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Interview

Weiterentwicklung der arbeits­medizinischen Vorsorge

Advancement in Occupational Health Care

ASU: Herr Prof. Kraus, Herr Dr. Panter, warum haben Sie eine Diskussion über „Ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge“ angestoßen?

TK: Die arbeitsmedizinische Vorsorge hat sich mit Inkrafttreten der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) und bis heute deutlich weiterentwickelt – aber oft konzentriert sich die Umsetzung in der Praxis immer noch weitgehend auf den Vorsorgeanlass und damit auf unmittelbar verbundene gesundheitliche Beeinträchtigungen. Die Chancen der arbeitsmedizinischen Vorsorge werden so noch nicht umfassend genutzt.

WP: Wenn arbeitsmedizinische Vorsorge dagegen ganzheitlich ausgerichtet und praktiziert wird, können Beschäftigte, Betriebsärztinnen und -ärzte auch weitere gesundheitliche und arbeitsplatzbezogene Probleme besprechen und bei Bedarf Weichen in Richtung gesunder Arbeitsgestaltung, gesunder Lebensführung, Diagnostik, kurativer Weiterbetreuung und eventuell auch für Maßnahmen zur Rehabilitation und Teilhabe stellen. Besonders wichtig ist dabei die Berücksichtigung möglicher psychischer Belastungen und der psychischen Gesundheit der Beschäftigten. Oft spricht man nur unter dem Schutz ärztlicher Schweigepflicht offen über diese Themen – besonders häufig übrigens in der Wunschvorsorge.

ASU: Zu den Ergebnissen Ihrer Diskussion gehört die neue arbeitsmedizinische Regel (AMR 3.3) „Ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge“. Was soll damit erreicht werden?

TK: Die ArbMedVV formuliert eigentlich Vorgaben für eine ganzheitlich ausgerichtete Vorsorgepraxis, die ja auch in manchen Betrieben schon mit hoher Akzeptanz umgesetzt wird. Andererseits gibt es nicht nur Umsetzungsdefizite, sondern sogar unter Fachleuten deutlich unterschiedliche Auslegungen und Sichtweisen zum Thema. Das zeigen unter anderem Aupers und Liebers in ihrem wissenschaftlichen Beitrag in diesem Schwerpunktheft auf. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und sein beratender Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed) wollen deshalb mit der neuen AMR Impulse für ein gemeinsames, ganzheitliches Verständnis und eine Aufwertung arbeitsmedizinischer Vorsorge geben – wie es auch von Oppen und Hoffmann in ihrem Beitrag in dieser ASU-Ausgabe ausführen.

ASU: Was kann diese „Ganzheitlichkeit“ für die Vorsorgepraxis bedeuten?

WP: Für die Gesundheit der Beschäftigten können alle Arbeitsbedingungen bedeutsam sein. Die Anam­nese sollte deshalb unter anderem auch die subjektive Sicht auf die Arbeitsgestaltung und Arbeitsbelastung, zugleich auch Aspekte der psychischen Gesundheit berücksichtigen. Derartige Fragen können für Beschäftigte in allen Branchen wichtig und wertvoll sein, und betriebsärztliche Erkenntnisse aus der Anamnese und den Beratungsgesprächen können Anlass einer Überprüfung der Gefährdungsbeurteilung sein. Ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge soll sowohl zur Gesunderhaltung der oder des einzelnen Beschäftigten als auch durch Erkenntnisgewinn zur Verbesserung des Arbeitsschutzes im jeweiligen Arbeitsbereich beitragen.

ASU: Bedeutet „Ganzheitlichkeit“, dass auch die „gesamte Gesundheit“ Gegenstand der Vorsorge sein sollte?

TK: Ja, denn es geht uns um die Wechselbeziehungen von Arbeit und Gesundheit. Auch die Folgen von Privatunfällen oder chronische Erkrankungen ohne unmittelbaren Arbeitsbezug – zum Beispiel eines Diabetes mellitus – können zu einer Gefährdung der Beschäftigungsfähigkeit führen und sollten deshalb im Rahmen ganzheitlicher Vorsorge berücksichtigt werden. Beschäftigte erwarten zu Recht dabei auch Antworten auf ihre Fragen, wie beispielsweise zu erforderlicher weiterer Diagnostik und Behandlung, zu Rehabilitationsmaßnahmen oder zur betrieblichen Gesundheitsförderung. Individuelles Eingehen auf die Gesundheit der Beschäftigten und ihre Fragen dazu gehört ohnehin zu den Grundsätzen ärztlichen Handelns!

ASU: Das praktizieren viele Betriebsärztinnen und -ärzte doch längst ...

