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Arbeitsschutz

Aktuelles aus dem Arbeits- und Gesundheitsschutz

Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

– Folge 5 –

Ein Kongress greift aktuelle Themen auf und ist eine wichtige Momentaufnahme und Austauschplattform. Der im Oktober 2022 in Stuttgart stattgefundene Kongress der Fachvereinigung Arbeitssicherheit1 im Rahmen der Arbeitsschutz Aktuell ist ein gutes Beispiel dafür. Hier wurden aktuelle Schlüsselthemen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes angesprochen. Es zeigte sich, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz bei allen Themen umfassend betrachtet werden muss, die Ursachen vielschichtig sein können und Lösungen in die allgemeinen Abläufe integriert werden müssen. Für die Erreichung des Schutzziels ist es wesentlich, dass bei den Beteiligten eine Akzeptanz bei der Vorgehensweise besteht. Dadurch gewinnt der Arbeits- und Gesundheitsschutz weiter an Bedeutung und kann dazu beitragen, die Bindung der Beteiligten an das Unternehmen zu stärken. Dies ist bei dem heutigen Arbeitsmarkt ein nicht zu unterschätzender Benefit.

Wir möchten Ihnen einige der auf dem Kongress angesprochenen Themen in einer ASU-Serie in loser Reihenfolge vorstellen. Wo möglich verbinden wir diese mit weiteren aktuellen Aspekten und möchten zur interdisziplinären Diskussion anregen.

Im Beitrag von Christoph Preuße geht es um den Umgang mit Gefährdungen sowie dem subjektiven und objektiven Risiko.

Subjektives und objektives Risiko

News from Occupational Health and Safety (Part 5): Subjective and Objective Risk

Gefahr und Gefährdung

In der Begründung zum Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) finden sich die Definitionen und Erläuterungen zu beiden Begriffen (Deutscher Bundestag 1996, s. „Weitere Infos“). Sie beschreiben sehr gut die Zusammenhänge der Begrifflichkeiten:

In der täglichen Arbeit im Unternehmen kommt man insbesondere bei der Beurteilung der Gefährdungen gut mit diesen Begriffen zurecht – Technische Regeln sowie Regeln und Informationen der Unfallversicherungsträger unterstützen hierbei.

Für die Erarbeitung von Regelungen und Informationen ist es jedoch sehr wichtig, das Risiko (als quantitative Größe) möglichst gut einschätzen zu können. Wie aber kann hier das Risiko als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Ausmaß des möglichen Schadens eingeschätzt werden?

Bei der Einschätzung wird grundsätzlich zwischen zwei Arten von Risiko unterschieden:

  • dem objektiven Risiko, das prinzipiell errechenbar ist, und
  • dem subjektiven Risiko, das sich auf der Grundlage des individuellen Handelns von Personen ermitteln lässt.
  • Derzeit wird, aus Sicht des Autors richtigerweise, gefordert, dass das Risiko auf der Grundlage einer Evidenz, das heißt wissenschaftsbasiert, ermittelt werden soll. Hier fließen beide oben genannten Arten von Risiko ein.

    Objektives Risiko

    Objektives Risiko wird durch Ermittlung und Evaluation, von Daten und Fakten und dem anschließenden Konsens aller beteiligten Kreise (Arbeitgeber, Beschäftigte, Länder, Unfallversicherungsträger, Wissenschaft) bestimmt. Die Ergebnisse sind in der Normung, in Technischen Regeln, Regeln der Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) etc. zu finden.

    Wahrscheinlichkeiten von objektiven Risiken sind prinzipiell errechenbar. Sie sind nie „Null“, und damit begründet sich auch der Satz: „Eine absolute Sicherheit bei der Arbeit im Sinne eines Ausschlusses jedweder Gefährdung ist nicht möglich“.

    Die Berechenbarkeit ist jedoch, um evidenzbasiert durchgeführt zu werden, in der Praxis nicht trivial: Die Errechnung von (objektiven, frequentistischen) Statistiken erfordert sehr gut identifizierte Basiswerte (Grundgesamtheiten) und genaue Aufgliederungen des betrachteten Falls. Die Fälle müssen gleichartig sein, um repräsentativ zu sein; das heißt, dass es nicht ausreicht, Unfälle an einem Arbeitsmittel X einfach aufzuaddieren. Vielmehr müssen sie auch in Relation zu der insgesamt vorhandenen Anzahl des Arbeitsmittels X in Deutschland (Grundgesamtheit) und zu den am Arbeitsmittel X geleisteten Verwendungszeiten (Exposition) sowie dem zugehörigen Ausmaß der Verletzung gesetzt werden.

