Gegensätze. Wir respektieren die souveräne Entscheidung jeder einzelnen Person, fördern jedoch informierte Entscheidungen und stärken so die professionelle Gesundheitskompetenz.
Welche Impfungen halten Sie – über die Standardvorgaben hinaus – im Rahmen betrieblicher Gesundheitsfürsorge für besonders relevant, etwa bei internationalen Dienstreisen, aber auch bei Migration von Mitarbeitenden?
M. Riedel: Als verantwortungsbewusster Arbeitgeber legt Mercedes-Benz großen Wert auf gezielte Schutzmaßnahmen über die Standardimpfungen hinaus. Dazu gehören beispielsweise Hepatitis A/B, Typhus, Tollwut oder Gelbfieber, deren Notwendigkeit individuell von Reiseziel, Exposition und Einsatzdauer abhängt. Auch „vergessene Impfungen“ wie Influenza und Masern rücken wieder in den Fokus, zum Beispiel bei häufigem Kundenkontakt. Wir entwickeln sensible Impfstrategien, regelkonform und individuell abgestimmt. Unser Grundsatz: Keine Impfung ohne Kontext, Notwendigkeit und transparente Kommunikation. So schaffen wir Vertrauen und fördern Akzeptanz.
Welche neueren Impfantigene oder Entwicklungen sehen Sie aktuell als zukunftsweisend?
M. Riedel: Wir beobachten neue Impfstoffe mit hoher Aufmerksamkeit – insbesondere dort, wo globale Mobilität und Umweltveränderungen neue Risiken schaffen. Für Dengue und Chikungunya stehen inzwischen zugelassene Impfstoffe zur Verfügung, die auf zunehmende Fallzahlen und wiederholte Ausbrüche in den letzten Jahren reagieren. Beide Erkrankungen betreffen längst nicht mehr nur tropische Regionen, sondern gewinnen auch in Europa an Bedeutung. Zoster rückt durch die alternde Belegschaft und hohe Belastung einzelner Berufsgruppen verstärkt in den Fokus. Besonders zukunftsweisend ist die mRNA-Technologie: Als flexible Plattform ermöglicht sie die Entwicklung wirksamer Impfstoffe gegen neuartige oder rasch mutierende Erreger und eröffnet neue Perspektiven für individualisierte Prävention.
Impfentscheidungen sind oft emotional getrieben. Wie können Betriebsmedizinerinnen und -mediziner sowie Verantwortliche für das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) faktenbasiert, aber empathisch kommunizieren – besonders bei impfkritischen Beschäftigten?
M. Riedel: Die Impfberatung wird zunehmend dialogischer. Beschäftigte sind informierter, aber auch verunsicherter und Impfentscheidungen sind emotional geprägt. Die Herausforderung liegt darin, faktenbasierte Aufklärung mit individueller Ansprache zu verbinden. Betriebsärztinnen und -ärzte müssen nicht nur medizinisch fundiert beraten, sondern auch kommunikativ überzeugen. Das bedeutet: Zuhören, Ängste ernst nehmen und Mythen entkräften. Wir setzen auf transparente Kommunikation, die Risiken anhand realer Szenarien vermittelt, nicht über abstrakte Statistiken. Medienwirksame, aber seltene Ereignisse („Dread Risks“) ordnen wir rational ein. Dabei begegnen wir Impfkritik nicht mit Druck, sondern mit Respekt und Souveränität, denn oft ist sie Ausdruck von Unsicherheit, nicht Ablehnung von Wissenschaft.
Welche Rolle spielt das betriebliche Umfeld – etwa durch Führungskräfte, Gesundheitskampagnen oder niedrigschwellige Impfangebote – für eine höhere Impfquote?
M. Riedel: Eine prägende. Bei Mercedes-Benz verstehen wir Impfungen als Ausdruck gelebter Fürsorge und integrieren sie konsequent in unsere Gesundheitsstrategie. Das BGM agiert dabei als strategischer Impulsgeber. Führungskräfte, Betriebsräte und Kolleginnen/Kollegen wirken als glaubwürdige Multiplikatoren und stärken die Akzeptanz durch Vorbildfunktion und Dialogbereitschaft. Niedrigschwellige Angebote wie mobile Impfaktionen schaffen Verbindlichkeit ohne Zwang. Hierdurch fördern wir nicht nur die individuelle Prävention, sondern stärken Vertrauen und Unternehmensidentifikation.
Inwiefern sehen Sie Potenzial, digitale Tools – etwa Apps zur Reiseimpfberatung, Impfpassverwaltung oder interaktive Risiko-Checks – systematisch in den arbeitsmedizinischen Alltag zu integrieren?
M. Riedel: Digitale Tools sind ein zentraler Hebel für mehr Effizienz, Transparenz und Präzision in der arbeitsmedizinischen Prävention. Reiseimpf-Apps ermöglichen Empfehlungen, Terminplanung und Erinnerungsfunktionen, eingebettet in bestehende Prozesse, sofern Datenschutz und Qualitätssicherung gewährleistet sind. Sie ersetzen keine ärztliche Expertise, sondern schaffen Freiräume: Allgemeine Inhalte werden vorab geklärt, die persönliche Beratung fokussiert sich auf individuelle Risiken. So entsteht eine moderne, zugängliche Vorsorgestruktur, digital gestützt, ärztlich geführt.
