Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Gefährdungsbeurteilung

Chancen der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung

Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

Die Möglichkeit, zu einer besseren Version von uns selbst zu werden, statt auf die reine Pflichterfüllung zu setzen

Opportunities for Psychological Risk Assessment – The Possibility of Personal Growth, Rather Than Simply Meeting Expectations

Einleitung

Krankenstände auf Rekordhoch, Fachkräftemangel in allen Berufsgruppen, die Auswirkungen des demografischen Wandels sowie die angespannte wirtschaftliche Lage stellen Krankenhäuser vor sehr großen Herausforderungen. Das Gesundheitssystem wird zukünftig mit weniger Personal auskommen müssen (Fuchs u. Weyh 2023; Oswald et al. 2023). Die Gesundheit beziehungsweise Gesunderhaltung der Beschäftigten sowie die Bindung und Gewinnung erfahrener Fachkräfte an das Unternehmen, werden zur zentralen Aufgabe für Krankenhäuser, um sich zukunftsfähig aufzustellen. Hierfür sind gesunde Arbeitsbedingungen maßgeblich. Betrachtet man jedoch die Arbeitssituation der Beschäftigten in Krankenhäusern, ist festzustellen, dass diese immer komplexer wird, einer hohen Dynamik von Veränderungsprozessen unterliegt und die Gestaltungsmöglichkeiten deutlich eingeschränkter sind (Gregersen et al. 2023).

Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (GbpB) bietet die Möglichkeit, die Arbeitssituation im Krankenhaus strukturiert in den Blick zu nehmen und konkrete Gestaltungsmöglichkeiten zu identifizieren. Die nachhaltige Umsetzung von abgeleiteten Maßnahmen trägt in der Folge zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der entsprechenden Organisationseinheiten bei und wirkt sich zudem positiv auf die Zufriedenheit und Gesundheit der Beschäftigten aus. Dabei ist die Stärkung arbeitsbezogener Ressourcen entscheidend, wenn Möglichkeiten zur Veränderung von Rahmenbedingungen eingeschränkt sind. Insbesondere die soziale Unterstützung durch Führungskräfte und Mitarbeitende gilt als wesentlicher Puffer für Belastungen (Rexroth u. Ryschka 2023).

GbpB als Organisationsentwicklungs­prozess

Am Klinikum Darmstadt ist die GbpB mit der Arbeitssituationsanalyse Startpunkt für einen partizipativen Organisationsentwicklungsprozess, bei dem die reine Erfüllung gesetzlicher Vorgaben in den Hintergrund rückt. Führungskräfte und Teams werden hierbei als wichtige Ressource verstanden, um die Arbeitssituation gemeinschaftlich und erfolgreich zu gestalten. In der Praxis hat es sich bewährt, dass die von der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) empfohlenen Gestaltungsbereiche der Arbeitssituation, in zwei Ebenen untergliedert werden. Bei diesem Vorgehen werden die sozialen Beziehungen priorisiert bearbeitet. Vor allem die Kommunikation miteinander, die Zusammenarbeit im Team und die Förderung gesundheitsförderlicher Führung rücken in den Fokus. Wenn Zusammenarbeit von Wohlwollen, Wertschätzung und Anerkennung geprägt ist, entstehen stabile Beziehungen. Diese sind Grundlage für konstruktive Aushandlungsprozesse zu gemeinsamen Veränderungsprozessen und Maßnahmen in den übrigen Gestaltungsbereichen. Hierfür wurde ein Baukasten an Tools zur Unterstützung von Führungskräften und Teams in der Gestaltung von (Zusammen-)Arbeit entwickelt. Diese Tools werden bedarfsorientiert und je nach Ergebnissen der Arbeitssituationsanalyse eingesetzt.