    Subjektives Risiko

    Subjektiv betrachtet zeichnet sich das Risiko auf der Grundlage des individuellen Handelns von Personen ab. Das Empfinden subjektiven Risikos stammt daher aus sozialen Festlegungen und eingeübtem Verhalten, also einer Sicherheitskultur (➥ Abb. 1).

    Auch hier lässt sich der Grad an Wahrscheinlichkeit berechnen, der zu einer Gefährdung führt. Zwei Fälle lassen sich unterscheiden:

  • Das Prinzip der Bayes-Statistik ist es, dass man eine A-priori-Annahme trifft. Bevor Daten gesammelt werden, wird also eine Annahme getroffen, wie sich die beobachteten Ereignisse verhalten werden. Mit den gesammelten Daten wird die Annahme „aktualisiert“ (A-posteriori-Annahme). Dies bedeutet, dass, auch wenn die A-priori-Annahme falsch ist, die A-poste­riori-Annahme mit genügend Daten „richtig“ werden wird.
  • Problematisch ist bei Nutzung nur weniger Daten zur Aktualisierung der A-priori-Annahme, dass die A-posteriori-Annahmen dann stark von den A-priori-Annahmen beeinflusst werden. Wenn dann zusätzlich die A-priori-Annahmen nicht auf vorherigen Erkenntnissen beruhen, sondern auf rein subjektiven Einschätzungen, wird die Anwendung der Bayes-Statistik problematisch.

    Wenn in der Bayes-Statistik keine A-priori-Annahmen getroffen werden, also angenommen wird, dass alle Ereignisse gleichwertig seien („non-informative prior“, also informationslos) ,so kann das Ergebnis nur mit genügend Daten „richtig“ werden.

  • Psychologisch subjektiv „empfundene Wahrscheinlichkeiten“ hängen stark von Kulturunterschieden (Unter-, Überschätzung von Fähigkeiten), der Ausprägung von Fremdbestimmung (Kontrollüberzeugung, auch „locos of control“: eigen- oder fremdbestimmtes Ergebnis eines Ereignisses) und Emotionen von Personen ab. Sie sind zeitlich abhängig. Liegt ein externes Ereignis zeitlich nah an einer Einschätzung einer subjektiv empfundenen Wahrscheinlichkeit (z. B. Ausbruch eines Vulkans in einem anderen Land als externe Gefährdung), so wird das Risikoempfinden zunächst rasch ansteigen, um über die Zeit (keine neuen Vulkanausbrüche) wieder abzuflachen.
  • Damit lassen sich Bayes-Statistiken gut bei bekannten Gefährdungen einsetzen, bei denen nur eine geringe Anzahl an Basiswerten (kleine Grundgesamtheit) verfügbar sind.

    Subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeiten sollten, wenn möglich, nicht in die Beurteilung eines allgemeinen Risikos eingehen (Regelsetzung), sollten jedoch bei einer aktuellen Gefährdungsbeurteilung im Unternehmen im Rahmen der Beurteilung psychischer Belastungen mit einfließen.

    Die Risikobestimmung in der ­Regelsetzung

    Wie bereits oben ausgeführt, lässt sich die Risikobestimmung von Gefährdungen in der allgemeinen Regelsetzung unter Betrachtung des objektiven Risikos gut verwenden, wenn die Grundgesamtheit groß genug ist. Fehlt diese, kann mit dem Errechnen eines subjektiven Risikos (Bayes-Statistik) abhängig von den A-priori-Annahmen (also dem Wissen um dem Zielwert) eine gute Aussage zur Eintrittswahrscheinlichkeit gemacht werden.

    Beide Verfahren, evidenzbasiert, bilden jedoch nur die Grundlage für eine Diskussion und das Herbeiführen eines anschließenden Konsens aller beteiligten Kreise. Somit wird das Wissen um das Risiko in allgemeinverbindliche Regeln übersetzt: „Siencia“ wird zu „Sapiens“ – hier wird „Wissen“ zu „Weisheit“.

    Die Gefährdungsbeurteilung

    Die Gefährdungsbeurteilung ist das zentrale (Management-)Instrument für Unternehmen, Gefährdungen im Vorhinein zu erkennen und Maßnahmen zu deren Abwendung zu generieren.

    Evaluierung der Gefährdungs­beurteilung

    2019 wurde von der Hochschule Furtwangen eine Evaluation der TRBS 1111 durchgeführt (s. „Weitere Infos“). Hierbei wurde gezeigt, dass die Gefährdungsbeurteilung in Unternehmen nicht immer beziehungsweise wenn, dann nicht immer vollständig durchgeführt wurde. Dies gilt es von allen beteiligten Kreisen zu verbessern. Wie eine Verbesserung des vorgefundenen Zustands neben den bekannten Maßnahmen (Aufsicht, Seminare, Informationen, Regeln) erzielt werden könnte, wird seit 1996, dem Erscheinen des Arbeitsschutzgesetzes, fortlaufend evaluiert.