WP: Ja, natürlich. Allerdings ist die Vorstellung, dass sich arbeitsmedizinische Vorsorge auf die unmittelbar gefährdungsbezogenen Aspekte der Gesundheit beschränken sollte, immer noch verbreitet. Das war früher auch nachvollziehbar – denn am Ende jeder arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung erfolgte ja eine betriebsärztliche Mitteilung an den Arbeitgeber über mögliche gesundheitliche Bedenken gegen die Aufnahme oder Fortsetzung der jeweiligen Tätigkeit. Das ist dank der Neuausrichtung der Vorsorge durch die ArbMedVV Vergangenheit. Die AMR 3.3 konkretisiert und erläutert jetzt besonders solche Vorgaben der ArbMedVV, die bisher durch langjährig andere betriebsärztliche Routine, die früheren „Grundsätze“, aber auch durch tradierte Erwartungen unserer betrieblichen Partner noch nicht durchgängig die Vorsorgepraxis bestimmen.

ASU: Ist jetzt auch die betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) Bestandteil arbeitsmedizinischer Vorsorge?

TK: Die betriebsärztliche Beratung der Beschäftigten, auch zur BGF, ist Bestandteil arbeitsmedizinischer Vorsorge. Auch Arbeitgebern raten wir, ihren Beschäftigten freiwillig gesundheitsförderliche Programme unter Berücksichtigung der Arbeitsbedingungen zugänglich zu machen beziehungsweise in Abstimmung mit Krankenversicherungen anzubieten. Im Beratungsgespräch mit den Beschäftigten können dann sinnvolle BGF-Maßnahmen individuell ärztlich empfohlen beziehungsweise konkret vermittelt werden.

WP: Allerdings sind Durchführung und Finanzierung von BGF-Programmen im Sozialgesetzbuch (SGB) V geregelt und selbst nicht Bestandteil arbeitsmedizinischer Vorsorge. In Kombination individueller betriebsärztlicher Beratung und attraktiver BGF-Programme kann aber das Präventionssetting „Betrieb“ sehr gut auch für die allgemeine Prävention genutzt werden. Wir erreichen sehr viele Menschen, die sonst keine Vorsorgeangebote wahrnehmen. Die im Präventionsgesetz vorgesehenen Mittel ermöglichen einen niederschwelligen Zugang von Beschäftigten zu den BGF-Programmen.

ASU: Nach wie vor werden seitens der Betriebe häufig betriebsärztliche Beurteilungen der Eignung von Beschäftigten für Tätigkeiten mit besonderen gesundheitlichen Anforderungen nachgefragt. Sollte das nicht auch Teil eines ganzheitlichen Konzepts arbeitsmedizinischer Vorsorge sein?

WP: Wenn bei der Gefährdungsbeurteilung Gefährdungen ermittelt werden, die im Anhang der ArbMedVV nicht genannt sind, sollen Betriebsärztin oder Betriebsarzt und Arbeitgeber beraten, ob arbeitsmedizinische Vorsorge angezeigt ist. Das können zum Beispiel eine hohe psychische Belastung, die Exposition gegenüber einem im Anhang nicht aufgeführten Gefahrstoff, aber auch eine erhöhte Absturzgefährdung, besonders gefährdende Fahrtätigkeiten oder auch die Einführung neuer Arbeitsverfahren sein. In solchen Fällen bietet sich an, den Beschäftigten die Wunschvorsorge anzubieten und aktiv zu bewerben. Natürlich muss die Teilnahme daran freiwillig sein, und die in der ArbMedVV geregelten Rechte und Pflichten müssen beachtet werden. Ärztliche Eignungsbeurteilungen im Auftrag des Arbeitgebers gehören dagegen nicht zur arbeitsmedizinischen Vorsorge.

ASU: Aber Arbeitgeber sind doch auch nach einigen Arbeitsschutzvorschriften – zum Beispiel dem Arbeitsschutzgesetz, der Betriebssicherheitsverordnung oder Vorschriften der Unfallversicherungsträger – verpflichtet, bei der Übertragung von Aufgaben die Befähigung oder Eignung der Beschäftigten zu berücksichtigen! Sollten sie dabei nicht betriebsärztlich unterstützt werden?

TK: Die Verpflichtungen von Arbeitgebern zur Berücksichtigung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Eignung für bestimmte Tätigkeiten beschränkt sich auf die Beachtung der offenkundigen Befähigung und gesundheitlichen Verfassung von Beschäftigten, soweit sie im Rahmen betrieblicher Zusammenarbeit ohne medizinische Fachkenntnisse beurteilbar ist. Und auch aus einer Gefährdungsbeurteilung kann keine Veranlassung einer ärztlichen Eignungsbeurteilung abgeleitet werden.

ASU: Die neue Regel betont auch die Verpflichtung zur Auswertung betriebsärztlicher Erkenntnisse. Bisher werden die Ergebnisse arbeitsmedizinischer Vorsorge ja eher selten ausgewertet ...

