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Weißfingerkrankheit 

Weißfinger durch Hand-Arm-­Vibrationen – eine unterschätzte Berufskrankheit?

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BK 2104 – Vibrationsbedingtes vasospastisches Syndrom

White Finger Due to Hand-Arm Vibrations – an Underestimated Occupational Disease?
BK 2104 – Vibration-Induced Vasospastic Syndrome

Vibrationsbedingtes vasospastisches Syndrom

Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen der Hände werden oft anhand ihrer Symptome als Weißfingerkrankheit, vibrationsbedingtes vasospastisches Syndrom (VVS) oder im Englischen als Hand-Arm-Vibration-Syndrome (HAVS) bezeichnet. Durchblutungsstörungen der Finger werden durch Vibrationen von handgeführten Werkzeugen oder Maschinen verursacht, die durch Motoren, Hydraulikpumpen oder Druckluftkompressoren angetrieben werden. Die Vibrationen haben Frequenzen zwischen 20 Hz und 1 kHz (Merkblatt BK 2104).

Neben den im Merkblatt zur BK Nr. 2104 genannten Bedienung von Bohrern, Meißeln, Fräsen, Sägen, Schneide-, Schleif- und Poliermaschinen, Niethämmern, Anklopfmaschinen und Handrichtern treten solche Vibrationen auch bei anderen Werkzeugen wie Nadelentrostern (➥ Abb. 1) oder Hochdruckreinigern auf.

Diese Geräte werden vor allem in der Forstwirtschaft, im Hoch- und Tiefbau, in der metallverarbeitenden Industrie und im Schiffbau eingesetzt; aber auch in Bereichen, die nicht unbedingt mit Vibrationen in Verbindung gebracht werden, wie zum Beispiel dem Schiffsbetrieb oder gewerblichen Taucherarbeiten.

Das Tätigkeitsgebiet geprüfter Taucher erstreckt sich über viele Gewerke des Hoch- und Tiefbaus. Neben den bekannten Aufgaben wie Suchen, Bergen und Schiffsbodeninspektionen übernehmen sie auch Arbeiten an Holz-, Stahl- und Betonbauwerken (➥ Abb. 2). Die verwendeten Werkzeuge wie Kettensäge (➥ Abb. 3) oder
Stemmhammer (➥ Abb. 4) werden hier allerdings nicht elektrisch, sondern pneumatisch oder meist hydraulisch angetrieben. Der abgebildete Hochdruckreiniger (➥ Abb. 5) nutzt Arbeitsdrücke bis 500 bar. Zum Vergleich: Profigeräte an Land arbeiten üblicherweise mit Drücken zwischen 100 und 200 bar. Diese Informationen sind für Betriebsärztinnen und -ärzte wichtig, um die Risiken einer Erkrankung durch Vibrationen beurteilen zu können.

Klinik

Wie beim primären Raynaud-Syndrom leiden die Patientinnen und Patienten mit VVS unter rezidivierend auftretenden Durchblutungsstörungen der Langfinger, selten auch der Daumen. Das erste Symptom der vibrationsbedingten Weißfingerkrankheit ist die Blässe der Fingerspitzen, die auch auf die ganzen Finger ausgedehnt sein kann. Die Blässe hält über längere Zeit an, im Einzelfall bis zu Stunden (➥ Abb. 6). Eine livide Verfärbung der betroffenen Finger kann auftreten, häufiger zeigt sich jedoch zum Ende des Intervalls eine Rötung als Zeichen der reaktiven Hyperämie. Hyp- oder Dysästhesien mit teilweise starken Schmerzen können ebenfalls auftreten. Die Symptome machen sich üblicherweise bei kalten Temperaturen bemerkbar. In fortgeschrittenen Krankheitsstadien oder bei begünstigenden Faktoren wie Windchill, Feuchtigkeit oder festem Zugreifen können die Beschwerden erfahrungsgemäß auch schon bei moderaten Temperaturen bis 15 °C, selten bis 20 °C ausgelöst werden. Beispiele für besonders schwerwiegende Auslöser sind nasse Finger wie beim Tauchen durch die 25fach höhere Wärmeleitfähigkeit des Wassers und Greifen von vibrierenden Werkzeugen mit hohen Vibrationsbelastungen und unergonomischen Handgriffen (➥ Abb. 7).

