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Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 04.05.2021 – L 3 U 70/19

Kombinationsbelastung durch Ganzkörperschwingungen sowie schweres Heben und Tragen

Sachverhalt

Der 1952 geborene Kläger begehrt die Anerkennung einer Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit (BK) nach den Nummern 2108 und 2110 der Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung (BKV). Er ist zum 1. November 2008 aus dem Berufsleben ausgeschieden und bezieht eine Erwerbsminderungsrente. Mit Schreiben vom 16. März 2010 zeigte seine gesetzliche Krankenkasse den Verdacht einer Berufskrankheit bei der Beklagten an.

Der als Heimatvertriebener anerkannte Kläger war von 1975 bis 1991 LKW-Fahrer auf unebenen Landstraßen in Kasachstan.
Von 05/1975 bis 12/1985 transportierte er Milch. Von 1985 bis 1988 führte er den Transport von Backsteinen, Holz, Stahl und Eisen durch, wobei diese Gegenstände auch von Hand gehoben werden mussten. Von 01/1989 bis 04/1991 fuhr er einen Muldenkipper in einer Kohlengrube, und zwar auf dem Grubenboden auf unbefestigten Straßen. Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland arbeitete er in den Jahren 05/1992 bis 07/1993 als Gießereiwerker (Fertigung von Kanalringen im Akkord mit Einfüllen von Beton in Rüttelform, Stapeln der Kanalringe), in den Jahren 08/1993 bis 07/1995 als Betonfertigteilbauer in der Abscheiderfertigung (Nachbearbeitung von Betontöpfen/Tragen von wassergefüllten Eimern und Eimern mit Beton) und von 08/1995 bis 07/2004 war er Gießereiwerker/Lagerarbeiter im Kokillenlager (= Lager für Kühlsteine aus Stahl; Tragen von Gussteilen mit ausgestreckten Armen). Von 09/2004 bis 2006 beförderte er täglich 15 bis 20 Sandkerne mit einem Gewicht pro Kern im Schnitt von 15 kg. In den Jahren 2006 bis 2008 war er in der Sandaufbereitung und im innerbetrieblichen Transport beschäftigt (Heben von ca. 40 Säcken à 25 kg täglich in etwa der Hälfte der Arbeitstage).

Nach einem radiologischen Befund (CT-Aufnahme) von Dr. G. vom 30. April 2009 bestanden bei dem Kläger eine Osteochondrose, Retrospondylose und ein grenzwertig weiter Spinalkanal „LWK5 und 5/S1“ mit jeweils unterfütternder Bandscheibenprotrusion in diesen Wirbelsäulensegmenten.

Der Präventionsdienst teilte in seiner Beurteilung vom 10. Februar 2011 mit, bezüglich der Schwingungsbelastung als Kraftfahrer (Exposition für die BK 2110) errechne sich bei einer Worst-Case-Annahme bezüglich der Straßenverhältnisse in Kasachstan und der Annahme, dass über einen Zeitraum von 14 Jahren mit jeweils 240 Expositionstagen eine Vibrationsbelastung vorgelegen hat, eine Belastungsdosis (Schwingungsbelastungsgesamtdosis = Dv) von 1741 (m/s2)2. Damit sei in den 16 Dosisjahren in Kasachstan der Dosis-Richtwert Dv von 1450 (m/s2)2  um 20 % überschritten. In 10 Jahren seien etwa 75 % dieses Dosisrichtwerts erreicht worden. Hinsichtlich der Lendenwirbelsäulenbelastung durch das Heben und Tragen von Lasten (Exposition für die BK Nr. 2108) errechnete der Präventionsdienst nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) für den Zeitraum vom 05/1992 bis 10/2008 eine berufliche Gesamtdosis in Höhe von 18,4 x 106 Nh.

Mit Gerichtsbescheid vom 27. September 2012 hat das Sozialgericht (SG) die Klage auf der Grundlage eines fachorthopädischen Gutachtens des Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. M. abgewiesen. Der Sachverständige hatte bei dem Kläger radiologisch (Röntgenbefund vom 12. Mai 2012) eine beginnende degenerative Bandscheibenerkrankung der Halswirbelsäule (HWS) und eine mittelgradig ausgeprägte Bandscheibenerkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) mit endgradiger Funktionseinschränkung ohne radikuläre Ausfallsymptomatik diagnostiziert. Eine „klinische“ Symptomatik sei nicht festzustellen, so dass aus diesem Grund schon die Anerkennung einer BK Nr. 2108 nach den Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der BK 2108 oder 2110 scheitere.

