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Berufskrankheit Lärmschwerhörigkeit

Lärmschwerhörigkeit (BK 2301)

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Diagnose und Differenzialdiagnose

Noise-Induced Hearing Loss (BK 2301) – Diagnosis and Differential Diagnosis

Einleitung

Die Lärmschwerhörigkeit wird nach wie vor zu den häufigsten Berufskrankheiten gezählt. Eine Lärmschwerhörigkeit kann sich bei einem Teil der Exponierten ab einer Tageslärmexposition von 85 dB(A) oder mehr entwickeln. Das Gehörschadensrisiko hängt von Intensität und Dauer der Lärmbelastung (Lärmdosis) ab. Meist handelt es sich um eine beginnende oder geringgradige Schwerhörigkeit. Eine Ertaubung durch berufliche Lärmeinwirkung gibt es nicht. Nach Beendigung der Lärmexposition, zum Beispiel durch Arbeitsplatzwechsel, Berentung oder adäquaten Gehörschutz, nimmt eine Lärmschwerhörigkeit nicht weiter zu – es gibt also keine spätere Verschlimmerung (Brusis 2010). Audiometrisch zeigt sich eine lärmbedingte Schwerhörigkeit in Form einer umschriebenen Hochtonsenke bei
4000 Hz. Bei weiterer ungeschützter Lärmbelastung kann sich die Senke vertiefen und verbreitern (Dieroff et al. 1994). Da sich die Entwicklung langsam und schleichend vollzieht, bemerken die Betroffenen die Hörminderung erst spät, beispielsweise wenn die Haustür- oder Telefonklingel überhört wird, wenn die Lautstärke des Fernsehgeräts höher eingestellt werden muss als von anderen Familienmitgliedern oder wenn Fragen nicht oder falsch beantwortet werden. Typisch ist, dass bei Nebengeräuschen, das heißt in lautstärkerer Umgebung, Betroffene das Gesagte schlechter verstehen als in ruhiger Umgebung.

Ursache und Wirkung

Ein Lärmschaden des Innenohrs kann prinzipiell durch eine Überstimulation des Gehörs oder in Verbindung mit einer erhöhten Vulnerabilität des Ohrs beziehungsweise durch eine Kombination beider Faktoren hervorgerufen werden. Eine pathologische Aktivitätserhöhung, ausgelöst durch die überlaute Schallsimulation, kann zur metabolischen Überforderung des Innenohrs führen. Bei extremer Lautstärke (z. B. einem Knalltrauma), können auch mechanische Verletzungen des Innenohrs erfolgen. Die meisten Menschen verfügen erfreulicherweise über ein lärmfestes Gehör. Daher führt eine akustische Überstimulation nicht immer zu einer Schädigung des Gehörs (Plontke u. Zenner 2004). Eine Lärmschädigung des Innenohrs findet sich bei nur etwa 5 % der belasteten Lärmarbeitenden; nur bei 2 % dieser Personengruppe liegt eine entschädigungspflichtige Lärmschwerhörigkeit vor.

Statistik

Die berufliche beziehungsweise arbeitsbedingte Lärmschwerhörigkeit gehört nach wie vor zu den häufigsten BK-Verdachtsfällen. Im Jahr 2022 wurden 15.449 neue Fälle angezeigt, 6637 Schwerhörigkeitsfälle wurden als Berufskrankheit anerkannt (DGUV). Bei 254 Versicherten wurde erstmalig eine Hörstörung anerkannt und Lärmrente gezahlt, wobei die Stützrentenfälle mehr als 50 % ausmachten. Bei den meisten Fällen handelt es sich um eine beginnende beziehungsweise geringgradige Schwerhörigkeit durch Lärmeinwirkung.

