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Work-supporting exoskeletons for people with severe disabilities – A project of inclusion/integration offices in Germany with the Fraunhofer IPA
In a joint project with 13 inclusion/integration offices and the Fraunhofer IPA, it is being determined whether and to what extent people with disabilities can be supported by exoskeletons in their professional activities. In addition to systematic selection, a process is being developed to design implementation and evaluation in the work environment. To ensure quality, tools, checklists, and training materials are being created to guarantee successful exoskeleton integration.
Kernaussagen
Arbeitsunterstützende Exoskelette für Menschen mit Schwerbehinderung – Ein Projekt von Inklusions-/Integrationsämtern in Deutschland mit dem Fraunhofer IPA
In einem gemeinsamen Projekt mit 13 Inklusions-/Integrationsämtern und dem Fraunhofer IPA wird ermittelt, ob und inwiefern Menschen mit Schwerbehinderung von Exoskeletten bei ihrer beruflichen Tätigkeit unterstützt werden können. Neben der systematischen Auswahl wird ein Prozess entwickelt, wie die Implementierung und Evaluation im Arbeitsumfeld gestaltet werden kann. Zur Qualitätssicherung entstehen Hilfsmittel, Checklisten und Schulungsmaterialien, um eine erfolgreiche Integration zu gewährleisten.
Hintergrund
Exoskelette sind körpergetragene technische Systeme, die das Ziel haben, Bewegungen oder Haltungen bei der körperlichen Arbeit zu unterstützen. Im Rahmen des TOP-Prinzips, sind sie als personenbezogene (P) Maßnahme einzuordnen und können als Chance zur körperlichen Entlastung betrachtet werden, wenn technische (T) und organisatorische (O) Maßnahmen nicht ausreichen oder nicht umsetzbar sind.
Technisch wird in erster Linie zwischen zwei Kategorien von Exoskeletten unterschieden: „passiv“ (Feder-Dämpfer-Systeme) und „aktiv“ (elektromechanischer oder pneumatischer Antrieb mit externer Energiezufuhr). Die Unterkategorie „softe Exoskelette“ (international häufig „Exosuits“ genannt) umfasst Systeme aus elastischen oder textilen Bändern, die keine starren Elemente im Kraftfluss enthalten. Weitere Unterscheidungsmerkmale sind in ➥ Abb. 1 zusammengestellt.
Auf dem Markt befinden sich derzeit mehr als 100 verschiedene, kommerziell erhältliche Exoskelette. Je nach individuellem Unterstützungsbedarf und örtlichen oder prozessualen Rahmenbedingungen, können die verschiedenen technischen Eigenschaften einzelner Exoskelette vorteilhaft sein. Eine Herausforderung liegt häufig darin, das am besten geeignete System zu identifizieren. Darüber hinaus ist die Akzeptanz der Tragenden ein entscheidendes Kriterium für den regelmäßigen Einsatz und den erfolgreichen Nutzen von Exoskeletten bei der Arbeit. Hierbei spielen auch die Krankheitsgeschichte und allgemein die körperlichen Beschwerden der Tragenden eine wichtige Rolle (Elprama et al. 2022).
Der Großteil kommerzieller Exoskelette zielt darauf ab, den Rumpf oder die Schultern zu unterstützen. Im Zusammenhang von Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung sind aber häufig auch andere Bereiche, wie zum Beispiel die Griffkraft unterstützende Exoskelette, vorteilhaft.