Vorgehen am Klinikum Darmstadt

In welcher Organisationeinheit die Arbeitssituationsanalyse durchgeführt wird, entscheidet der Steuerkreis Gesundheit anhand eines datenbasierten Auswahlverfahrens. Hierbei fließen beispielsweise die Ergebnisse eines unternehmensweit eingesetzten Screening-Instruments, Fehlzeitenanalysen oder Hinweise aus Überlastungsanzeigen ein.

Die Arbeitssituationsanalyse wird innerhalb einer Organisationseinheit tätigkeitsbezogen durchgeführt und von Arbeitspsychologinnen und -psychologen moderiert. In die Beurteilung der Ergebnisse werden die Beschäftigten, die Führungskräfte sowie der Steuerkreis Gesundheit eingebunden. Die Ergebnisse werden in einer Maßnahmen­tabelle zusammengeführt, die in der Folge als Steuerungsinstrument dient. Startpunkt der Bearbeitung in den Organisationseinheiten ist jedoch zunächst ein gemeinsamer Führungsdialog.

Stärkung von Ressourcen – ­Etablierung gesundheitsförderlicher Führung

Führungsdialoge

Führungskräften wird die Möglichkeit geboten, sich losgelöst von ihrem Arbeitsalltag Zeit zu nehmen und in einen moderierten Führungsdialog zu gehen. Die Ergebnisse der Arbeitssituationsanalyse sind die Basis einer gemeinsamen Standortanalyse. Ziel ist es, Führungsteams zu befähigen, die beste Version ihrer selbst zu werden. Hierfür klären sie in ihrem Leitungsteam (z. B. Stationsleitung und Pflegedienstleitung) ihre gegenseitigen Erwartungen und entwickeln eine gemeinsame Zielrichtung für ihre Organisationseinheit. Es werden Vereinbarungen für eine nachhaltig verbesserte, wertschätzende Zusammenarbeit und Kommunikation im Leitungsteam getroffen. Bei Bedarf werden bestehende Störgefühle, alte Kränkungen, Missverständnisse oder Konflikte in der Zusammenarbeit bearbeitet und geklärt. Hiermit können unnötige Reibungsverluste vermieden werden. In einem nächsten Schritt können die Führungsdialoge um Leitungsteams relevanter Schnittstellen erweitert werden (z. B. Leitung Ärztlicher Dienst und Pflegedienst einer Fachklinik), um die interprofessionelle Zusammenarbeit zu stärken.

Führungskräfteentwicklung und ­Qualifizierung

Führungskräfte sind im Krankenhaus einer Vielzahl an Belastungen und Anforderungen ausgesetzt. Sich selbst und das Team gesund zu führen, wird zur echten Herausforderung. Um Führungskräfte in ihrer Rolle und ihren Führungskompetenzen zu unterstützen, wird ihnen bei Bedarf ein Führungskräfte-Coaching angeboten. Darüber hinaus kann die Teilnahme an einem Führungskräfteentwicklungsprogramm oder weiteren Seminarangeboten zum gesundheitsförderlichen Führen, Teil der Maßnahmen im Rahmen der GbpB sein.

Stärkung von Ressourcen – Teams entwickeln

Teamworkshops

Der Arbeitsalltag im Krankenhaus ist geprägt von Zeitdruck und einer hohen Arbeitsdichte. Die Beschäftigten haben wenig Ressourcen, um sich über relevante Themen, die für ein gut funktionierendes Team elementar sind, auszutauschen. In den Teamworkshops wird sich auf die Qualität der Zusammenarbeit innerhalb der eigenen Berufsgruppe konzentriert. Dabei werden zunächst bestehende Störgefühle, Missverständnisse oder Konflikte in der Zusammenarbeit bearbeitet. Gemeinsam mit den Führungskräften werden gegenseitige Erwartungen geklärt und ebenfalls konkrete Vereinbarungen für eine nachhaltig verbesserte, wertschätzende Zusammenarbeit und Kommunikation im Team getroffen. Ziel ist es, die Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit im Team nachhaltig zu fördern. Erfahrungsgemäß braucht es mehrere Teamworkshops, um wirksam an den Themenfeldern arbeiten zu können. Je nach Kontext und Bedarf wird im nächsten Schritt der Teamworkshop um relevante Schnittstellen erweitert. Beispielsweise kommen die verschiedenen Berufsgruppen einer Fachklinik in einem gemeinsamen Teamworkshop zusammen, um eine valide Basis für die Veränderung gemeinsamer Prozesse zu schaffen.