Ärztliche Anzeige bei Verdacht auf eine Lärmschwerhörigkeit

Jede Ärztin/jeder Arzt ist verpflichtet, den Verdacht einer Berufskrankheit zu melden. Eine ärztliche Anzeige wegen des Verdachts einer Lärmschwerhörigkeit ist dann zu erstatten, wenn bestimmte qualitative und quantitative Kriterien erfüllt sind:

  • Die Betroffenen müssen eine Reihe von Jahren unter Lärmbedingungen tätig gewesen sein.
  • Die Hörfunktionsstörung muss dem Bild einer lärmbedingten Schwerhörigkeit (Innenohrschwerhörigkeit, Symmetrie, c5-Senke) entsprechen.
  • Nach dem Tonaudiogramm müssen die Voraussetzungen für eine Hörgeräteversorgung nach der Hilfsmittelrichtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses gegeben sein, das heißt, der Hörverlust muss bei mindestens einer Frequenz zwischen 500 und 4000 Hz 30 dB erreicht beziehungsweise überschritten haben.
  • Diagnose der Lärmschwerhörigkeit

    Die Diagnose einer Lärmschwerhörigkeit kann schwierig sein, da sich die Hörverluste schleichend über Jahre oder Jahrzehnte hinweg entwickeln. Dies trifft aber auch auf andere Schwerhörigkeitsarten zu, insbesondere auf die endogene und degenerative Schwerhörigkeit. Eine berufliche Lärmschwerhörigkeit liegt dann vor, wenn mit Wahrscheinlichkeit die fünf folgenden definierten Kriterien nach Feldmann erfüllt sind (Feldmann u. Brusis 2019):

    1. Eine adäquate Lärmexposition muss nachgewiesen sein

    Je größer die Lärmexposition hinsichtlich
    Zeitdauer und Lärmpegel gewesen ist, umso größer ist auch das Risiko, dass eine Hörstörung auftritt, insbesondere dann, wenn kein oder nur unzureichender Gehörschutz getragen wurde (Brusis 2005). Dauerschallpegel von unter 85 dB(A) führen nicht zu einer Haarzellschädigungen des Innenohrs. Das Risiko einer lärmbedingten Haarzellschädigung beginnt bei einem Tageslärmexposi­tionspegel beziehungsweise Wochenlärmexpositionspegel von 85 dB(A) (Schönberger et al. 2024). Hochfrequenter Lärm gilt als schädlicher als mittelfrequenter oder tieffrequenter Lärm. Allerdings ist hochfrequenter Lärm mittels der Filterkurve A bei der Messung des Schallpegels in dB(A) bereits berücksichtigt, so dass es keinen weiteren Zuschlag oder eine andere Beurteilung bei Vorliegen von hochfrequentem Lärm gibt. Auch die Impulshaltigkeit des Lärms ist bei der Messung des Tageslärmexpositionspegel ausreichend berücksichtigt. Die Lärmmessung ist Aufgabe des Präventionsdienstes. Bedauerlicherweise beschränken sich die Präventionsdienste immer häufiger auf die Feststellung, ob der Tageslärmexpositionspegel unter oder über der gehörschädigenden Grenze von 85 dB(A) gelegen hat. Da das Risiko einer Gehörschädigung nicht nur von der Dauer, sondern auch von der Höhe des Schalldruckpegels abhängt (Dosis-Wirkungs-Prinzip!), benötigt die Gutachterin oder der Gutachter eine genauere Information zur Lärmhöhe, am besten auch mit Angabe der effektiven Lärmdosis (ELD) nach Liedtke.

    Dass das Innenohr auch durch Infraschall, Ultraschall oder Vibration geschädigt werden kann, ist nicht ausreichend belegt. Eine Gefährdung des Innenohrs durch Vibrationseinwirkungen kann nicht aus der Lärm-Vibrationsarbeitsschutzverordnung abgeleitet werden. In dieser Verordnung sind zwar Lärm und Vibration gleichzeitig abgehandelt. Beide Einwirkungsarten wurden hier aber lediglich zusammengefasst, da es sich in beiden Fällen um physikalische Einwirkungen handelt.

    In Lärmbereichen sind Beschäftigte verpflichtet, persönlichen Gehörschutz zu tragen, wofür es bestimmte Richtlinien gibt (siehe Beitrag Sickert in diesem Heft).

    2. Die Schwerhörigkeit muss sich während der Lärmarbeit entwickelt haben

    Eine Lärmschwerhörigkeit entwickelt sich zunächst relativ langsam und zeigt in der Anfangszeit eine Rückbildung. Nach einigen Jahren ist eine sogenannte Sättigung erreicht. Meist handelt es sich letzten Endes lediglich um eine beginnende oder geringgradige Schwerhörigkeit. Das Ausmaß einer mittelgradigen Schwerhörigkeit wird heute selten erreicht. Aufgrund jahrzehntelanger Beobachtungen ist nachgewiesen, dass Lärmbelastungen nie zu einer Taubheit führen können. Dies ist allgemeiner Konsensus.