Auf die Berufung beim Hessischen Landessozialgericht (LSG) hin hat der Senat auf Antrag des Klägers ein arbeitsmedizinisches Gutachten von Prof. Dr. N. unter Einbeziehung eines neurologisch-psychiatrischen Zusatzgutachtens von Dr. O. und eines radiologischen Zusatzgutachtens von Dr. P. eingeholt. Der Radiologe hat bezüglich LWK 4/5 eine drittgradige Chondrose (2008) und einen zweitgradigen Prolaps (2012), bezüglich LWK 5/SWK 1 eine drittgradige Chondrose (2008) und einen zweitgradigen Prolaps (2012) festgestellt. Ein Magnetresonanz­tomogramm (MRT) hätte wegen des Herzschrittmachers nicht durchgeführt und daher die Frage von „black disc“ nicht beantwortet werden können. Eine Begleitspondylose liege nicht vor. Zum Zeitpunkt der Untersuchung (2014) seien die degenerativen Veränderungen an der LWS stärker als die an der HWS. Der neurologische Sachverständige hat im Ergebnis ein lokales LWS-Syndrom mit mittelgradigen, belastungsabhängigen Beschwerden ohne relevante Funktionsausfälle und einem chronischen Schmerzsyndrom festgestellt.

Der Sachverständige Prof. Dr. N. nahm aufgrund des Röntgenbefundes der LWS vom 9. Juni 2005 eine altersuntypische Chondrose mit Bandscheibenverschmälerung bereits zu diesem Zeitpunkt an und ging aufgrund der Zunahme bewegungs- und belastungsabhängiger Beschwerden des Klägers im Bereich der LWS von einer bandscheibenbedingten Erkrankung zum Zeitpunkt der Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit am 1. November 2008 in Form eines lokalen Lumbalsyndroms aus. Nach den Konsensempfehlungen komme die Annahme des Kausalzusammenhangs des Gesundheitsschadens mit der beruflichen Belastung und die Anerkennung einer BK Nr. 2108 nach den Konstellationen B3 und B2 in Betracht. Das Vorliegen der Konstellation B2 hänge aber davon ab, ob das 2. und/oder 3. Zusatzkriterium dieser Konstellation erfüllt sei (besonders intensive Belastung bzw. besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen). Dies sei von dem Präventionsdienst bisher nicht ermittelt worden. Zudem habe der Präventionsdienst bei seinen Ermittlungen der Exposition im Sinne der BK 2108 nicht die Tätigkeit in Kasach­stan zwischen 1975 und 1991 berücksichtigt, für die der Kläger zumindest zwischen 1975 und 1988 Belastungen durch Heben und Tragen von Lasten über 25 kg angegeben habe.

In seiner Neuberechnung hat der Präventionsdienst daraufhin die Exposition des Klägers im Sinne der BK 2108 unter Einbeziehung der Wirbelsäulenbelastung durch Heben und Tragen von Lasten in Kasachstan in den Jahren 1975 bis 1991 mit dem Ergebnis neu berechnet, die berufliche Gesamtdosis bis zum 31. Oktober 2008 liege in Höhe von 25,9 MNh vor (104 % des Orientierungswerts). Eine besonders intensive Belastung gemäß Definition sei nicht gegeben, ebenso keine Spitzenbelastungen gemäß Definition. Für die Beurteilung der intensiven Belastung hat der Präventionsdienst auf die jeweilige Jahresdosis (in den Jahren 1985 bis 1988 durch beidhändiges Heben von Baustoffen) verwiesen und angemerkt, dass die Gesamtdosis und die Belastungseinwirkungen bei den Fallkonstellationen B2 der Konsensempfehlung unterschiedlich zu berechnen seien. Die Gesamtdosis berechne sich nach dem geänderten Orientierungswert nach „BSG Urteil B2 U 4/06“, die Berechnungskriterien für die B2-Konstellationen (hier: besonders intensive Belastung) seien jedoch weiterhin die nach den originalen MDD-Richtwerten, das heißt, für eine Berücksichtigung der Fallkonstellationen B2 müsse bei Männern ein Bandscheibendruckkraftwert von 3,2 kN sowie ein Tagesdosiswert von 5,5 kNh erreicht werden. Letzteres sei bei dem Kläger nur im Beschäftigungsabschnitt vom 1. Juli 1985 bis 31. Dezember 1988 erfüllt.