Gemeinsame Gestaltung von Arbeits­bedingungen

In regelmäßigen Teamsitzungen, die von internen Arbeitspsychologinnen und -psychologen moderiert werden, arbeiten die Beschäftigten gemeinsam mit ihren Führungskräften die Maßnahmenvorschläge der Arbeitssituationsanalyse aus. Sie schreiben in der Maßnahmentabelle fest, wer sich bis wann um die Umsetzung kümmert. Die aktive Beteiligung der Beschäftigten, die im gesamten Prozess als Expertinnen und Experten ihrer Arbeit verstanden und eng eingebunden werden, führt dabei zu praktikablen Lösungen. Es hat sich gezeigt, dass eine Differenzierung der Maßnahmen anhand der Einflussmöglichkeiten der jeweiligen Berufsgruppe erfolgen muss. In Teilprojektgruppen gilt es deshalb beispielsweise, Lösungen für komplexere und zum Teil interprofessionelle Fragestellungen mit den Schnittstellenverantwortlichen zu erarbeiten. Andere Themen unterliegen bestimmten Restriktionen und sind kaum veränderbar. Um die Selbstwirksamkeit zu erhöhen und Frust und Enttäuschung zu vermeiden, gilt es an dieser Stelle, mit dem Team entsprechende Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Durch die regelhafte Bearbeitung der Maßnahmentabelle mit dem Team gelingt es, Transparenz über den Umsetzungsstand der Maßnahmen zu erreichen.

Wirksamkeit prüfen

In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Maßnahmenvorschläge unterschiedlicher Bearbeitungsdauer und -tiefe bedürfen. Quick Wins können relativ schnell umgesetzt werden, wie zum Beispiel die Beschaffung von fehlenden Arbeitsmitteln. Andere Maßnahmen, wie die Optimierung von Schnittstellen, Veränderung der Kultur und Zusammenarbeit im Team, können erst mittel- bis langfristig Wirksamkeit entfalten. Deshalb wird erst etwa ein Jahr nach der Arbeits­situationsanalyse ein Evaluationsworkshop durchgeführt. Die Ergebnisse werden in der Folge in die bestehende Maßnahmentabelle übertragen und weiterbearbeitet.

Nachhaltigkeit sichern – Team
Time Out

Zur Sicherung der Nachhaltigkeit wird am Klinikum Darmstadt ein Moderationsverfahren eingesetzt, das nach dem Wirksamkeitsworkshop und zum Abschluss des Begleitprojekts in den betreffenden Teams eingeführt wird. Dabei werden die Beschäftigten in der Moderation befähigt, so dass dieses Verfahren von den Teams eigenständig durchgeführt werden kann.

Das Team Time Out ist ein Moderationsverfahren, das darauf abzielt, anhand eines partizipativen Prozesses Mitarbeitende zu befähigen, ihre Arbeitsbedingungen eigenständig zu gestalten. Dabei werden wöchentlich Belastungen im Team strukturiert identifiziert und beurteilt sowie entsprechende Maßnahmen abgeleitet und umgesetzt. Das Moderationsverfahren wurde in Anlehnung an den partizipativen Entlastungsprozess im Krankenhaus aus dem Forschungsprojekt Die Gesundheitshebel (North et al. 2009) sowie dem Ideentreffen (DGUV 2022) entwickelt und erprobt.