    Eine Senkenbildung im Hochtonbereich, die sogenannte c5-Senke, gilt als lärmtypisches Merkmal. Aber nicht jeder Hochtonabfall ist eine c5-Senke. Typisches Kennzeichen einer Lärmsenkung ist eine Knickbildung am Übergang von den mittleren zu den hohen Frequenzen sowie ein Wiederanstieg der Kurve im sehr hohen Frequenzbereich. In vereinzelten Fällen findet sich auch eine lärmtypische Senkenbildung im Hochtonbereich bei Personen, die nie beruflichem Lärm ausgesetzt waren. Aus diesem Grund ist eine c5-Senke, auch wenn diese auf beiden Ohren vorliegt, nicht beweisend für eine arbeitsbedingte Lärmschwerhörigkeit (➥ Abb. 1).

    Senkenbildung im mittleren Frequenzbereich um 1000 Hz sind keine Hochtonsenken und nicht typisch für eine Lärmschwerhörigkeit. Eine Mitteltonsenke spricht für eine mediocochleäre Schwerhörigkeit, die in der Regel genetisch angelegt ist, sich auf beiden Ohren findet und meist zu einer Progression über Jahre neigt.

    Dagegen sind tonaudiometrische Flach­abfälle, Schrägabfälle oder horizontale Kurvenverläufe absolut untypisch für einen Lärmschaden und lassen eine Lärmschwerhörigkeit auch beim Lärmarbeitenden ausschließen (➥ Abb. 2). Die Vorstellung, dass in der Gesamtschwerhörigkeit ein Lärmanteil enthalten ist, wäre in solchen Fällen rein spekulativ und reicht für die Anerkennung einer Berufskrankheit nicht aus.

    3. Es muss eine reine Schallempfindungs- beziehungsweise Innenohrschwerhörigkeit vorliegen

    Eine langjährige Lärmbelastung kann zu einer Schädigung des Innenohrs führen, aber nie zu einer Mittelohrschwerhörigkeit oder Hörnervenschwerhörigkeit. Es muss sich also um eine Innenohrschwerhörigkeit (cochleäre Schwerhörigkeit, Haarzellschaden) und nicht um eine retrocochleäre Schwerhörigkeit oder Mittelohrschwerhörigkeit handeln, um eine Berufskrankheit in Betracht zu ziehen. Der Sitz der Schädigung in den Innenohren ist durch den Nachweis eines positiven Recruitments, zum Beispiel einen SISI-Test1, zu führen. Typisch ist auch das Fehlen der otoakustischen Emissionen (DPOAE und TEOAE2). Außerdem ist die Durchführung einer BERA- beziehungsweise ERA3-Untersuchung erfolgversprechend. Wenn bei einem Lärmarbeitenden eine kombinierte Schwerhörigkeit vorliegt, ist der Innenohranteil der Schwerhörigkeit in der Regel nicht auf Lärmeinwirkung zurückzuführen, sondern es handelt sich um die Innenohrkomponente der Mittelohrerkrankung. Im Übrigen stellt eine Schallleitungskomponente oder Mittelohrkomponente einen physiologischen Schallschutz dar, der die Lärmbelastung um das Ausmaß der Schallleitungskomponente reduziert. Eine solche Schallleitungskomponente ist daher nie als Vorschaden einzustufen.