BK-Entwicklung

Die Bezeichnung der BK 2104 lautete bis zum Wegfall des Unterlassungszwangs 2021 „Vi­brationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können“. In den Jahren 1990 bis 2022 wurden bei den Berufsgenossenschaften jährlich durchschnittlich etwa 89 Verdachtsfälle auf die Berufskrankheit Nr. 2104 angezeigt (Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, DGUV; s. „Weitere Infos“). Das entspricht etwa 1,2 ‰ aller angezeigten Verdachtsfälle. Davon wurden jährlich durchschnittlich 26 als Berufskrankheiten anerkannt. Der Wegfall des Unterlassungszwangs würde, wie bei anderen davon betroffenen BKs, eine deutlich zunehmende Anerkennungsquote erwarten lassen. Tatsächlich stieg sie in den Jahren 2021 und 2022 auf 46 beziehungsweise 29 (im Mittel 37,5) Anerkennungen gegenüber den Vorjahren. Dies entspricht einer Steigerung von knapp 50 %. Vergleicht man diese Zahlen mit denen anderer BKs, bei denen ebenfalls der Unterlassungszwang aufgehoben wurde, erscheint der Zuwachs der Anerkennungen moderat. Die Anerkennungsquote der Berufskrankheit Nr. 5101 („Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen“) stieg nach dem Wegfall des Unterlassungszwangs von durchschnittlich 2,3 % vor 2020 auf über 20 % danach. Dies entspricht einer Steigerung um fast den Faktor 10 (➥ Tabelle 1).

Tabelle1:  Verdachtsanzeigen und Anerkennungen BK 2104 vs. alle BK (aus DGUV-Statistik, s. „Weitere Infos“)

Tabelle1: Verdachtsanzeigen und Anerkennungen BK 2104 vs. alle BK (aus DGUV-Statistik, s. „Weitere Infos“)

Warum werden so wenige Berufskrankheiten angezeigt und anerkannt?

Teilweise geringes Risiko

Obwohl in den oben genannten Branchen knapp ein Viertel der Vollarbeitenden (DGUV-Statistik) beschäftigt sind, kann die Zahl der an VVS erkrankenden Beschäftigten tatsächlich sehr gering sein. Um den Auslösewert für Hand-Arm-Schwingungen von A(8) = 2,5 m/s² zu erreichen, müssten Beschäftigte beispielsweise mit einer durch Verbrennungsmotor angetriebenen Motorsense und einem Vibrationspegel von ahv = 7 m/s² täglich etwas über eine Stunde arbeiten. Zum Erreichen des Expositionsgrenzwerts A(8) = 5 m/s² wäre eine tägliche Nutzungszeit von über vier Stunden erforderlich. Bei Nutzung einer modernen akkubetriebenen Motorsense mit einem Vibrationspegel von ahv = 1,4 m/s² würden Beschäftigte den Auslösewert rechnerisch selbst bei ununterbrochenem, 24-stündigem Einsatz des Geräts nicht erreichen.

Zum Vergleich: Beschäftigte überschreiten bereits den Auslösewert, wenn sie täglich acht Minuten mit einem druckluftbetriebenen Nadelentroster mit einem Vibrationspegel von ahv = 19,2 m/s² arbeiten, wie er an Bord oder beim Tauchen verwendet wird. Zum Erreichen des Expositionsgrenzwerts A(8) = 5 m/s² wäre eine tägliche Nutzungszeit von 33 Minuten erforderlich (Kennwertrechner des IFA; s. „Weitere Infos“).

Bei einigen Werkzeugen wurden in den letzten Jahren technische Maßnahmen wie vibrationsgedämpfte und/oder angewärmte Handgriffe umgesetzt, um die Belastungen durch Hand-Arm-Vibrationen zu reduzieren (Grießer u. Neub 2017).