Welche konkreten Anwendungen oder Plattformen halten Sie aktuell für wissenschaftlich belastbar und praktikabel in der Nutzung durch Betriebsärztinnen und Betriebsärzte?
M. Riedel: Bei Mercedes-Benz orientieren wir uns an den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission des Robert Koch-Instituts (STIKO) und der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin, ergänzt durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Centers for Disease Control and Prevention (CDC), das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) und dem ProMEDmail (Program for Monitoring Emerging Diseases) bei internationalen Einsätzen und für aktuelle Ausbruchslagen. Zudem ist ein Netzwerk mit anderen reisemedizinisch tätigen Ärztinnen und Ärzten sowie Firmen von unschätzbarem Wert. In der Praxis bewähren sich validierte Impfpass/Reisemedizin-Apps, auch von kommerziellen Anbietern, wenn sie wissenschaftliche Standards erfüllen. Für Reisende selbst bieten unter anderem Apps wie „Sicher Reisen“ und die Krisenvorsorgeliste ELEFAND des Auswärtigen Amtes praxisnahe Informationen und unterstützen die Krisenvorsorge. Digitale Tools strukturieren, ersetzen aber nicht die ärztliche Expertise. Entscheidend bleibt der kritische Blick auf Inhalte und deren Einordnung im individuellen Beratungskontext.
Wie kann eine effektive Zusammenarbeit zwischen Tropenmedizin, Arbeitsmedizin, BGM und Arbeitsschutz aussehen, um Risiken bei beruflichen Auslandsaufenthalten ganzheitlich zu managen?
M. Riedel: Wir setzen hier auf ein interdisziplinäres Risikomanagement ohne starre Zuständigkeitsgrenzen. Die Zusammenarbeit mit der Tropenmedizin bringt die inhaltliche Tiefe, die Arbeitsmedizin strukturiert die Abläufe und Beratung, das BGM übersetzt in kommunizierbare Maßnahmen und Arbeitsschutz sowie Human Resources (HR) sorgen für die verbindliche Umsetzung. Zentral ist die kontinuierliche Risikokommunikation, beginnend bei der Personalauswahl über Predeparture-Checks bis zur Rückkehruntersuchung. Dieses vernetzte Vorgehen ist bei uns institutionalisiert, als Teil einer präventiven Architektur moderner Unternehmensgesundheit.
Gibt es Beispiele für gelungene Präventionsprojekte oder Best Practices im betrieblichen Kontext, die Sie als wegweisend bezeichnen würden?
M. Riedel: Über die Jahre haben wir eine modulare Vorsorgestruktur etabliert, unter enger Verzahnung mit Krisenmanagement, HR, Arbeitsrecht und Kommunikation. Impfaktionen oder Erklärungen aktueller Ausbruchsgeschehen zum Beispiel werden standortübergreifend geplant und über das firmeneigene Intranet kommuniziert, ergänzt durch individuell angepasste Beratung. Besonders in Pandemie- und Krisenzeiten hat sich dieses System als flexibel, skalierbar und transparent bewährt. Wir können frühzeitig schnell reagieren, in Deutschland und an den internationalen Standorten. Prävention ist dann erfolgreich, wenn Risiken antizipiert und abgefangen werden, bevor sie spürbar werden. Genau dieser vorausschauende, integrierte Ansatz ist unser Anspruch und Erfolgsfaktor.
Welchen dringlichsten Handlungsbedarf sehen Sie im Bereich der Impfprävention und Reisemedizin für Unternehmen in Deutschland?
M. Riedel: Dringlich ist die strategische Verankerung der Reisemedizin im BGM. Impfprävention darf kein Add-on sein, sondern muss Teil des betrieblichen Selbstverständnisses werden. Noch immer reisen viele Beschäftigte, gerade in kleineren Unternehmen, ohne präventive Beratung. Hier besteht akuter Handlungsbedarf. Unternehmen benötigen digitale, standardisierte Dokumentation, vorausschauende Entsendeplanung und klare Risikokommunikation, auch als Führungsaufgabe. Interbetriebliche Netzwerke (unter Wahrung kartellrechtlicher Vorgaben) können helfen, Wissen zu bündeln und Ressourcen zu teilen. Deutschland braucht eine arbeitsmedizinische Antwort auf globale Mobilität: strukturierte, interdisziplinäre und international tragfähige Präventionskonzepte.
Welche Rolle könnten Fachzeitschriften wie die ASU spielen, um das Thema „berufsbedingte Mobilität und Infektionsschutz“ noch stärker im Fachkreis zu verankern?
M. Riedel: Fachzeitschriften wie die ASU sind nicht nur Informationsquelle, sondern Plattform für berufspolitische Relevanz. Indem sie reisemedizinische und arbeitsmedizinische Themen strategisch positionieren, erreichen sie Ärztinnen und Ärzte ebenso wie Entscheiderinnen und Entscheider in Unternehmen, Politik und Verwaltung. Gerade in einer Zeit, in der Arbeitsmedizin noch zu oft als Nische wahrgenommen wird, braucht es mediale Foren, die nicht nur informieren, sondern Impulse setzen. Fachmedien können den entscheidenden Unterschied machen, indem sie Arbeitsmedizin ins Zentrum der öffentlichen Debatte rücken und interdisziplinäre Vernetzung fördern.
Herr Dr. Riedel, vielen Dank für das Gespräch!
Kontakt
Dr. med. Martin K. Riedel
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