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Update AWMF-S2k guideline: “Health aspects and organization of night and shift work”
For decades, both the potential risks to the health of workers and possible preventive approaches to improve the organization and health protection of employees working alternating and night shifts have been researched and discussed. In the AWMF S2k guideline “Health aspects and organization of night and shift work”, various health disorders and diseases were addressed and summarized. The guideline, which was published five years ago, is currently being updated to address the latest research findings and new issues relating to shift work.
Update AWMF-S2k-Leitlinie: „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“
Seit Jahrzehnten werden sowohl die potenziellen Risiken für die Gesundheit der Erwerbstätigen als auch mögliche Präventionsansätze zur besseren Gestaltung und zum besseren Gesundheitsschutz für Beschäftigte in Wechsel- und Nachtschichtarbeit erforscht und diskutiert. In der AWMF-S2k-Leitlinie „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“ wurden verschiedene gesundheitliche Störungen und Erkrankungen adressiert und zusammengefasst. Die vor fünf Jahren publizierte Leitlinie erfährt derzeit ein Update, um auf aktuelle Forschungsergebnisse und neue Fragestellungen rund um das Thema Schichtarbeit einzugehen.
Kernaussagen
Einleitung
In Deutschland lag gemäß dem Mikrozensus im Jahr 2023 der Anteil der Erwerbstätigen, die innerhalb der letzten vier Wochen regelmäßig abends arbeiten, bei 15,1 %. Regelmäßig nachts arbeiteten 4,5 % der Erwerbstätigen, wobei Männer fast doppelt so häufig nachts (5,8 %) arbeiteten wie Frauen (3,1 %). Dabei liegt definitionsgemäß Abend- beziehungsweise Nachtarbeit vor, wenn die Erwerbstätigkeit ständig (= an jedem Arbeitstag) oder regelmäßig (= an mindestens der Hälfte der Arbeitstage) zwischen 18:00 und 23:00 Uhr beziehungsweise 23:00 und 06:00 Uhr ausgeübt wird. Grundlage für die Berechnungen war dabei die Selbsteinschätzung der Befragten (Mikrozensus 2023; Destatis 2024).
Insbesondere in der Industrie, im öffentlichen Dienst (z. B. Polizei, Feuerwehr etc.) und im Gesundheitswesen sind Schichtdienstsysteme unvermeidbar. Hinzu kommen vermehrt zunehmende ausgedehnte Öffnungs- und Betriebszeiten, zum Beispiel im Dienstleistungsgewerbe, die eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung bedingen.
Der Begriff der „Nachtarbeit“ ist für Deutschland durch § 2 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) als „jede Arbeit, die mehr als zwei Stunden der Nachtzeit umfasst“ definiert, wobei der Begriff der „Nachtzeit“ den Zeitraum von 23:00 bis 06:00 Uhr beschreibt mit definierten Abweichungen (AWMF Leitlinie 2020). Nachtarbeitnehmende sind jene Beschäftigten, die „aufgrund ihrer Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht zu leisten haben“ oder „Nachtarbeit an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leisten“. Durch die International Labour Organisation (ILO) ist Nachtarbeit zum Beispiel als „jede Arbeit, die während eines Zeitraums von mindestens sieben aufeinanderfolgenden Stunden verrichtet wird, der die Zeit zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens einschließt“ festgelegt.
Im internationalen Vergleich und damit in der wissenschaftlichen Literatur unterscheiden sich die Definitionen von Nachtarbeit jedoch durchaus. Schichtarbeit wird sehr unterschiedlich gestaltet: Neben den sogenannten permanenten Schichtsystemen (z. B. Dauerfrühschichten, Dauerspätschichten, Dauernachtschichten) gibt es sogenannte Wechselschichtsysteme (also Arbeit in abwechselnden Zeitfenstern), wobei Wechselschichtsysteme weiter spezifiziert werden können (z. B. in Systeme ohne Nachtarbeit und ohne Wochenendarbeit, Systeme ohne Nachtarbeit und mit Wochenendarbeit, Systeme mit Nachtarbeit und ohne Wochenendarbeit). Die Schichtabfolgen in Wechselschichtsystemen können sich darüber hinaus in Bezug auf die Rotationsrichtung (Vorwärtsrotation = Verschiebung des Beginns der Einzelschicht bei Schichtwechsel mit dem Uhrzeigersinn; Rückwärtsrotation = Verschiebung des Beginns der Einzelschicht bei Schichtwechsel gegen den Uhrzeigersinn), die Rotationsgeschwindigkeit (schnelle Rotation = geringe Anzahl von Einzelschichten einer Schichtart in Folge, schneller Wechsel der Schichtart; langsame Rotation = große Anzahl von Einzelschichten einer Schichtart in Folge, langsamer Wechsel der Schichtart) oder die Anzahl der aufeinanderfolgenden freien Tage unterscheiden. In Bezug auf die Aufrechterhaltung des Betriebsablaufs werden die Arbeitsabläufe in diskontinuierlichen (dies impliziert arbeitsfreie Tage) und kontinuierlichen Systemen („Arbeit rund um die Uhr“) organisiert. Schichtsysteme können bezüglich der Anzahl an Schichtarten (z. B. Zwei- und Dreischichtsysteme) oder unregelmäßig beziehungsweise regelmäßig verteilte Schichtgruppen (unregelmäßig = sich unterscheidende Anzahl von Beschäftigten abhängig von der anfallenden Arbeitsmenge) unterschieden werden.