Erfolgsfaktoren

Was in der Theorie plausibel und sinnvoll erscheint, ist in der Praxis nicht immer einfach. Welche Erfolgsfaktoren spielen hierbei eine Rolle? Im Unternehmen braucht es zunächst ein Verständnis dafür, dass die GbpB einen Mehrwert bietet und dass sie mehr sein kann als die Erfüllung gesetzlicher Vorgaben. Entscheidend ist, dass die Geschäftsführung sich aktiv mit den Analyseergebnissen befasst, den Prozess unterstützt und die erforderlichen Strukturen und Rahmenbedingungen schafft. Am Klinikum Darmstadt ist eine der Kernaufgaben der Stabsstelle Organisations- und Führungskräfteentwicklung, Führungskräfte in der Umsetzung der GbpB zu beraten und kontinuierlich zu begleiten. In diesem Rahmen werden kreative Methoden ausprobiert und evaluiert. Grundvoraussetzung hierfür ist die Bereitschaft aller Beteiligten, sich auf den oben genannten Prozess einzulassen und sich aktiv einzubringen.

Interessenkonflikt: Die Autorinnen sind am Klinikum Darmstadt beschäftigt. Weitere Interessenkonflikte liegen nicht vor.

Literatur

DGUV (Hrsg.) So geht’s mit dem Ideen-Treffen. Tipps für Wirtschaft, Verwaltung und Handwerk. DGUV Information 206-007, 2022.

Fuchs M, Weyh A: Die Arbeitsmarktsituation in Krankenhäusern. In: Klauber J et al. (Hrsg.): Krankenhaus-Report 2023: Schwerpunkt: Personal. Berlin, Heidelberg: Springer, 2023, S. 33–47.

Gregersen S, Vincent-Höper S, Johansson K: Gesunde Führung im Gesundheits- und Sozialwesen. DGUV Forum 2023; 10: 10–13.

Klauber J, Wasem J, Beivers A, Mostert C (Hrsg.): Krankenhaus-Report 2023. Schwerpunkt: Personal. Berlin, Heidelberg: Springer, 2023.

North K, Friedrich P, Bernhardt M: Die Gesundheitshebel. Partizipative Gesundheitsförderung in der Pflege. Wiesbaden: Gabler, 2009.

Oswald J, Neumeyer H, Visarius M: Rahmenbedingungen und Herausforderungen im Personalmanagement. In: Klauber J et al. (Hrsg.): Krankenhaus-Report 2023: Schwerpunkt: Personal. Berlin, Heidelberg: Springer, 2023, S. 85–106.

Rexroth M, Ryschka J: Als Führungskraft Anforderungen stellen und Ressource sein. DGUV Forum 2023; 10: 18–21.

doi:10.17147/asu-1-328893

Weitere Infos

DGUV: Fachkonzept Führung und psychische Gesundheit, 2014
www.dguv.de/medien/inhalt/praevention/fachbereiche_dguv/fb-gib/psyche/b…

BGW: Handlungshilfe zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung im Krankenhaus, 2019
https://www.bgw-online.de/bgw-online-de/service/medien-arbeitshilfen/me…

Kernaussagen

  • Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung nimmt die Arbeitssituation im Krankenhaus strukturiert in den Blick und identifiziert konkrete Gestaltungsmöglichkeiten.
  • Führungskräfte haben eine Schlüsselrolle in der Gestaltung der Arbeitssituation.
  • Durch Formate wie Führungsdialoge und Teamworkshops wird eine nachhaltig verbesserte, wertschätzende Zusammenarbeit und Kommunikation erreicht.
  • Die kontinuierliche Bearbeitung der Maßnahmentabelle mit dem Team fördert die Transparenz und Akzeptanz für umgesetzte Maßnahmen.
  • Koautorin

    Iris Sahitolli
    Stabsstelle Organisations- und Führungskräfteentwicklung, Klinikum Darmstadt

    Kontakt

    Lotte Schwärzel, M.Sc.
    Leitung Stabsstelle ­Organi­sations- und Führungskräfteentwicklung; Klinikum Darmstadt; Grafenstraße 9; 64283 Darmstadt

    Foto: Klinikum Darmstadt/HelmutHahn

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen