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S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin unter Beteiligung der Gesellschaft für Toxikologie

Arbeiten unter Einwirkung von Quecksilber und seinen Verbindungen

T. Brüning1

P. Welge1

S. Plöttner1

O. Hagemeyer1

T. Weiß1

R. Van Gelder2

J. Bünger1

Vorbemerkung

Diese Leitlinie wird empfohlen, wenn ärztliches Handeln im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit mit Exposition gegenüber Quecksilber oder seinen Verbindungen in diagnostischer, therapeutischer oder präventiver Hinsicht erforderlich ist.

Beachten Sie bitte auch die für das arbeitsmedizinische Leitlinien-prinzip geltenden Besonderheiten sowie die sonstigen fachgebietsrelevanten Handlungsempfehlungen.

Charakterisierung der Einwirkung

Eigenschaften

Quecksilber (Hg) ist das einzige bei Raumtemperatur flüssige Metall. Schmelz- und Siedetemperatur liegen bei –38,87 °C bzw. +356,72 °C. Trotz eines bei Raumtemperatur relativ geringen Dampfdrucks von ca. 0,13 Pa (0,0013 mbar), verdampft metallisches Hg bereits bei Zimmertemperatur. In der Luft kann theoretisch eine Sättigungsdampf-konzentration von ca. 15 mg Hg/m³ erreicht werden (Hollemann u. Wiberg 2008). Somit ist es auch möglich, dass der zulässige Arbeitsplatz-grenzwert (AGW) um ein Vielfaches (u.U. >100x) überschritten werden kann. Dies ist z. B. im Zusammenhang mit Kontaminationen von Arbeits- und Wohnräumen durch elementares Hg toxikologisch bedeutsam. Der aktuelle AGW für Hg liegt bei 0,02 mg/m³, bezogen auf den Elementgehalt an Hg (TRGS 900). Quecksilber sowie anorganische und organische Quecksilberverbindungen sind als haut-resorptiv und hautsensibilisierend eingestuft und wurden von der MAK-Kommission der DFG in Kategorie 3B der krebserzeugenden Stoffe aufgenommen.

Verwendung und Gefährdung

Hg-Expositionen am Arbeitsplatz finden vorwiegend gegen Hg-Dampf statt, wohingegen Expositionen gegen Stäube mit anorganischen Hg-Verbindungen selten sind (DFG 2011). Aufgrund seiner hohen Toxizität und Persistenz in der Umwelt wurde die Verwendung von Hg und seinen Verbindungen in den letzten Jahren bereits stark eingeschränkt. Die Weltproduktion wurde 2012 auf knapp 2000 t geschätzt. Seit dem 15. März 2011 besteht ein Ausfuhrverbot von Quecksilber aus der EU, die Lagerung wurde eingeschränkt (Verordnung EG Nr. 1102/2008) und in vielen Bereichen wurde Quecksilber durch andere Stoffe oder Techniken ersetzt. Verzichtet werden kann auf den früher häufigen Einsatz von Hg z. B. bei der Herstellung von Spiegeln, Filzhüten, in vielen Messgeräten, in Batterien, im Holzschutz und als Saatbeizmittel. Die organische Quecksilberverbindung Thiomersal ist in Impfstoffen nicht mehr oder nur noch in sehr geringen Mengen (1000 bis 100 000fach unterhalb der toxischen Dosis) enthalten. Verzichtet werden muss auf den Einsatz von Quecksilberverbindungen u. a als Antifouling- und Holzschutzmittel, für die Imprägnierung von schweren industriellen Textilien und Garnen zu deren Herstellung, in der Wasseraufbereitung. Quecksilber darf u. a. nicht mehr in Fieberthermometern oder anderen zum Verkauf an die breite Öffentlichkeit bestimmten Messinstrumenten in Verkehr gebracht werden (Verordnung EG Nr. 552/2009 Anhang XVII Nr. 18).

Gesundheitlich relevante Einwirkungen können aber auch heute noch vor allem in folgenden Bereichen vorkommen (in früherer Zeit bzw. teilweise noch in Entwicklungsländern bedeutsame Einwirkun-gen sind in eckige Klammern gesetzt):

Metallisches Quecksilber:

  • Herstellen und Aufbereiten von Hg und seinen Verbindungen (Filtrieren, Reinigen, Oxidieren, Destillieren)
  • Herstellung und Wartung von Hg-gefüllten Messgeräten, insbesondere Thermometern, Barometern, Manometern
  • Herstellung von Leuchtstofflampen („Leuchtröhren“), Kompakt-leuchtstofflampen („Energiesparlampen“) und Hg-Dampflampen. Während früher metallisches Hg in Leuchtstofflampen verwendet wurde, wird es heute in Form eines kleinen Quecksilber-Eisen-Presskörpers oder als Amalgam eingeführt. Bei Billig-importen von Energiesparlampen aus Fernost kann es sein, dass dabei noch metallisches Quecksilber eingesetzt wurde (s. unten: Recycling).
  • Hg-Rückgewinnung (Recycling) z. B. aus obigen Produkten oder Zahnamalgam
  • Wartung und Reparatur von Chloralkalielektrolyse-Zellen, die im sog. Amalgamverfahren verwendet werden
  • Sperrflüssigkeit in Gaslaboratorien
  • Umgang mit zerbrochenen (Kompakt-)Leuchtstofflampen im Entsorgungsbereich
  • Kontaminationen von ehem. Produktionsstätten (z. B. Spiegelbelegereien) und nach akzidenteller Hg-Freisetzung in Arbeitsräumen (z. B. Kesselhäuser, Labore, alte Zahnarztpraxen) oder auch Wohnräumen (z. B. Thermometer, Leuchtstofflampen)
  • [Feuervergolden]
  • [Goldextraktion aus Sand/Gestein]