    4. Die Tonschwellenkurven müssen ­typisch sein

    Experimentelle Schallbelastungen des Innenohrs mit Sinustönen rufen im Tonaudio­gramm eine Senkenbildung hervor, deren maximaler Hörverlust eine halbe bis ganze Oktave oberhalb der Belastungsfrequenz liegt. Die Entstehung der c5-Senke erklärt sich durch die Empfindlichkeitskurve des Ohrs, die ihr Maximum zwischen 1000 Hz
    und 4000 Hz erreicht. Ursache dafür sind wahrscheinlich hydrodynamische Eigenschaften des Innenohrs, aber auch die Konfiguration des äußeren Gehörgangs (Verstärkung des Schalldrucks bei ca. 2000 Hz).
    Da ein Breitbandgeräusch (industrieller Arbeitslärm) aus einer Anzahl reiner Töne besteht, wird die c5-Senke durch viele Einzelsenken hervorgerufen, die sich zwischen 1000 und 4000 Hz summieren. Durch die asymmetrische Ausbildung der Einzelsenken verschiebt sich das Maximum der gemeinsamen Senke bei der Addition der Einzelsenken in Richtung 4000 Hz. Das Maximum einer Lärmsenke kann auch bei 3000 oder 6000 Hz liegen. Dennoch ist es zulässig, bei einer solchen Hochtonsenke von einer „c5-Senke“ oder „Lärmsenke“ zu sprechen. Auch bei einer fortgeschrittenen Lärmschwerhörigkeit ist eine c5-Senke noch angedeutet erkennbar. Eine isolierte Zacke im Mitteltonbereich oder Hochtonbereich entspricht dagegen keiner lärm­typischen Senke (Brusis 2022).

    Während sich im Bereich der tiefen und mittleren Frequenzen bei beziehungsweise unterhalb 1000 Hz meist keine Hörverluste zeigen, sind bei sehr langer und sehr hoher Lärmbelastung auch leichte Hörverluste in diesem Frequenzbereich möglich. Häufig wird behauptet, dass Hörverluste im Bereich der tiefen Frequenzen absolut lärmuntypisch seien. Aus dem Hörverlustverteilungsmodell ISO 1999 ergibt sich jedoch eindeutig, dass nach sehr langer und sehr hoher Lärmexposition nach Jahrzehnten Hörverluste von 20–30 dB im Tieftonbereich auftreten können.

    5. Symmetrie der Hörverluste beider Ohren

    Lärmarbeitende sind in der Regel am Arbeitsplatz einer diffusen Schallbelastung ausgesetzt. Dadurch sind beide Ohren meistens gleich belastet. Tritt ein Lärmschaden des Innenohrs auf, ist dieser symmetrisch oder annähernd symmetrisch ausgeprägt. Bei einer seitendifferenten Lärmbelastung können sich geringe Hörverlustdifferenzen im Hochtonbereich finden, aber nie im mittleren oder tieferen Frequenzbereich. Eine solche Seitendifferenz kann aber nur geringfügig ausgebildet sein. Bei einem solchen Fall sollte vom Präventionsdienst der Berufsgenossenschaft (BG) die Frage nach einer lärmdifferenten Schallbelastung geprüft werden. Für eine seitendifferente Ausprägung reicht jedoch nicht eine kurzfristige seitendifferente Lärmbelastung, sie müsste schon über Jahrzehnte angehalten haben, was selten vorkommt.

    Differenzialdiagnose der ­Lärmschwerhörigkeit

    Das Gehör kann durch eine Vielzahl von schädigenden Faktoren erkranken, beispielsweise durch Durchblutungsstörungen, durch infektiös-toxische Einwirkungen, durch Medikamente oder endogen angeborene Schäden. Dadurch muss die Ärztin/der Arzt oder Begutachtende bei einer Untersuchung eine sorgfältige differenzialdiagnostische Abgrenzung durchführen. Dies ist relativ einfach, wenn es sich um eine einseitige zusätzliche Schwerhörigkeit handelt, also um eine erhebliche Seitendifferenz. Unabhängig von einer Lärmschwerhörigkeit können Betroffene auch zum Beispiel an einem Hörsturz erkranken.

    Eine Abgrenzung ist auch möglich, wenn es sich um eine zusätzliche Mittelohrschwerhörigkeit handelt, da beruflicher Lärm nie zu einer Schädigung des schallübertragenden Mittelohrapparats führen kann. Typische Mittelohrschwerhörigkeiten sind zum Beispiel Otosklerose, Tympanosklerose oder chronische Mittelohrentzündungen. Derartige Erkrankungen führen in vielen Fällen nach einer gewissen Zeit auch zu einer Innenohrbeteiligung, die dann außerberuflich ist.