Unterschätzung der Erkrankungszahlen

Bei der ICE-Pilotstudie 2010 wurde bei zwei der 15 Testpersonen durch den Kaltwasserprovokationstest erstmalig eine Weißfingerkrankheit diagnostiziert (Heblich et al. 2014). Etwa ein Drittel der 20 Patientinnen und Patienten, die neben den 122 Versuchspersonen zur Validierung des akralen Kälteprovokationstests untersucht wurden, erinnerte sich erst nach der Einladung zur Studie bei der ausführlichen Anamnese an das Weißwerden ihrer Finger. Sie hatten sich eigentlich als gesunde Studienteilnehmende gemeldet.

Bei den ersten Vorsorgen in drei neu übernommenen Betrieben (Abbruch, Reederei, Tauchbetrieb) wurde bei mehreren Beschäftigten ein Verdacht auf Vibrationsbedingte Weißfingerkrankheit (VVS) festgestellt. Die Verdachtsanzeigen wurden bei den zugehörigen Berufsgenossenschaften (BGs) eingereicht. In keinem der Betriebe wurde bisher das Thema Hand-Arm-Vibration thematisiert. Betreuende Ärztinnen und Ärzte hatten einen möglichen Zusammenhang zwischen den Symptomen der Weißfingerkrankheit und der beruflichen Nutzung vibrierender Geräte nicht erkannt In einem Fall hatte der Betroffene dem noch selten auftretenden Weißwerden seiner Fingerspitzen bis dato keinen Krankheitswert beigemessen und daher auch nicht mit einer Ärztin oder einem Arzt darüber gesprochen.

Unterschätzung bei den Anerkennungen

Neben den typischen Symptomen und der nachgewiesenen Nutzung der vibrierenden, handgeführten Werkzeuge ist für die Anerkennung einer BK 2104 „die Durchführung eines Provokationstests“ erforderlich (Merkblatt). Gemeint ist eine in der DIN ISO 14835-11 beschriebene Untersuchungsmethode, bei der nach initialen Hauttemperaturmessungen beide Hände der Betroffenen für fünf Minuten in auf 12 °C ± 0,5 °C temperiertes Wasser getaucht werden, um anschließend die Fingerhauttemperatur bis zur kompletten Wiedererwärmung, mindestens aber 15 Minuten zu messen. Dieser akrale Kälteprovokationstest wird „ICE“ genannt für „ISO-like Cold water Exposure“; zum Teil wird die Untersuchung als AKP oder KPT abgekürzt. Beispiele der Dokumentation je einer gesunden Testperson und einer betroffenen Person zeigen die ➥ Abb. 8 und 9.

Die Berufskrankheitenverfahren zur Vibrationsbedingten Weißfingerkrankheit (VVS) wurden in der Vergangenheit teilweise verzögert, weil die Durchführung eines DIN-konformen Kälteprovokationstests nicht überall möglich war. Dies lag zum Teil an hohen Kosten für Wärmebildkameras und an Restriktionen, wie zum Beispiel der Durchführung der Untersuchung zur gleichen Tageszeit und nur im Winterhalbjahr. In den letzten Jahren sind Wärmebildkameras jedoch erschwinglicher geworden. Außerdem ist die Validität von ICE unabhängig von Tages- und Jahreszeit nachgewiesen worden (Heblich et al. 2011, 2014). Daher sollten zeit- und idealerweise ortsnahe Untersuchungen für die betroffenen Beschäftigten möglich sein.▪

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

DIN ISO 14835-1: Mechanische Schwingungen und Stöße – Kälteprovokationstests zur Bewertung der peripheren Gefäßfunktion – Teil1: Messung und Bewertung der Hauttemperatur der Finger (ISO 14835-1:2005). Berlin: Beuth Verlag, 2005.

Grießer R, Neub M: Sachkundenachweis Motorsäge.
2. überarb. u. erw. Auf. Stuttgart: Verlag Eugen Ulmer, 2017.

Heblich F, Becker Q, Sammito S: Kälteprovokationstest nach DIN ISO 14835-1 – Beurteilung unterschiedlicher Bewertungskriterien. Zbl Arbeitsmed 2014; 64: 184–190.