Exoskelette für Menschen mit Schwerbehinderung
Industrielle Exoskelette – also Systeme, die zur Unterstützung bei körperlich belastender Arbeit entwickelt wurden – verfügen in der Regel nicht über eine Zulassung als Medizinprodukt. Ihr primärer Einsatzzweck liegt daher nicht im Ausgleich individueller, körperlicher Behinderungen, sondern in der physischen Entlastung von Beschäftigten im Arbeitsalltag zur Primärprävention. Laut Empfehlung der AWMF-Leitlinie „Einsatz von Exoskeletten im beruflichen Kontext zur Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention von arbeitsassoziierten muskuloskelettalen Beschwerden“ können Exoskelette aber durchaus zur Sekundär- und Tertiärprävention erwogen werden (Steinhilber et al. 2020). Auf Grundlage der derzeitigen Studienlage lässt sich keine fundiertere Empfehlung aussprechen. Die Ergebnisse dieses Projekts sollen auch dazu beitragen, die bislang noch begrenzte Datenlage zu erweitern und somit die Evidenzbasis zu stärken.
Ein wesentlicher Auftrag der Inklusions-/Integrationsämter ist es, die Beschäftigung von Menschen mit Schwerbehinderung und ihnen Gleichgestellten zu sichern und zu fördern. Auf der Grundlage des § 185 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Nr. 4 Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung (SchwbAV) unterstützen dreizehn Integrations-/Inklusionsämter dieses Projekt mit dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA). Gemeinsam gehen sie der Frage nach, ob Exoskelette eine geeignete Maßnahme sein können, um Menschen mit Schwerbehinderung bei ihrer Tätigkeit zu entlasten, Auswirkungen von Behinderungen zu kompensieren und somit die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Hierbei besteht eine zentrale Herausforderung darin, eine strukturierte Vorauswahl geeigneter Systeme treffen zu können. Dies ermöglicht eine effiziente Prüfung, ob die jeweiligen Funktionsweisen grundsätzlich zur individuellen Unterstützung von Beschäftigten geeignet sind. Deshalb ist es entscheidend, einen strukturierten Entscheidungsprozess für den Einsatz von Exoskeletten bei Beschäftigten mit Schwerbehinderung zu entwickeln.
Hierbei sollen geeignete Exoskelettsysteme identifiziert werden und Möglichkeiten für deren bedarfsgerechte Einführung in das jeweilige Arbeitsumfeld erarbeitet werden. Damit solche Prozesse erfolgreich sind, müssen neben zentralen Akteuren wie Schwerbehindertenvertretungen (SBV) und Fachkräften für Arbeitssicherheit auch Medizinerinnen und Mediziner frühzeitig in Entscheidungsprozesse und die begleitende Umsetzung einbezogen werden.
Um eine strukturierte Vorgehensweise auch über das Projektende hinaus für zukünftige Fälle zu etablieren, werden aus vorausgegangenen Erfahrungen und durch fortlaufende Gespräche Hilfsmittel wie Checklisten und Schulungsmaterialien entwickelt. Letztlich sollen diese Informationen den Technischen Beratungsdiensten (TBD) der Inklusions- und Integrationsämter eine strukturierte Entscheidungsgrundlage liefern, um beurteilen zu können, ob Exoskelette als potenzielle Hilfsmittel in Betracht gezogen werden können. Aufgrund der Sensibilität krankheitsbezogener Daten der Beschäftigten ist die Beachtung ethischer Richtlinien von zentraler Bedeutung. Insbesondere für eine Datenschutz-Grundverordnung- (DSGVO-)konforme Kommunikation und Datenübermittlung wurden entsprechende Prozesse sowie technische Voraussetzungen geschaffen.
Innerhalb des Projekts sollen 20 Fälle aus den Bundesländern der teilnehmenden Inklusions-/Integrationsämtern mit begleiteten Testphasen in Form von Einzelfallstudien durchgeführt werden. Zur möglichst effizienten Identifikation geeigneter Fälle von Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung, die von einem Exoskelett profitieren können, wurde ein Prozess definiert, der im Folgenden näher erläutert wird.

Benötigt eine Beschäftigte oder ein Beschäftigter mit anerkannter Schwerbehinderung Unterstützung am Arbeitsplatz, wendet sich die Firma, beispielsweise durch die SBV, an den TBD des zuständigen Inklusions-/Integrationsamtes (➥ Abb. 2). Der TBD prüft geeignete Maßnahmen nach dem TOP-Prinzip. Sollte sich herausstellen, dass die technischen oder organisatorischen Maßnahmen nicht ausreichend oder nicht anwendbar sind, gilt es zu überprüfen, ob ein Exoskelett als Unterstützung eingesetzt werden kann. Hier wird zunächst die im Rahmen des Projekts entwickelte Checkliste angewendet, um eine erste Einschätzung der Eignung eines Exoskeletts für die betreffende Person zu erhalten. Für die weiteren Schritte kann sich der TBD innerhalb des Modellprojekts an das Projektteam des Fraunhofer IPA wenden.
Gemeinsam werden nun vier Phasen für die weitere Exoskelettauswahl, -implementierung und -evaluation durchlaufen (➥ Abb. 3).
Darüber hinaus sollen weitere Befragungen gegen Ende der Projektlaufzeit durchgeführt werden, um die langfristige Nutzung von Exoskeletten und deren Effekte zu erfragen.

Erste Erfahrungen aus der Praxis
Innerhalb des Projekts werden 20 Fälle angestrebt, bei denen ein Exoskelett für eine Laufzeit von zunächst zwei Wochen unter kontrollierten Bedingungen in der Arbeitsumgebung getestet wird. In vorausgegangenen Einzelprojekten und aus diversen Vorgesprächen haben sich bereits einige Erfahrungswerte ergeben, die auch innerhalb des Projekts noch weiter analysiert werden sollen.
Identifizierung von Ein- und Ausschlusskriterien
Ein Beispiel, das zur Entwicklung einer Frage innerhalb der Checkliste beitrug, betraf einen jungen Mann, bei dem geprüft werden sollte, ob ein Schulterexoskelett zur Linderung seiner Schmerzen bei Überschulter-/Überkopfarbeiten beitragen könnte. Im Rahmen eines Videotelefonats stellte sich jedoch heraus, dass keine relevante Krafteinschränkung vorlag und die Schmerzen durch eine passive (verdachtsweise strukturelle) Bewegungseinschränkung verursacht wurde. Selbst bei vollständiger muskulärer Entlastung durch Ablegen des Arms traten die Beschwerden reproduzierbar ab einem bestimmten Schulterwinkel auf. Eine Reduktion der Beschwerden durch eine Entlastung des Armgewichts mit einem Schulterexoskelett ist bei passiven, schmerzhaften Bewegungseinschränkungen nicht zu erwarten. Stattdessen sollten arbeitsbezogene Maßnahmen abgeleitet werden, um schmerzhafte Schulterwinkelstellungen zu vermeiden.
Dieser Fall verdeutlicht, dass passive Bewegungseinschränkungen eine relevante Fragenkategorie darstellen, um das Einsatzpotenzial von Exoskeletten zu untersuchen. In diesem Fall wurde daher gegen einen Test mit einem Schulterexoskelett entschieden.
Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Akzeptanz
Nach Einschätzung des Projektteams aus vorausgegangenen Projekten und Gesprächen müssen auch psychosoziale Faktoren in dem Prozess der Auswahl und Implementierung von Exoskeletten berücksichtigt werden. Solche Faktoren, auch als „Yellow Flags“ bekannt, müssen stets mit Vorsicht und differenzierter Betrachtung bewertet werden, da sie nicht vorschnell einzelnen Personen zugeschrieben werden dürfen.
Auf der einen Seite kann eine sehr starke Motivation bestehen, jegliche Form vermeintlicher Unterstützung annehmen zu wollen, um die eigene Arbeitsfähigkeit zu erhalten – selbst dann, wenn die biomechanische Wirkweise von Exoskeletten nicht ausreichend oder nicht passgenau auf die tatsächlichen Arbeitstätigkeiten abgestimmt ist. Dies kann sich beispielsweise in Situationen äußern, in denen Beschäftigte die Sorge haben, keine neue oder alternative Anstellung mehr zu finden. Da potenziell nicht intendierte Effekte beim Einsatz von Exoskeletten nicht ausgeschlossen werden können und mitgedacht werden müssen, sollte eine Empfehlung für die Nutzung möglichst ausgewogen erfolgen und auch auf einer biomechanisch nachvollziehbaren Herleitung beruhen.
Auf der anderen Seite können arbeitskulturelle Faktoren auch zu einer grundsätzlichen Ablehnung führen – etwa dann, wenn befürchtet wird, dass sich durch arbeitserleichternde Hilfsmittel etablierte Rücksichtnahmen oder Freiräume im Arbeitsalltag verändern könnten. Aussagen von Teamleitenden wie „Er hat viele Jahre hart für die Firma gearbeitet und dabei seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt – wir sind einfach froh, dass er noch ein wenig mithelfen kann, da achten wir nicht auf bestimmte Quoten“ können beispielhaft dafür stehen.
Solche und andere „Yellow Flags“ sind nicht immer eindeutig zu erkennen und können von Außenstehenden falsch interpretiert werden. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass sie von außenstehenden Personen vorschnell Beschäftigten zugeschrieben werden.
Umso wichtiger ist eine bewusste Sensibilisierung für den potenziellen Einfluss individueller psychosozialer Faktoren und deren differenzierte Berücksichtigung im Entscheidungsprozess.
Ausblick
Ziel des Projekts ist es, Inklusions-/Integrationsämter dabei zu unterstützen, Exoskelette als geeignete Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben besser einordnen zu können. Dazu gehört insbesondere die Fähigkeit, den Einsatz von Exoskeletten in konkreten Fällen fundiert zu bewerten und passende Exoskeletttypen für unterschiedliche Anforderungen und Tätigkeitsprofile auszuwählen.
In einer Serie von Einzelfallstudien werden Daten zur Wirksamkeit, Akzeptanz und Praktikabilität verschiedener Exoskelettsysteme bei Menschen mit Schwerbehinderung gesammelt. Eine strukturierte, auch medizinische Begleitung fördert die Möglichkeit, die rasante technologische Entwicklung im Bereich der Exoskelette für den Einsatz bei Menschen mit Schwerbehinderung zu nutzen. Das methodische Vorgehen soll Inklusions- und Integrationsämter in ihrer Beratungspraxis unterstützen, indem es ermöglicht, gewonnene Erkenntnisse systematisch in den Alltag zu integrieren und so nachhaltig zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen beizutragen.▪
Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV): Gefährdungsbeurteilung für Exoskelette – Version 1.1 (Entwurf). Sankt Augustin: Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA), 2019. Verfügbar unter: https://www.dguv.de/medien/ifa/de/pra/ergonomie/gefaehrdungsbeurteilung… (abgerufen am 14.05.2025).
Elprama SA, Vanderborght B, Jacobs A: An industrial exoskeleton user acceptance framework based on a literature review of empirical studies. Appl Ergon 2022; 100: 103615. doi:10.1016/j.apergo.2021.103615.
Steinhilber B, Luger T, Schwenkreis P et al.: Einsatz von Exoskeletten im beruflichen Kontext zur Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention von arbeitsassoziierten muskuloskelettalen Beschwerden (S2k-Leitlinie, AWMF-Register Nr. 002/046, Version 1). Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V., 2020. Verfügbar unter: https://register.awmf.org/assets/guidelines/002-046l_S2k_Exoskelette_20… (abgerufen am 14.05.2025).
Online-Quellen
ASTM International: ASTM F3579-24 – Standard Practice for Considering and Deploying Exoskeletons for Return to Work. West Conshohocken, PA: ASTM International; 2024
https://www.astm.org/f3579-24.html
Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – (SGB IX); Stand: 22. Dezember 2023, überarb. Auflage
https://www.arbeitsagentur.de/datei/dok_ba015587.pdf

(Quelle: Fraunhofer IPA, Urban Daub, Verena Kopp)
Koautorinnen und Koautoren
Alle Koautorinnen und Koautoren sind Mitarbeitende des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA, Stuttgart.