Auf Aufforderung des Senats hat die Beklagte sodann Berechnungen des Präventionsdienstes zur Ermittlung der arbeitstechnischen Voraussetzungen im Sinne der Kombinationsbelastung aus Expositionen im Sinne der BK 2108 und BK 2110 vorgelegt. Mit Stellungnahme vom 27. Mai 2020 (mit Berechnungstabelle in der Anlage) hat der Präventionsdienst nach seinen Berechnungen für den Zeitraum vom 1. Januar 1975 bis zum 30. April 1991 eine kumulierte Belastung mit einem Alpha-Wert von 1,571 festgestellt, der über dem Alpha-Richtwert von 1,0 liegt, bei dessen Vorliegen ein erhöhtes Risiko für die LWS nicht auszuschließen ist, das durch eine Mischbelas­tung aus Heben, Tragen, extremer Rumpfbeugehaltung sowie Ganzkörper­schwingungen verursacht wird.

Versicherungsfallprinzip

Der Senat erachtet die auf Feststellung der BK 2108 und BK 2110 gerichteten Anträge für begründet. Nach dem Versicherungsfallprinzip der gesetzlichen Unfallversicherung seien die in der Berufskrankheitenliste aufgeführten Krankheiten grundsätzlich getrennt zu betrachten und bildeten eigenständige Versicherungsfälle. Könne indes wie im Fall der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS ein bestimmtes Krankheitsbild durch verschiedene berufliche Einwirkungen verursacht werden, die jeweils für sich genommen der Gegenstand einer eigenen BK sein können, so bestehe bei entsprechender Exposition die Möglichkeit, dass die betreffende Krankheit die Voraussetzungen zweier oder mehrerer BK‘en gleichzeitig erfülle, die dann nebeneinander anzuerkennen seien, für die dann aber eine einheitliche Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) festzusetzen sei (BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 – B 2 U 9/05 R).

Voraussetzung für die Feststellung jeder Erkrankung als Berufskrankheit sei zunächst, dass die versicherte Tätigkeit, die schädigenden Einwirkungen sowie die Erkrankung im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen seien. Eine absolute Sicherheit sei bei der Feststellung des Sachverhalts dabei nicht zu erzielen. Erforderlich sei aber eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit, wonach kein vernünftiger Mensch mehr am Vorliegen vorgenannter Tatbestandsmerkmale zweifelt. Die für die Anerkennung der BK Nr. 2108 und Nr. 2110 Anlage 1 zur BKV jeweils geforderten besonderen Einwirkungen i. S. des §9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII, die so genannten arbeitstechnischen Voraussetzungen, lägen hier vor.

Arbeitstechnische Voraussetzungen der BK 2110

Während seiner Tätigkeit als LKW-Fahrer in Kasachstan in den Jahren 1975 bis 1991, die nach den §§ 2, 13 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) i. V. m. § 5 Fremdrentengesetz (FRG) als Versicherungsschutz begründende Beschäftigung zu berücksichtigen sei, war der Kläger nach den Berechnungen des Präventionsdienstes langjährig und wiederholt vorwiegend vertikalen Ganzkörperschwingungen in Sitzhaltung ausgesetzt, die mit einer Belastungsdosis Dv von 1741 (m/s2)2 den Dosis-Richtwert Dv von 1450 (m/s2)2 überschreiten, bei dem angesichts der Expositionsdauer ein erhöhtes Risiko für die LWS anzunehmen sei.

Arbeitstechnische Voraussetzungen der BK 2108

Während der den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeiten in seinem gesamten Berufsleben vom 1. Januar 1975 bis zum 31. Oktober 2008 sei der Kläger nach den Berechnungen des Präventionsdienstes entsprechend dem so genannten Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) langjährig schwerem Heben von Lasten ausgesetzt gewesen mit einer Gesamtdosis von 25,9 MNh. Der Richtwert von 25 MNh, bei dem nach aktuellem Stand ein erhöhtes Risiko für eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS anzunehmen ist, sei damit überschritten.