Heblich F, Gast P, Wilken D, Baur X: Vibrationsbedingtes Vasospastisches Syndrom: Perennialer Einsatz des Akralen Kälteprovokationstests nach ISO 14835 -1. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2011; 46: 187.

Heblich F, Wilken D, Gast P, Baur X: Vibrationsbedingtes Vasospastisches Syndrom: Stockholm Workshop Scale versus Akraler Kälteprovokationstest nach ISO 14835-1. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2010; 45: 361–362.

doi:10.17147/asu-1-342891

Weitere Infos

BMAS: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2104 „Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen“, 1979
https://www.baua.de/DE/Themen/Praevention/Koerperliche-Gesundheit/Beruf…

DGUV-Statistiken für die Praxis 2022
https://publikationen.dguv.de/detail/index/sArticle/4767

DGUV-Statistiken für die Praxis 2010
https://publikationen.dguv.de/zahlen-fakten/ueberblick/2520/dguv-statis…

IFA-Kennwertrechner
https://www.dguv.de/medien/ifa/de/pra/softwa/kennwertrechner/hav2018-if…

Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Handbuch Hand-Arm-Vibration
https://lavg.brandenburg.de/sixcms/media.php/9/EU_HAV_Handbuch.pdf

Abb. 2:  Taucher beim Abtauchen zu Reparaturarbeiten an einem Unterwasserbauwerk

Foto: Frank Heblich

Abb. 2: Taucher beim Abtauchen zu Reparaturarbeiten an einem Unterwasserbauwerk
Abb. 3:  Hydraulische Kettensäge

Foto: Frank Heblich

Abb. 3: Hydraulische Kettensäge
Abb. 4:  Hydraulische Stemmhämmer

Foto: Frank Heblich

Abb. 4: Hydraulische Stemmhämmer
Abb. 5:  Unterwasser-Hochdruckreiniger

Foto: Frank Heblich

Abb. 5: Unterwasser-Hochdruckreiniger
Abb. 6:  Weißfinger

Foto: Frank Heblich

Abb. 6: Weißfinger
Abb. 7:  Wärmebild nach Kälteprovokationstest (ICE) bei Patient mit VVS

Foto: Frank Heblich

Abb. 7: Wärmebild nach Kälteprovokationstest (ICE) bei Patient mit VVS
Abb. 8:  Beispiel der Dokumentation ICE: ­gesunder Proband

Foto: Frank Heblich

Abb. 8: Beispiel der Dokumentation ICE: ­gesunder Proband
Abb. 9:  Beispiel der Dokumentation ICE: ­Patient

Foto: Frank Heblich

Abb. 9: Beispiel der Dokumentation ICE: ­Patient

Kernaussagen

  • Der Verdacht auf eine Berufskrankheit BK 2104 „Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen“ wird relativ selten angezeigt, obwohl in Deutschland immer noch viele Beschäftigte mit vibrierenden, Hand-Arm-geführten Maschinen arbeiten müssen. Aus den oben genannten Erfahrungen ergeben sich Hinweise auf eine nicht unwesentliche Dunkelziffer.
  • Betriebsärztinnen und -ärzte sollten daher im Rahmen der ganzheitlichen arbeitsmedizinischen Vorsorge an ein mögliches vibrationsbedingtes vasospastisches Syndrom denken. Wenn die Hand-Arm-Vibrationen wie zum Beispiel bei gewerblich Tauchenden oder Seeleuten nicht für jeden evident sind, sollte gezielt danach und nach möglichen Symptomen der Weißfingerkrankheit gefragt werden.
  • Institute, an denen DIN-konforme Kälteprovokationstests (ICE) der Hände durchgeführt werden können, sollten dies kommunizieren, damit sich die BK-Verfahren nicht unnötig verzögern.
  • Koautor

    Dr. rer. nat. Wataru Kähler
    Abteilung III – Forschung und Lehre, Schifffahrts­medizinisches Institut der Marine, Kronshagen

    Kontakt

    Dr. med. Frank Heblich
    Facharzt für Arbeits- und ­Allgemeinmedizin; Maritime Medizin, Flugmedizin; Fachkraft für Arbeitssicherheit; Am Krankenhaus 5; 24211 Preetz

    Foto: privat

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