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Healthy Ageing: Systems leadership for Europe’s future
How can we make health systems fit for the future? What does systems leadership mean in the face of demographic change? And what role does the European health leaders network Sciana play in this context? In the following interview, Louise Baker-Schuster, Chief Strategy and Partnerships Officer for Sciana, and medical doctor and Sciana Fellow Prof. Dr. Marc Augustin explain why new collaborations, interdisciplinary approaches, and bold ideas are needed now more than ever.
Gesund altern: Führung für Europas Zukunft
Wie können wir Gesundheitssysteme zukunftsfähig gestalten? Was bedeutet systemische Führung angesichts des demografischen Wandels? Und welche Rolle spielt dabei das europäische Führungskräfte-Netzwerk Sciana? Im folgenden Interview zeigen Louise Baker-Schuster, Louise Baker-Schuster, Chief Strategy and Partnerships Officer bei Sciana, und der Mediziner und Sciana-Fellow Prof. Dr. Marc Augustin, warum gerade jetzt neue Allianzen, interdisziplinäre Perspektiven und mutige Impulse gebraucht werden.
Was ist Sciana – The Health Leaders Network und warum wurde es gegründet?
Louise Baker-Schuster: Sciana ist ein europäisches Netzwerk von Gesundheitsexpertinnen und -experten aus Deutschland, Großbritannien und der Schweiz. Oft schauen wir bei Innovationen in Richtung USA – dabei gibt es auch in Europa viele starke Ansätze. Sciana bringt diese zusammen, fördert den Austausch und zeigt, wie wir voneinander lernen können.
Im Zentrum steht ein systemischer Führungsansatz: Menschen, die über Strukturen hinausdenken und interdisziplinär arbeiten. Ziel ist, unsere Fellows zu befähigen, aktuelle und künftige Herausforderungen aktiv mitzugestalten. Ein wichtiger Teil des Programms ist deswegen die „Sciana Challenge“. Dieses Programmelement ist ein kollektives Projekt, das Fellows von der Idee bis zur Umsetzung gemeinsam gestalten und umsetzen. Gegründet wurde Sciana 2017 von der Robert Bosch Stiftung, der britischen Health Foundation und der schweizerischen Stiftung Careum. Seit 2022 wird Sciana auf deutscher Seite vom Bosch Health Campus gefördert, einer Tochtereinrichtung der Robert Bosch Stiftung.
Warum ist ein internationaler, systemischer Blick auf Gesundheit gerade jetzt wichtig?
Baker-Schuster: Gesundheit wird oft national gedacht. Doch die Pandemie hat deutlich gemacht: Ohne internationale Kooperation geht es nicht. Fachkräftemangel, Digitalisierung, Klimawandel – all das erfordert länderübergreifende, abgestimmte Lösungen. Diese Herausforderungen betreffen nicht nur die Sciana-Länder, sondern ganz Europa. Kein Land, keine Organisation schafft das allein. Es braucht unterschiedliche Perspektiven, politische Rückendeckung und einen systemischen Ansatz, um unsere Gesundheitssysteme resilient und inklusiv aufzustellen.
„Ageing in Good Health“ ist das Leitthema des kommenden Sciana-Jahrgangs. Was genau steht dahinter, und warum wurde dieser Schwerpunkt gewählt?
Baker-Schuster: Unsere Gesellschaft wird älter – das ist ein Erfolg: bessere Lebensbedingungen, medizinischer Fortschritt, mehr Gesundheitsbewusstsein. Aber: Länger leben heißt nicht automatisch länger gesund leben. Es braucht Strukturen und Maßnahmen, die ein aktives, selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter ermöglichen – und damit sollte nicht erst im Rentenalter begonnen werden, sondern bereits in jungen Jahren.
Die WHO Europa hat das Thema mit der Strategie „Ageing is Living“ auf die internationale politische Agenda gehoben. Im Fokus stehen Herausforderungen wie chronische Erkrankungen, Einsamkeit, Zugang zu Angeboten – besonders in benachteiligten Regionen – und wie diese unser Leben und Altern beeinflussen können. Genau daran arbeiten wir mit dem achten Jahrgang von Sciana.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung bei der Gestaltung gesunder Lebensphasen im Alter – auch im betrieblichen Kontext?