Listenerkrankung

Auch die Listenerkrankung sei so, wie sie in der Neufassung der Anlage 1 zur BKV sowohl zur Nr. 2108 als auch zur Nr. 2110 gefordert wird, im Vollbeweis gesichert. Bei dem Kläger läge eine bandscheibendingte Erkrankung der beiden unteren LWS-Segmente L4/5 und L5/S1 vor. Für diese Feststellung stütze sich der Senat auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. N. in dessen Gutachten vom 22. Mai 2014 und das radiologische Zusatzgutachten von Dr. P. vom 2. Mai 2014. Demnach läge bei dem Kläger radiologisch an den beiden unteren LWS-Segmenten jeweils eine drittgradige Chondrose (Erstdiagnose: 1. September 2008) sowie jeweils ein Bandscheibenprolaps (Erstdiagnose: 23. Juli 2012) vor und damit entsprechend den Konsensempfehlungen zum jeweils festgestellten Zeitpunkt eine altersuntypische Veränderung.

Klinisch werden in der Beschreibung der Listenerkrankungen zu der BK 2108 und BK 2110 zudem chronische oder chronisch-rezidivierende Beschwerden und Funktionseinschränkungen gefordert. Die Beschreibungen nähmen in der Neufassung damit die Beschwerdesymptomatik auf, die in dem Merkblatt zu der BK 2108 und in den Konsensempfehlungen für die Annahme einer bandscheibenbedingten Erkrankung gefordert werden. Prof. Dr. N. habe für den Senat nachvollziehbar anhand seiner Untersuchungsergebnisse, der Auswertung der Akten und unter Ausein­andersetzung mit den Vorgutachten von
Dr. M. dargelegt, dass bei dem Kläger für den Zeitpunkt der Berufsaufgabe sowie zum Zeitpunkt der Untersuchung des Sachverständigen eine korrelierende klinische Symptomatik in Form eines lokalen Lumbalsyndroms mit zunehmenden Beschwerden zu konstatieren ist. Er weist darauf hin, dass nach Aktenlage Beschwerden des Klägers an der unteren LWS schon Ende der 1980er Jahre festgestellt und behandelt worden sind.

Im Übrigen habe – so der Sachverständige – der behandelnde Orthopäde Dr. F. als Ergebnis seiner Untersuchung am 9. Juni 2005 über einen Segmentbefund mit Federungsschmerz L4/5 und L5/S1 sowie funktionell eine Entfaltungsstörung der LWS berichtet, was dafür spreche, dass schon zu diesem Zeitpunkt ein lokales Lumbalsyndrom vorgelegen habe. Die entgegenstehende Annahme des Sachverständigen Dr. M., eine bandscheibenbedingte Erkrankung liege nicht vor, da die klinische Symptomatik fehle, habe Prof. Dr. N. für den Senat damit überzeugend widerlegt.

Haftungsausfüllende Kausalität

Die bandscheibenbedingte LWS-Erkrankung des Klägers sei nach Auffassung des Senats auch hinreichend wahrscheinlich auf die physikalischen Einwirkungen während seines Berufslebens zurückzuführen. Die Kausalitätsfeststellungen zwischen den einzelnen Gliedern des Versicherungsfalls basierten auf der im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach gehe es auf einer ersten Stufe der Kausalitätsprüfung um die Frage, ob ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne vorliege, das heißt, ob eine objektive Verursachung zu bejahen ist. Beweisrechtlich sei zudem zu beachten, dass der möglicherweise aus mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang positiv festgestellt werden müsse und dass die Anknüpfungstatsachen der Kausalkette im Vollbeweis vorliegen müssten.

In einer zweiten Prüfungsstufe sei sodann durch Wertung die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die wesentlich sind, weil sie rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Als wissenschaftliche Grundlage für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs bei den BK‘en 2108 und 2110 lege der Senat nach seiner ständigen Rechtsprechung die oben erwähnten Konsensempfehlungen zugrunde, in denen die für einen Zusammenhang sprechenden Kriterien aus biomechanischen Plausibilitätsüberlegungen und aus der Auswertung der verfügbaren epidemiologischen Evidenz zusammengestellt sind, typische Fallkon­stellationen definiert sowie die Einschätzung der Experten zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs entsprechend der jeweiligen Befundkonstellation wiedergegeben sind.