WP: Als Hürden werden von den Kolleginnen und Kollegen immer wieder der Zeitmangel, aber auch Bedenken der betrieblichen Partner oder des Datenschutzes genannt. Die Auswertung der bei arbeitsmedizinischen Untersuchungen gewonnenen Befunde und Erkenntnisse war aber schon immer eine maßgebliche Grundlage für die Ableitung von Arbeitsschutzmaßnahmen auf betrieblicher Ebene, aber auch zur überbetrieblichen Bewertung und Einstufung gesundheitlicher Gefährdungen – und natürlich zur Ableitung von Grenzwerten für den technischen Arbeitsschutz.

Daneben werten solche anspruchsvollen Aufgaben die Arbeitsmedizin in der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation, aber auch unter den medizinischen Fachdisziplinen auf. Das trägt auch zur Attraktivität betriebsärztlicher Tätigkeit bei!

ASU: Ist es denn realistisch, dass zukünftig betriebsärztliche Erkenntnisse bei begrenzten Ressourcen häufiger ausgewertet werden?

TK: Betriebsärztliche Auswertungen werden nicht in kurzer Zeit, sondern nach und nach zur Routine werden. Zu den Erfolgsbedingungen gehört eine auswertungsgerechte betriebsärztliche Dokumentation. Den Aufwand für die Auswertungen sollte man auch nicht überschätzen – oft ist eine deskriptive Analyse als Grundlage für betriebliche Entscheidungen ausreichend und überzeugend. Bei der Umsetzung unterstützt die neue Arbeitsmedizinische Empfehlung (AME) „Auswertung betriebsärztlicher Erkenntnisse“, die eine Reihe praktischer Auswertungsbeispiele enthält, die auch in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) realisierbar sind. Auch eine aktuelle Überprüfung vereinbarter beziehungsweise angemeldeter Vorsorgetermine, die Bündelung mehrerer Vorsorgeanlässe in einem Termin oder der ohnehin gebotene Verzicht auf Eignungsuntersuchungen ohne Rechtsgrundlage könnte Spielraum für betriebsärztliche Auswertungen schaffen. Ganzheitliche Vorsorge bedeutet nach unserem Verständnis auch, dass Vorsorgeintervalle individuell auf Grundlage erhobener Befunde und des Beratungsgesprächs festgelegt werden. Wir sollten noch einmal gemeinsam diskutieren, wie wir die Bündelung von Vorsorgeterminen angemessen fördern können.

ASU: Eine breitere Berücksichtigung der Arbeitsbedingungen, die Einbeziehung der psychischen Gesundheit, viele Beratungsthemen, Erhebung, Dokumentation und Auswertung von Gesundheitsdaten – erfordert das mit Blick auf ArbMedVV und Datenschutz zukünftig die individuelle, schriftliche Einwilligung der Beschäftigten in die arbeitsmedizinische Vorsorge?

WP: Nein. Die arbeitsmedizinische Regel konkretisiert die Verordnung, die keine individuelle schriftliche Einwilligung vorsieht. Das ist gut für die Akzeptanz und Teilnahmebereitschaft der Beschäftigten! Übrigens erwähnt die Datenschutz-Grundverordnung die Arbeitsmedizin ausdrücklich – enthält aber keine von der ArbMedVV abweichende Vorgabe zu dieser Frage.

ASU: Entsprechen die Regelungen zur arbeitsmedizinischen Vorsorge jetzt mit der neuen Regel dem wissenschaftlichen Kenntnisstand?

TK: Wir haben heute – auch im internationalen Vergleich – ein sehr fortschrittliches System arbeitsmedizinischer Vorsorge. Aber unser Wissen nimmt zu – und unser Ziel muss es sein, auch die arbeitsmedizinische Vorsorge evidenzbasiert weiterzuentwickeln. Die Grundlagen dafür können wir in enger Kooperation von arbeitsmedizinischer Wissenschaft und Praxis schaffen. Einige der Beiträge in diesem Schwerpunktheft geben dazu bereits Anregungen.

WP: Im oben bereits erwähnten Beitrag von Aupers und Liebers wird deutlich, wie unterschiedlich die Ausgangspositionen der Expertinnen und Experten im AfAMed zur ganzheitlichen Vorsorge vor Beginn der Beratungen waren. Dass wir als Ergebnis unserer Diskussion jetzt eine einstimmig verabschiedete Regel haben, stimmt uns zuversichtlich für unseren weiteren Austausch und unser Ziel, einen guten Gesundheitsschutz an allen Arbeitsplätzen und für alle Beschäftigten zu gewährleisten.

ASU: Herr Dr. Panter, Herr Prof. Kraus, herzlichen Dank für das Gespräch!

doi:10.17147/asu-1-266298

Dr. med. Wolfgang Panter, Präsident des VDBW

Foto: Guido Kollmeier

Dr. med. Wolfgang Panter, Präsident des VDBW

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