Baker-Schuster: Die Digitalisierung spielt eine zentrale Rolle bei der Gestaltung gesunder Lebensphasen im Alter – und das gilt zunehmend auch im betrieblichen Kontext. Besonders im höheren Erwerbsalter eröffnet sie neue Chancen, vor allem in den Bereichen Prävention, Teilhabe und Versorgung. So ermöglichen etwa Wearables und digitale Messmethoden eine frühzeitige Erkennung von Gesundheitsrisiken. Sie fördern zudem die Eigenverantwortung der Nutzerinnen und Nutzer und stärken deren Gesundheitskompetenz. Auch im Hinblick auf die berufliche Teilhabe bietet die Digitalisierung wichtige Impulse: Online-Lernangebote, Homeoffice-Möglichkeiten und flexible Arbeitsmodelle erleichtern es unter anderem älteren Beschäftigten, im Erwerbsleben zu bleiben. Auch Personen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind oder familiäre Pflegeverpflichtungen haben, profitieren davon. In der medizinischen Versorgung wiederum leisten digitale Lösungen wie Telemedizin, Gesundheits-Apps oder die elektronische Patientenakte einen Beitrag zur Selbstbestimmung und verbessern die Kontinuität in der Betreuung. Gleichzeitig können sie das Gesundheitssystem durch den Abbau von bürokratischen Hürden spürbar entlasten und eine sektorenübergreifende Versorgung ermöglichen.
Gleichwohl dürfen die damit verbundenen Herausforderungen nicht übersehen werden. Fehlende digitale Kompetenzen, ein eingeschränkter Zugang zu technischen Geräten oder offene Fragen beim Datenschutz stellen ernstzunehmende Hürden dar. Zudem sind viele digitale Angebote bislang wenig individuell und folgen einem „One size fits all“-Ansatz, der der Vielfalt älterer Menschen nicht gerecht wird. Um das volle Potenzial digitaler Lösungen auszuschöpfen, müssen sie daher inklusiv gestaltet sein – transparent, verantwortungsvoll und auf unterschiedliche Bedürfnisse zugeschnitten. Nur so kann die Digitalisierung tatsächlich dazu beitragen, gesunde und selbstbestimmte Lebensphasen im Alter zu ermöglichen.
Wie setzt sich das Netzwerk zusammen? Was zeichnet die Teilnehmenden aus – beruflich wie persönlich?
Baker-Schuster: Sciana bringt Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswesens zusammen: Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachkräfte, Forschende, Politikerinnen und Politiker, Patientinnen und Patienten, Gründerinnen und Gründer, Kassenvertreterinnen und -vertreter und viele mehr.
Alle bringen ihre eigene Erfahrung, ihr Wissen, ihre Perspektive ein. Der Austausch über Berufsgruppen, Systeme und Länder hinweg ist für viele eine neue und bereichernde Erfahrung. Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion sind dabei zentrale Werte. Genau das macht das Netzwerk so stark – und spiegelt die Komplexität realer Gesundheitssysteme wider.
Welche Impulse erwarten Sie aus dem Sciana-Netzwerk für die betriebsmedizinische Praxis?
Baker-Schuster: Den Ergebnissen des achten Jahrgangs möchte ich nicht vorgreifen. Aber ich rechne mit praxisnahen Ideen, die sich in den Gesundheitssystemen aller drei Länder umsetzen lassen – zum Beispiel zur Prävention oder Arbeitsgestaltung. Ein zentrales Thema bei Sciana über alle Jahrgänge hinweg ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Ich kann mir vorstellen, dass es auch in diesem Bereich Input für die betriebsmedizinische Praxis geben wird. Wichtig ist, dass die Ansätze in der Praxis ankommen – nicht nur auf dem Papier. Dafür braucht es eine enge Vernetzung innerhalb des Netzwerks und den Austausch mit früheren Jahrgängen. Aus diesen Begegnungen entstehen oft nicht nur berufliche Kooperationen, sondern auch Freundschaften, die lange halten.
Wie lässt sich dieses Wissen in die betriebliche Gesundheitsförderung oder gesetzliche Anforderungen integrieren?
Baker-Schuster: Eine der zentralen Fragen bei Sciana ist: Wie kann Zusammenarbeit in komplexen Systemen gelingen? Wir fördern einen Führungsstil, der Verantwortung teilt und Veränderung möglich macht. Unsere Fellows bringen das in ihre Organisationen – und öffnen neue Perspektiven auf Führung, Kooperation und strategisches Denken im Alltag.
So entstehen Impulse für betriebliche Gesundheitsförderung oder gesetzliche Entwicklungen – etwa durch neue Formen der Arbeitsorganisation, Prävention oder mitfühlende Führung („compassionate leadership“), also durch ein bewusstes, wertschätzendes und ressourcenorientiertes Miteinander im Arbeitskontext. Auch die Sciana Challenge bringt greifbare Ergebnisse: Bei dieser beschäftigen sich die Mitglieder in Arbeitsgruppen tiefer mit Aspekten des übergeordneten Jahrgangsthemas. Daraus entstehen beispielsweise politische Empfehlungen, Pilotprojekte oder dauerhafte Kooperationen.
Was bedeutet „Systems Leadership“ konkret – zum Beispiel für Unternehmen, die mit dem demografischen Wandel ringen?
Baker-Schuster: Nach einer Ableitung des Harvard-Professors für Global Health, David Nabarro, definieren wir Systems Leadership bei Sciana so: ein Bündel an Fähigkeiten und Kompetenzen, das sowohl Einzelpersonen als auch Organisationen dabei unterstützt, Veränderungen auf Systemebene anzustoßen, zu ermöglichen und zu begleiten. Es vereint kooperatives Führungsverhalten, den Aufbau von Allianzen und ein tiefes Verständnis für komplexe Zusammenhänge – mit dem Ziel, Innovationen und gemeinsames Handeln in großen, dezentralen Netzwerken zu fördern.
Gerade Unternehmen, unabhängig vom Sektor, die mit dem demografischen Wandel kämpfen, brauchen Führungskräfte mit systemischem Denken. Oft heißt das: über das eigene Unternehmen hinausdenken – in Richtung Politik, Zivilgesellschaft oder Gesundheitswesen. Nur so entstehen langfristig tragfähige Veränderungen.
Wie können wir Arbeit so gestalten, dass ältere Beschäftigte nicht nur „durchhalten“, sondern sich weiterhin gebraucht, eingebunden und gesund fühlen?
Marc Augustin: Es braucht eine Abkehr vom defizitorientierten Ansatz, der Altern nur unter dem Gesichtspunkt nachlassender Leistungsfähigkeit sieht. Ältere Beschäftigte verfügen über wertvolle Erfahrungen und Kompetenzen, die für Unternehmen essenziell sind. Betriebe sollten daher Rahmenbedingungen schaffen, die es älteren Beschäftigten ermöglichen, ihre Fähigkeiten aktiv einzubringen und weiterzuentwickeln.
Ein gelungenes Praxisbeispiel ist die Einführung sogenannter Tandem-Modelle: Hier arbeiten ältere Beschäftigte eng mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen zusammen. Ältere Mitarbeitende geben ihre gesammelte Erfahrung weiter und profitieren gleichzeitig vom Wissen jüngerer Generationen etwa in digitalen Fragen. So entsteht Wertschätzung, gegenseitiges Lernen und nachhaltige Gesundheitsförderung.
Wie gelingt es, die Erkenntnisse aus dem Netzwerk in die Praxis zu überführen?
Augustin: Sciana zeichnet sich dadurch aus, dass Praxisnähe von Anfang an mitgedacht wird. Dieser Ansatz fordert und fördert die Fellows, das Gelernte unmittelbar in ihr Handeln zu übertragen und gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen im konkreten Arbeitsumfeld umzusetzen.
Wir haben in unserer Sciana-Challenge-Arbeitsgruppe beispielsweise innovative Gesundheitsprojekte besucht, wie das vom Bosch Health Campus geförderte Stadtteil-Gesundheitszentrum GeKo in Berlin-Neukölln und das Bromley by Bow Centre in London. Was ich dort an kluger Verzahnung von sozialen und gesundheitlichen Versorgungsangeboten kennengelernt habe, fließt direkt in meine tägliche Arbeit mit Patientinnen und Patienten, Studierenden und Kolleginnen und Kollegen ein. Wenn wir als Sciana Fellows unsere Erkenntnisse weitergeben, dann entstehen Multiplikator-Effekte, die nachhaltige Veränderungen anstoßen.
Wenn Sie in einem Satz sagen müssten, was Sciana langfristig verändern will, wie würde dieser Satz lauten?
Baker-Schuster: Sciana setzt dort an, wo Gesundheitssysteme zukunftsfähig werden müssen: bei der Führung – über Sektorengrenzen hinweg und mit dem Ziel, Gesundheit, Versorgung und Wohlbefinden in Europa innovativ und nachhaltig zu gestalten.
Vielen Dank Ihnen beiden für das informative Gespräch!

Foto: Katrin Kerschbaumer Photography
Zur Person
Louise Baker-Schuster ist Chief Strategy and Partnerships Officer bei Sciana – The Health Leaders Network. In dieser Rolle fördert sie die sektorübergreifende Zusammenarbeit von Führungspersönlichkeiten aus dem Gesundheitswesen, internationalen Organisationen und Stiftungen. Mit über zehn Jahren Erfahrung im Bereich Systemführung und Netzwerkmanagement engagiert sie sich für langfristige, werteorientierte Innovationen in Gesundheit und Wohlbefinden. Außerdem
leitet sie als Senior Project Managerin am Robert Bosch Centrum für Innovationen im Gesundheitswesen am Bosch Health Campus nationale und europäische Programme zur Gesundheitskompetenz und patientenzentrierten Versorgung.
Prof. Dr. med. Marc Augustin ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und lehrt Soziale Medizin an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Digitalisierung der Psychotherapie sowie im Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Bereich der mentalen Gesundheit.