Arbeitszeitgesetz (ArbZG)
In der Begründung zu § 6 ArbZG geht die Bundesregierung davon aus, dass es außer Frage steht, dass Nachtarbeit zu erheblichen Störungen im Befinden des Nachtarbeitnehmenden führen kann und daher arbeitsmedizinisch sowie sozialpolitisch flankiert werden soll. Das Recht des Arbeitgebers, „Arbeitszeit zu regeln“, ist zwingend in Einklang mit den Vorgaben des § 6 Abs. 1 ArbZG auszuüben (AWMF Leitlinie 2020). Die konkrete Arbeitszeitregelung muss also „gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit“ entsprechen.
Gemäß § 6 Abs. 3 ArbZG steht Nachtarbeitenden das Recht zu, sich vor Beginn der Beschäftigung und danach in regelmäßigen Zeitabschnitten von nicht weniger als drei Jahren arbeitsmedizinisch auf ihre Nachtschichttauglichkeit untersuchen zu lassen. Ab einem Alter von 50 Jahren bestehe das Recht auf Wiederholungsuntersuchung jährlich. Bewusst nicht konkret gefasst, sondern als Generalvorschrift ausgestaltet ist § 6 Abs. 1 ArbZG. Danach ist die Arbeitszeit der Nacht- und Schichtarbeitenden nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit festzulegen.
Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber zum einen den Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie wie auch der Rahmenrichtlinie genügen und auch dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz [GG]) Rechnung tragen.
Zusammensetzung der Leitliniengruppe
Wichtig ist die Repräsentativität in den beteiligten Berufsgruppen der Leitliniengruppe. In der Leitliniengruppe waren Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner vertreten, die wissenschaftlich in der Thematik „Schichtarbeit“ geforscht haben und die in Unternehmen aktiv in der dortigen betriebsmedizinischen Abteilung tätig sind/waren. Weitere Mitglieder der Leitliniengruppe waren Ärztinnen/Ärzte, Gesundheits- und Naturwissenschaftlerinnen/-wissenschaftler sowie Psychologinnen/Psychologen und Sozialwissenschaftlerinnen/-wissenschaftler unter anderem aus den Bereichen der Schlafmedizin und Psychiatrie beziehungsweise aus dem Bereich der Sozialmedizin, Epidemiologie und Public Health.
Für die Zielgruppe der Beschäftigten dieser Leitlinie gibt es keine übergeordnete, gemeinsame Organisation, die die Arbeitnehmenden in den verschiedenen Branchen (wie Gesundheitswesen, öffentlicher Dienst, Industrie), in denen diese in Schichtarbeit beschäftigt sind, vertritt. Daher konnte keine Vertreterin/kein Vertreter in die Leitliniengruppe eingeladen werden. Die Betriebs- und Arbeitsmedizinerinnen/-mediziner, die an der Leitlinienerstellung beteiligt sind, stehen stellvertretend für die Beschäftigten in Schichtarbeit und haben die Prozesse der Entwicklung von Empfehlungen maßgeblich durch das Einbringen von Beispielen aus dem Alltag in den Unternehmen (anonym) bereichert. Betriebsräte und Gewerkschaftsvertreterinnen/-vertreter wurden nach Anfragen über den Stand der Leitlinienentwicklung informiert und werden als Vertreterinnen/Vertreter der Beschäftigten (Sozialpartner) über das Erscheinen der Leitlinie benachrichtigt.
Zielgruppe, Themenfelder
Die Empfehlung dieser Leitlinie richtet sich primär an Ärztinnen und Ärzte aller Versorgungsbereiche, insbesondere in der Arbeitsmedizin und Allgemeinmedizin, an die staatlichen Gewerbeärztinnen/-ärzte, an die Kooperationspartner der Ärzteschaft (z. B. Kostenträger, Firmen), die Sozialpartner und deren
Vertretungen, weitere Expertinnen und Experten des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie Beschäftigte in Nacht- und Schichtarbeit.
Die Leitlinie wurde unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. (DGAUM) mit Beteiligung der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA), der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi), der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
(DGPPN), Deutschen Fachgesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) und der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e. V. (DGSMP) erstellt.
Die Themenfelder der Leitlinie sind:
Die Leitlinie wurde online publiziert über die Homepages der AWMF (www.awmf.org) und der DGAUM (www.dgaum.de). Zusätzlich zu der Leitlinie selbst wird eine Kurzversion und der Leitlinien-Report mit dem beschreibenden Methodenteil publiziert.
Gesundheitliche Auswirkungen und Empfehlungen
In der wissenschaftlichen Literatur zeigt sich, dass Nacht- und Wechselschichten zu einer Disruption der zirkadianen Rhythmik und zu einem Schlafdefizit und Schlafstörungen führen können. Mögliche Folgen sind Müdigkeit, verminderte physische und kognitive Leistungsfähigkeit und auch kardiovaskuläre Erkrankungen sowie Stoffwechsel- und Krebserkrankungen.
Auch neurologische und psychische Erkrankungen wie die Depression werden als gesundheitliche Folgen diskutiert. Die Studienlage weist jedoch teilweise konträre und inkonsistente Ergebnisse auf. Daher war und ist es das Ziel dieser Leitlinie, auf der Basis von orientierenden und systematischen Literaturauswertungen die aktuelle, bestehende Evidenz zu gesundheitlichen Auswirkungen von Nacht- und Schichtarbeit zusammenzustellen, zugänglich zu machen und Empfehlungen für die Praxis und zur Schichtplangestaltung zu geben. Weiterhin soll der Forschungsbedarf in den Themenfeldern zur Nacht- und Schichtarbeit deutlich werden.
In der Leitlinienerstellung wurden insgesamt 59 einzelne Empfehlungen zu den spezifischen Themenfeldern erarbeitet. Zu den Auswirkungen auf den Schlaf wurden insgesamt 15 Empfehlungen erstellt, zu den anderen gesundheitlichen Beschwerden und Erkrankungen wurden zwischen zwei und sieben Empfehlungen anhand der Literatur und Expertise der Beteiligten entwickelt. Diese Empfehlungen befassen sich auch mit der Schichtplangestaltung und der arbeitsmedizinischen Vorsorge bei Nachtarbeit. Das Kapitel zur Schichtplangestaltung umfasst unter anderem Empfehlungen zu Schichtzeiten und -dauer, Rotation und freier Zeit zwischen den Schichten.
Aktuelle Fragestellungen und Ausblick Update der Leitlinie
Nicht zuletzt das im April 2025 von der Bundesregierung veröffentlichte Koalitionspaper zeigt die Aktualität der Diskussion rund um die Arbeitszeiten in Deutschland. Im Einklang mit der europäischen Arbeitszeitrichtlinie soll, im Sinne einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit geschaffen werden. Zur konkreten Ausgestaltung wird dazu ein Dialog mit den Sozialpartnern durchgeführt werden. Die Aufhebung der Tageshöchstarbeitszeit trägt dem Wunsch nach mehr Flexibilität der Arbeitszeiten von Seiten der Arbeitgeber, aber auch von Seiten der Beschäftigten Rechnung. Diesem wird sich die Leitliniengruppe im Update umfassend widmen.
In seiner Publikation regte Stork (2024) darüber hinaus an, allgemeine Gestaltungsempfehlungen für Arbeitszeitsysteme darauf zu überprüfen, ob sie in ihrer langjährigen Konstanz dem in den einzelnen Themenkapiteln der Leitlinie dargelegten Kenntnisstand weiterhin gerecht werden, ob neuere Erkenntnisse ihre intendierte präventive Wirkung bestätigen und welche Weiterentwicklung gegebenenfalls geboten ist. Die adressierten Fragestellungen rund um den aktuellen Stand der Forschung zur Schichtarbeit und Umsetzung in verschiedenen Schichtarbeitsmodellen sind ein wichtiger Impuls, der in die Beratungen und Abstimmungen Eingang finden wird. Gerade auch der Inhalt der Vorsorge nach ArbZG ist für die betriebsärztliche Tätigkeit eine tagtägliche Fragestellung, die ebenso eines zielführenden Updates bedarf. Hier gilt es, die Beratung auf das Wesentliche zu fokussieren und unnötige Untersuchungen zu vermeiden.
Das derzeit durchgeführte Leitlinien-Update wird dazu auf die aktuellen Forschungsergebnisse und Fragestellungen rund um das Thema Schichtarbeit näher eingehen.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Statistisches Bundesamt (Destatis): Mikrozensus 2023. Destatis, 2024.
Stork J: Diskussionspapier Schichtarbeit und Gesundheit. Fragestellungen, Hypothesen und Vorschläge zur Weiterentwicklung präventiver Empfehlungen. Z Arb Wiss 2024; 78: 32–40.
Online-Quellen
DGAUM: AWMF-Leitlinie „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“, Version 2.1 (AWMF Registernummer 002-030), veröffentlicht am 14.12.2020
https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/002-030
Verantwortung für Deutschland, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 21. Legislaturperiode
https://www.koalitionsvertrag2025.de/sites/www.koalitionsvertrag2025.de…