    Schwierig ist eine differenzialgnostische Abgrenzung, wenn beiderseits eine außerberufliche Schwerhörigkeit bei der oder dem Lärmarbeitenden vermutet wird. Hier kommt es insbesondere auf das tonaudiometrische Bild an. Ist der Kurvenverlauf typisch oder lärmuntypisch, ist eine angedeutete Senkenbildung im Hochtonbereich erkennbar?

    Wenn in einem solchen Fall die Abgrenzung eines lärmbedingten oder nicht lärmbedingten Anteils nicht durch Vor­audiogramme oder audiometrische Befunde erfolgen kann, so ist die Schwerhörigkeit einheitlich zu beurteilen. Entweder handelt es sich insgesamt um eine Berufskrankheit oder insgesamt um eine außerberufliche Schwerhörigkeit. Dies stellt erhebliche Anforderungen auch an erfahrene Gutachterinnen und Gutachter.

    Abb. 2:  Tonaudiometrische Kurvenverläufe, die mit dem Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit nicht vereinbar sind (Brusis 2021, 2022)

    Abb. 2: Tonaudiometrische Kurvenverläufe, die mit dem Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit nicht vereinbar sind (Brusis 2021, 2022)

    Tinnitus bei Lärmschwerhörigkeit

    Ohrgeräusche (Tinnitus) gehören zwar nicht zu den beherrschenden und regelmäßigen anzunehmenden Symptomen der Lärmschwerhörigkeit. Ein Tinnitus kann aber hiermit vergesellschaftet sein. Man spricht in diesen Fällen von einem Begleittinnitus der Lärmschwerhörigkeit. Ein lärmbedingter Tinnitus ist jedoch nicht anzunehmen, wenn Betroffene über ein normales Gehör verfügen oder wenn eine Hörminderung andere Ursachen hat. Typisch für einen lärmbedingten Tinnitus ist, wenn dieser einem hohen Ton oder hohen Geräuschband entspricht, was durch eine Tinnitusanalyse festgestellt werden kann (siehe Beitrag Michel in diesem Heft). Ein Tinnitus, der nur gelegentlich auftritt, ist im versicherungsrechtlichen Sinne nicht als erheblich einzustufen und wird bei der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht berücksichtigt. Ein Tinnitus-Matching aus Erinnerung bei einem Tinnitus, der zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht vorhanden ist, ist spekulativ und nicht zielführend.

    Gehörschäden im privaten ­Lebensbereich

    Menschen, die den Jagdsport oder das Sportschießen betreiben, können eine Lärmschädigung erwerben, wenn kein Gehörschutz getragen wird. Lärmintensiv sind auch Heimwerkzeuge, Maschinen wie Kreissägen, Boschhammer usw.

    Differenzialdiagnostisch spielen Lärmschäden im privaten Bereich aber im Allgemeinen keine Rolle. Hausmusik mit klassischen Instrumenten ist bekanntlich laut, führt in der Regel jedoch nicht zu einer dauernden Beeinträchtigung des Gehörs. Der Besuch von Rock-Festivals kann zu einer akuten, meist vorübergehenden Beeinträchtigung des Gehörs führen, wenn die Person viele Stunden im Nahbereich eines extrem lauten Lautsprechers verbracht hat. Jugendliche, die über Kopfhörer laute Unterhaltungsmusik hören, haben in der Regel keinen Innenohrschaden, da die Ausgangspegel dieser Geräte begrenzt sind. Das Gehörschädigungsrisiko wird meist überbewertet.

    Hörgeräteversorgung bei ­Lärmschwerhörigkeit

    Eine medikamentöse Therapie des lärmbedingten Innenohrschadens ist nicht möglich. Hördefizite lassen sich aber durch Hörgeräte ausgleichen. Die Indikation für eine Hörgeräteversorgung entspricht der Hilfsmittel-Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA).

    Rahmenvereinbarung Hörgeräte

    Dazu heißt es in der Königsteiner Empfehlung, dass eine Versorgung mit allen geeigneten Mitteln zu erfolgen habe. In der gesetzlichen Krankenversicherung erhält die Patientin oder der Patient lediglich sogenannte Festbetragsgeräte, in der gesetzlichen Unfallversicherung aber „bessere“ Geräte nach Kategorie 1–3, wobei in der Regel eine Versorgung der Kategorie 1 ausreichend ist.

    ICP-(Insulating Communication Plastic-)Geräte sind eine Kombination von Gehörschutz und Hörgerät. Sie sind sehr kostenintensiv und werden daher nur für Lärmexponierte gewährt, die einen hohen Kommunikationsbedarf am Arbeitsplatz
    haben, beispielsweise Vorarbeiter, Meister usw. (Brusis u. Sickert 2012).

    Begutachtung der Lärmschwer­hörigkeit

    Für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit ist die Königsteiner Empfehlung (Update 2020) zugrunde zu legen. Die Überarbeitung der neuen Königsteiner Empfehlung ist wie bei allen Empfehlungen nach fünf Jahren vorgesehen. In der letzten Auflage wurden die Tabellen zur Berechnung des tonaudiometrischen und sprachaudiometrischen Hörverlusts im Sinne der Versicherten überarbeitet (siehe auch Beitrag Meister in diesem Heft). Allerdings haben die Unfallversicherungsträger zwischenzeitlich ein sogenanntes Stufenverfahren eingeführt, um das BK-Verfahren zu beschleunigen. Wenn bei der BG aus dem Tonaudiogramm der ärztlichen Anzeige eine MdE von bis 10 % errechnet wird, erfolgt eine BG-interne vereinfachte und verkürzte Bearbeitung ohne Lärmmessung und ohne fachärztliche Begutachtung. Erst bei einer errechneten MdE von 20 % oder einem Begleittinnitus wird eine vollständige Begutachtung durch eine Fachärztin oder einen Facharzt veranlasst.

    Interessenkonflikt. Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Literatur

    Brusis T: Aus der Gutachtenpraxis: Eine Lärmschwerhörigkeit kann sich nach Ende der Lärmexposition nicht weiter verschlimmern. Laryngo-Rhino-Otol 2010; 89: 666–668.

    Brusis T: Aus der Gutachtenpraxis: Die degenerativ-endogene Schwerhörigkeit beim Lärmarbeiter. Laryngo-Rhno-Otol 2022; 101: 597–600.

    Brusis T: Lärmschwerhörigkeit. In: Letzel S, Nowak D (Hrsg.): Handbuch der Arbeitsmedizin. Landsberg am Lech: ecomed Medizin, 2021.

    Brusis T, Sickert P: Aus der Gutachtenpraxis: Ist das Tragen von Hörgeräten in Lärmbereichen erlaubt? – Neue Entwicklungen auf dem Hörgerätesektor! Laryngo-Rhino-Otol 2012; 91: 189–191.

    Dieroff H-G, Beck C, Deitmer T: Lärmschwerhörigkeit. 3. Aufl. München: Urban & Fischer, 1994.

    Feldmann H, Brusis T: Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. 9. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2019.

    Plontke S, Zenner H-P: Aktuelle Gesichtspunkte zu Hörschäden durch Berufs- und Freizeitlärm. Laryngo-Rhino-Otol 2004; 83 (Suppl. 1): 122–164.

    Schönberger A, Mehrtens G, Valentin H: Arbeitsunfall und Berufskrankheit. 10. Aufl. Berlin: Erich-Schmidt-Verlag, 2024.

    doi:10.17147/asu-1-357429

    Beschäftigte, die über viele Jahre einer Lärmbelastung ausgesetzt sind, haben ein erhöhtes Risiko, eine Lärmschwerhörigkeit zu entwickeln

    Foto: © kranidi-stock.adobe.com

    Beschäftigte, die über viele Jahre einer Lärmbelastung ausgesetzt sind, haben ein erhöhtes Risiko, eine Lärmschwerhörigkeit zu entwickeln

    Kernaussagen

  • Die berufliche Lärmschwerhörigkeit gehört zu den häufigsten Berufskrankheiten.
  • Durch lärmmindernde Maßnahmen und die regelmäßige Verwendung von Gehörschutzmitteln lässt sich das Risiko der Entstehung einer Lärmschwerhörigkeit reduzieren.
  • ICP-Geräte (Insulating Communication Plastic-Geräte) sind eine Kombination von Hörgeräten und Gehörschutz.
  • Kontakt

    Prof. Dr. med. Tilman Brusis
    Institut für Begutachtung; Rautenstrauchstr. 72a; 50931 Köln

    Foto: privat

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