Grundvoraussetzungen der Konsensempfehlung

Die Grundvoraussetzungen für die Anerkennung eines Ursachenzusammenhangs nach den Konsensempfehlungen, ein altersuntypischer Schaden und eine plausible zeitliche Korrelation zu dessen Entwicklung, seien hier gegeben. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. N. läge seit dem 9. Juni 2005 eine altersuntypische Chondrose mit Bandscheibenverschmälerung vor. Diesem altersuntypischen Schaden sei wie oben ausgeführt eine ausreichende berufliche Belastung vorausgegangen.

B-Konstellation der Konsens­empfehlung

Vorliegend sei nach Auffassung des Senats eine der in den Konsensempfehlungen definierten B-Konstellationen gegeben, bei denen der Zusammenhang von den Experten als wahrscheinlich beurteilt worden ist. Für sämtliche B-Konstellationen wird nach den Konsensempfehlungen vorausgesetzt, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung nach ihrer Lokalisation die Segmente L5/S1 und/oder L4/L5 betrifft und eine Ausprägung als Chondrose Grad II oder höher und/oder eines Vorfalls hat. Hier sei, wie ausgeführt, ein entsprechender bisegmentaler Bandscheibenschaden der unteren LWS-Segmente gesichert.

Eine Anerkennung dieses LWS-Schadens unter der Konstellation B1 der Konsensempfehlungen scheide dabei aus, weil es am Vorliegen einer Begleitspondylose fehlt, die als ein maßgebliches Positivkriterium für die Annahme des Kausalzusammenhangs zu sehen sei. Als Begleitspondylose wird in den Konsensempfehlungen eine Spondylose definiert, die entweder in dem nicht von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment vorliegt oder zwar in dem von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment aufgetreten ist, aber nachgewiesenermaßen vor dem Eintritt der bandscheibenbedingten Erkrankung. Nach den übereinstimmenden radiologischen Befunden, unter anderem von Dr. P., läge eine solche Begleitspondylose hier nicht vor.

Die Bandscheibenerkrankung des Klägers in den beiden unteren Segmenten erfülle indes die Voraussetzungen der Konstellation B2. Bei dieser Konstellation fehle die Begleitspondylose als maßgebliches Positivkriterium für die Annahme des Zusammenhangs, und dieser wird nur dann als wahrscheinlich angesehen, wenn stattdessen eines der drei in der Konstellation genannten Zusatzkriterien erfüllt ist. Der Sachverständige Prof. Dr. N. habe diese Konstellation B2 nach den Konsensempfehlungen aus medizinischer Sicht als möglich angesehen, da bei dem Kläger zum Zeitpunkt der Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit am 1. November 2008 kein Bandscheibenschaden an der Halswirbelsäule (HWS) und keine wesentlichen außerberuflich bedingten konkurrierenden Ursachenfaktoren vorgelegen hätten.

Zusatzkriterien der Konstellation B2

Das 1. Zusatzkriterium der Konstellation B2 („Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben – bei mono­segmentaler/m Chondrose/Vorfall in L5/S1 oder L4/L5 „black disc“ im MRT in mindestens 2 angrenzenden Segmenten“) sei hier nicht nachgewiesen. Prof. Dr. N. habe das Vorliegen dieses Kriteriums gar nicht diskutiert. Mit der Beratungsärztin Dr. H. in ihrer Stellungnahme vom 15. November 2010 sei der Senat nach seiner ständigen Rechtsprechung der Auffassung, dass der Begriff „mehrere“ im Sinne dieses Zusatzkriteriums die Erkrankung von mindestens drei angrenzenden Segmenten, mindestens in Form einer „black disc“ erfordere. Vorliegend sei indes nur ein bisegmentaler Bandscheibenschaden an den beiden unteren LWS-Segmenten gesichert. Eine degenerative Erkrankung im Sinne einer „black disc“ im angrenzenden Segment lasse sich nicht nachweisen, da das dafür erforderliche MRT wegen des Herzschrittmachers des Klägers nicht durchgeführt werden
könne.

Die Annahme der Konstellation B2 habe der Sachverständige Prof. Dr. N. von weiteren Berechnungen des Präventionsdienstes zu dem Vorliegen des 2. Zusatzkriteriums dieser Konstellation („Besonders intensive Belastung; Anhaltspunkt: Erreichen des Richtwerts für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren) abhängig gemacht. Auf der Grundlage der im Berufungsverfahren erfolgten Berechnungen des Präventionsdienstes, die sich an den Konsensempfehlungen, insbesondere an den dort dargelegten Belastungsrichtwerten orientieren und deren Parameter für den Senat nachvollziehbar seien, lasse sich nach Auffassung des Senats vorliegend eine besonders intensive Belastung im Sinne des 2. Zusatzkriteriums feststellen.

Besonders intensive Belastung i. S. d. BK 2108

Diese besonders intensive Belastung erfülle der Kläger indes nicht allein durch seine berufliche Exposition im Sinne der BK 2108. Den Richtwert für die Lebensdosis durch langjähriges schweres Heben und Tragen von Lasten, bei dem nach aktuellem Stand ein erhöhtes Risiko für eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS anzunehmen ist, erreiche er nach den Berechnungen des Präventionsdienstes nicht in weniger als 10 Jahren. Ebenso wie die Beklagte beziehungsweise der Präventionsdienst lege der Senat dabei als Richtwert für die Mindest-Lebensdosis im Sinne des 2. Zusatzkriteriums der Konstellation B2 den Richtwert nach dem Original-MDD für Männer von 25 MNh zugrunde. Dieser Wert sei auch unter Berücksichtigung des Urteils des BSG vom 30. Oktober 2007 (B 2 U 4/06 R) weiterhin anzuwenden. Das Bundessozial­gericht habe in dieser Entscheidung das Unterschreiten des halbierten MDD-Orientierungswerts, also ein Unterschreiten von 12,5 MNh, als „Abschneidekriterium“ festgelegt, das dazu führt, dass ohne medizinische Ermittlungen bereits alleine wegen der Nichterfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen eine BK 2108 zu verneinen sei.

Dieser vom BSG entwickelte Mindestbelastungswert als Maßstab einer Untergrenze für die Notwendigkeit der Aufnahme medizinischer Ermittlungen lasse sich nicht auf das spezielle Beurteilungskriterium der „besonders intensiven Belastung“ übertragen, das auf dem in den Konsensempfehlungen erzielten (medizinischen) Konsens beruht. Das BSG habe in seiner Entscheidung vom 23. April 2015 (B 2 U 10/14 R) zwar die von dem LSG Sachsen (Urteil vom 28. Januar 2014 – L 6 U 111/11) auch im Hinblick auf das 2. Zusatzkriterium der B2-Konstellation vorgenommene Halbierung des MDD-Orientierungswertes auf 12,5 MNh nicht beanstandet. Es habe dabei aber auf die diesbezüglich unterschiedlichen Meinungen in Rechtsprechung und Literatur hingewiesen und ausgeführt, dass nicht erkennbar sei, dass der vom LSG Sachsen zugrunde gelegte wissenschaftliche Erfahrungssatz hinsichtlich der „besonders intensiven Belastung“ offenkundig falsch sei oder in der Wissenschaft allgemein angegriffen werde. Es bestehe zwar – so das BSG – aufgrund des durchaus kontroversen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse im konkreten Anwendungsfall der BK 2108 die Gefahr, dass Tatsachengerichte zur Feststellung unterschiedlicher Erfahrungssätze gelangen könnten, dies müsse dann jedoch revisionsrechtlich akzeptiert werden.

Besonders intensive Belastung i. S. d. BK 2110

Die besonders intensive Belastung sei hier auch nicht allein durch die Exposition im Sinne der BK 2110 erfüllt. Dabei gehe der Senat mit dem Sachverständigen Prof. Dr. N., der an den Konsensempfehlungen als Autor mitgewirkt hat, davon aus, dass das 2. Zusatzkriterium der Konstellation B2 auch auf die BK 2110 angewendet werden muss. Wie der Sachverständige in seiner Stellungnahme vom 30. April 2021 zutreffend ausführt, bezögen sich die Beurteilungskriterien in den Konsensempfehlungen auf bandscheibenbedingte Berufskrankheiten der LWS, wozu sowohl die BK 2108 als auch die BK 2110 gehören. An mehreren Stellen in den Konsensempfehlungen werde die BK 2110 erwähnt (vgl. u. a. Teil (I) „Zusammenfassung“, S. 213, und Teil (II) „Belastungsrichtwerte für die BK 2110“, S. 324). Anhaltspunkt für die besonders intensive Belastung bei Beurteilung des 2. Zusatzkriteriums im Rahmen der BK Nr. 2110 sei das Erreichen des Richtwerts an Ganzkörperschwingungsbelastung, bei dem angesichts der Expositionsdauer ein erhöhtes Risiko für die LWS anzunehmen ist, in weniger als 10 Jahren.

Nach den Berechnungen des Präventions­dienstes von Februar 2011 im Verwaltungsverfahren sei der Dosisrichtwert von Dv 1450 (m/s2)2 für eine solche Schwingungsbelastung in den 16 Dosisjahren in Kasachstan zwar um 20 % überschritten, in 10 Jahren wurden aber nur etwa 75 % dieses Dosisrichtwertes erreicht.

Besonders intensive Belastung i. S. d. Kombinationseinwirkung

Der Kläger habe nach Auffassung des Senats indes den Alpha-Richtwert von 1,0 für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren erreicht, bei dem nach den Darlegungen des Präventionsdienstes bei einer Mischbelastung aus Heben und Tragen oder extremer Rumpfbeugehaltung sowie Ganzkörperschwingungen ein erhöhtes Risiko für die LWS nicht auszuschließen ist. Dieser Belastungsrichtwert bei einer Kombinationsbelastung der BK 2108 und BK 2110 sei nach Auffassung des Senats für die Beurteilung einer besonders intensiven Belastung im Sinne des 2. Zusatzkriteriums maßgeblich, denn die Einwirkungen durch die vertikalen Ganzkörperschwingungen und durch Tätigkeiten mit schwerem Heben und Tragen seien zusammen zu betrachten.

Nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand seien bei der Festlegung von Belastungsgrenzwerten, die im Verlauf der versicherten Berufstätigkeit mindestens erreicht worden sein müssten, damit ein rechtlich relevanter Ursachenzusammenhang mit der späteren Erkrankung angenommen werden könne, synergetische und additive Wirkungen zu berücksichtigen, die sich beim Zusammentreffen mehrerer schädlicher Einwirkungen ergäben. Nach derzeitigem Stand der arbeitsmedizinischen Erkenntnisse sei es nicht möglich, bei einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS die unterschiedlichen Einwirkungen im Sinne der BK 2108 und BK 2110 hinsichtlich ihres Beitrags zur Entstehung der Krankheit sowie den Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten voneinander zu trennen.

Für den Zeitraum vom 1. Januar 1975 bis 30. April 1991 war der Kläger sowohl Belastungen durch vertikale Ganzkörperschwingungen als auch Belastungen durch Tätigkeiten mit schwerem Heben und Tragen von Lasten ausgesetzt. Nach der vom Senat angeforderten Berechnung der Kombina­tionsbelastung für die BK‘en 2108 und 2110 ergäbe sich für den gesamten Zeitraum von ca. 15 Jahren und vier Monaten ein kumulierter Belastungsgrad mit einem Alphawert insgesamt von 1,571. Dieser Wert liegt über dem Alpha-Richtwert von 1,0, bei dem ein erhöhtes Risiko für die LWS nicht auszuschließen ist, das durch eine Mischbelastung verursacht wird.

Die betreffende Tabelle ermögliche durch die dort aufgeführten Daten beziehungsweise im Einzelnen errechneten Belastungsgrade auch die Ermittlung der Kombinationsbelastung für einen 10-Jahres-Zeitraum. Der Senat sei beim vorhandenen Datenmaterial nicht daran gehindert, diese ihm möglichen Berechnungen vorzunehmen. Die Tatsache, dass nach den Angaben des Präventionsdienstes die vorhandene Software des Instituts für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) keine weiteren Berechnungen zulasse, darf der Ermittlung auf andere Art und Weise nicht entgegenstehen. Nach der Berechnungstabelle vom 27. Mai 2020 läge eine besonders erhebliche Exposition sowohl durch Heben und Tragen als auch durch Schwingungen in dem Zeitraum von 3,5 Jahren vom 1. Juli 1985 bis zum 31. Dezember 1988 vor. Allein für diesen Zeitraum ermittele sich ein Belastungsgrad von 0,557 (= 0,499 + 0,058). Im Zeitraum vom 1. Januar 1979 bis zum 30. Juni 1985 (6,5 Jahre) ergäbe sich nach den Werten in der betreffenden Tabelle ein Belastungsgrad von 0,469 (= 0,758 x 650 : 10,5). Insgesamt sei damit in einem 10-Jahres-Zeitraum vom 1. Januar 1979 bis zum 31. Dezember 1988 ein Belastungsgrad von 1,026 (= 0,557 + 0,469) festzustellen und damit ein Wert, der über dem Alpha-Richtwert von 1,0 liege und eine besonders intensive Belastung im Sinne des 2. Zusatzkriteriums der Konstellation B2 indiziere.

Konstellation B3 bei Kombinationsbelastung

Der Senat wies im Übrigen darauf hin, dass selbst dann, wenn man das 2. Zusatzkriterium der Konstellation B2 nicht als erfüllt ansehen wolle, im vorliegenden Fall der ursächliche Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und Erkrankung als hinreichend wahrscheinlich zu bewerten wäre. Prof. Dr. N. habe in seinem Gutachten schon darauf hingewiesen, dass in diesem Fall die Konstellation B3 der Konsensempfehlungen in Betracht zu ziehen ist.

Bei dieser Konstellation („wie Konstellation B2, aber keines der unter B2 genannten Zusatzkriterien erfüllt“) bestand unter den Autoren kein Konsens hinsichtlich der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs. Dies sei aber nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 23.April 2015 – B 2 U 6/13 R – juris Rn. 26) nicht so zu deuten, dass damit eine Anerkennung des Verursachungszusammenhangs im Einzelfall unmöglich wäre. Vielmehr sei im Rahmen einer Einzelfallprüfung abzuwägen, ob die Erkrankung ohne die in der Konstellation B2 genannten Zusatzkriterien durch die berufliche Exposition verursacht werden konnte.

Im konkreten Fall lasse sich ein deutliches Überwiegen der Indizien feststellen, die für den beruflichen Zusammenhang sprächen. Dabei imponiere bei Fehlen außerberuflich bedingter konkurrierender Ursachenfaktoren insbesondere die beruflich bedingte Belastung der LWS während des Arbeitslebens des Klägers. Allein durch schweres Heben im Sinne der BK 2108 läge mit einer Gesamtbelastungsdosis im gesamten Berufsleben des Klägers von 25,9 MNh eine mehr als doppelt so hohe Exposition vor, wie sie das BSG voraussetzt, um eine berufliche Verursachung zu diskutieren.

Zum anderen sei die LWS des Klägers eben nicht nur durch dieses schwere Heben belastet worden, sondern auch durch vertikale Schwingungen im Sinne der BK Nr. 2110. Auch bei dieser Exposition überschreite er mit der ermittelten Gesamtdosis wie ausgeführt den Dosis-Richtwert, bei dem angesichts der Expositionsdauer ein erhöhtes Risiko für die LWS anzunehmen ist. Schließlich gelte dies nach den Berechnungen des Präventionsdienstes auch für die Kombinationsbelastung aus schwerem Heben und Ganzkörperschwingungen, die deutlich über dem Alpha-Richtwert läge, bei dem ein erhöhtes Risiko für die LWS anzunehmen ist.

Diese extreme berufliche Belastung für die LWS werde durchaus durch die medizinischen Befunde gestützt, insbesondere auch durch die frühen Befunde nach 10 bis 15 Jahren Berufstätigkeit in Kasachstan beziehungsweise der früheren UdSSR. Prof. Dr. N. habe in seinem Gutachten zutreffend ausgeführt, dass der Kläger seit Ende der 1980er Jahre, das heißt in einem Alter von unter 40 Lebensjahren, schon Beschwerden im Bereich der unteren LWS hatte, und auf den Bericht aus der neurologischen Abteilung des Reha-Zentrums Q. in der UdSSR hingewiesen. Dort wurde der Kläger vom 12. Dezember 1989 bis zum 12. Januar 1990 behandelt und eine Lumbal-Osteochon­drose mit ausgeprägtem Schmerzsyndrom und „vermindertem Rückblutkreislauf“ diagnostiziert. Bei der körperlichen Untersuchung fand sich eine Hypästhesie L5/S1. Röntgenologisch wurde eine Osteochondrose mit mäßigem Abbau der Zwischenwirbelscheibe L5/S1 diagnostiziert. Schließlich habe die weitere erhebliche Wirbelsäulenbelastung durch die Tätigkeit nach der Einreise in die Bundesrepublik zu einer frühzeitigen Berufsaufgabe des Klägers im Jahr 2008 im Alter von 56 Lebensjahren
geführt.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

doi:10.17147/asu-1-161089

Kontakt

Reinhard Holtstraeter
Rechtsanwalt; Lorichsstraße 17; 22307 Hamburg

Foto: privat

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