    Schlussbetrachtung

    Die Verwendung des Gefährdungsbegriffs, unterlegt mit dem Risiko als quantitative Größe, hat sich in der Gefährdungsbeurteilung recht gut in den Unternehmen bewährt.

    Evidenzbasierte Analysen zum Erstellen von Regeln und Vorschriften können jedoch derzeit aufgrund der mitunter nicht oder nur spärlich vorliegenden Identifikation der Grundgesamtheit(en) (= ist der Unfall wegen der Verwendung des Arbeitsmittels, aufgrund des Arbeitsmittels, oder im Umfeld des Arbeitsmittels erfolgt) und Exposition (Wie viele Arbeitsmittel einer Art gibt es überhaupt und wieviel (wie lange) wird an diesen gearbeitet?) nur mit recht großem Aufwand oder gar nicht durchgeführt werden. Hier liegt aus Sicht des Autors ein großes Potenzial, insbesondere auch der Unfallversicherungsträger, die in ihren Fachbereichen exakte Daten aus den Unternehmen bereits jetzt zu qualitativ sehr hochwertigen Aussagen zusammenfassen.

    Wichtig bleibt jedoch, nicht nur den Zahlen zu vertrauen, sondern sich mit fachlichen Expertinnen und Experten aller beteiligten Kreise zu verständigen, um einen Konsens zu bilden – zum Wohle aller.

    Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    doi:10.17147/asu-1-342892

    Weitere Infos

    Deutscher Bundestag – 13. Wahlperiode: Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (Arbeitsschutzgesetz –ArbSchG), Drucksache 13/3540
    https://dserver.bundestag.de/btd/13/035/1303540.pdf

    TRBS 1111, Ausgabe: März 2018, GMBl 2018, S. 401 [Nr. 22] mit Änderungen und Ergänzungen: GMBl 2019, Technische Regeln für Betriebssicherheit „Gefährdungsbeurteilung“
    https://www.baua.de/DE/Angebote/Regelwerk/TRBS/TRBS-1111.html

    Definition

    „… Unter ‚Gefahr‘ wird im Arbeitsschutz wie auch im allgemeinen Recht der Gefahrenabwehr eine Sachlage verstanden, die bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens zu einem Schaden führt, wobei für den Schadenseintritt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit verlangt wird und von einem Schaden erst gesprochen werden kann, wenn eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung vorliegt. Eine wirksame Prävention muss früher ansetzen“ (s. Begründung zu ArbSchG § 4, Abs. 2).

    „‚Gefährdung‘ bezeichnet im Gegensatz zur ‚Gefahr‘ die Möglichkeit eines Schadens oder einer gesundheitlichen Beeinträchtigung ohne bestimmte Anforderungen an deren Ausmaß oder Eintrittswahrscheinlichkeit. Als quantitative Größe für eine Gefährdung steht das Risiko als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Ausmaß des möglichen Schadens. Gefahr in dem zuvor beschriebenen Sinne lässt sich als nicht mehr akzeptables Risiko definieren. Welcher Grad an Wahrscheinlichkeit dabei hinreichend ist, wird entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach der Art der betroffenen Rechtsgüter bestimmt. Wo es, wie im Arbeitsschutz, um Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer geht, kann ein geringeres Maß an Wahrscheinlichkeit verlangt werden als bei der Gefährdung von Sachgütern. Eine absolute Sicherheit bei der Arbeit im Sinne eines Ausschlusses jedweder Gefährdung ist nicht möglich“ (s. Begründung zu ArbSchG § 4, Abs. 3).

    Kernaussagen

  • Die Ableitung von allgemeingültigen Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, gestützt auf mathematischen Modellen wie das Risiko, gestaltet sich nicht von allein. Allen Modellen haften Ungenauigkeiten und Unsicherheiten an, die diese teilweise ad absurdum führen können.
  • Bei allen Möglichkeiten der Unterstützung durch Risikomodelle bleibt eines jedoch immer unausweichlich: Die Entscheidung durch Personen im gesell­schaftlichen Konsens, der unabhängig von allen Zahlen und Fakten „erstritten“ werden muss.
  • Kontakt

    Christoph Preuße
    Berufsgenossenschaft Holz und Metall; Stabsstelle Zukunft der ­Prävention; Isaac-Fulda-Allee 18; 55124 Mainz

    Foto: Angelika Stehle

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