Anorganische Quecksilberverbindungen:

  • Illegale Anwendung von Quecksilberamidchlorid als Hautbleich-mittel
  • Herstellung von Knopfzellen mit Hg-Oxid
  • [Herstellung von Filzhüten mit Hg-Nitrat]
  • [Kyanisieren von Holz z. B. mit Hg-Chlorid]

Organische Quecksilberverbindungen:

  • Phenyl-Hg-Verbindungen als Katalysator bei der Polyurethan-herstellung; allerdings dürfen diese Verbindungen ab dem 10. Ok-tober 2017 weder als Stoff noch in Gemischen hergestellt, in Verkehr gebracht oder verwendet werden (Verordnung EU 848/2012)

Mit zwar messbaren Hg-Dampfbelastungen, nicht aber mit gesundheitsschädlichen Einwirkungen von Hg ist hingegen beim Ein-setzen und Ausbohren von Amalgamfüllungen unter den heute in Arztpraxen üblichen Bedingungen (Absaugen, Sammeln von Amalgamresten in verschließbaren Behältern) zu rechnen, weder für den Zahnarzt, noch für das Assistenzpersonal und auch nicht für den Patienten (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege – BGW [2007, aktualisiert 2012]).

Im Rahmen der Präventionsarbeit der Un-fallversicherungen werden Messdaten zu Expositionen am Arbeitsplatz im Messsystem Gefährdungsermittlung der Unfallversicherungsträger (MGU) ermittelt und dokumentiert. Alle im MGU erhobenen Daten werden in der Expositionsdatenbank MEGA (Messdaten zur Exposition gegenüber Gefahrstoffen am Arbeitsplatz) gespeichert (Gabriel et al. 2010). Eine Auswertung der MEGA-Daten zur Quecksilber-Exposition am Arbeitsplatz durch das Institut für Arbeitsschutz (IFA)der DGUV ergab für verschiedene Branchen die in  Tabelle 1 dargestellten Werte (IFA 2011):

Zur aktuellen Exposition bei der Herstellung oder beim Recycling von Kompaktleuchtstofflampen, liegen noch keine repräsentativen Daten vor. In einem derzeit laufenden Messprogramm zu dieser Fragestellung ist beabsichtigt, Luftkonzentrationen in herstellenden Betrieben und Recyclingbetrieben zu messen. Erste orientierende Messungen an kommunalen Sammelstellen im Atembereich der Beschäftigten zeigten Messwerte deutlich unter einem Zehntel des Arbeitsplatzgrenzwertes. Die gemessenen Hg-Gehalte waren auf zerbrochene Altlampen im Behälter zurückzuführen (Thullner 2012).

Die Ergebnisse von nachstellenden Prüfkammeruntersuchungen zu verschiedenen Szenarien, die u. a. auch den Bruch quecksilberhaltiger Leuchtmittel beinhalten, sind dargestellt in Thullner et al. (2013).

Überwachung der Exposition

Eine häufig angewendete Messtechnik für die Bestimmung von Quecksilber in Blut, Urin und Luftproben ist die kalte flammenlose Atomabsorptions-Spektroskopie (AAS), deren Empfindlichkeit und Spezifität durch Zwischenanreicherung von metallischem Hg-Dampf an Gold noch wesentlich gesteigert werden kann. Neben direkt anzeigenden Geräten für Hg-Dampf (sog. Hg-Monitore) können für Luftanalysen auch Passivsammler mit Goldfolie und für die Bestimmung von Gesamt-Hg Aktivsammler (Impinger mit saurer Kaliumpermanganatlösung) für eine anschließende AAS-Analyse eingesetzt werden. Noch niedrigere Bestimmungsgrenzen als mittels AAS sind mit der Kaltdampf-Atomfluoreszenz-Spektroskopie zu erzielen.

Zur Bestimmung der Belastung einer Person mit Quecksilber hat sich die Ausscheidung von Quecksilber mit dem Urin als geeigneter erwiesen als die Bestimmung der Hg-Konzentration in der Raumluft (Bender et al. 2006; DFG 2011). Das Biomonitoring mit Analysen im Urin hat sich gut bewährt, da sich die Hg-Konzentration im Urin als ein spezifischer und empfindlicher Indikator einer chronischen Quecksilberbelastung bei einer Exposition gegenüber metallischem und anorganischem Quecksilber erwiesen hat. Feld-untersuchungen haben gezeigt, dass die tatsächliche stoffliche Belastung durch die Kreatininkorrektur der Quecksilberkonzentrationen in Spontanurinproben besser beschrieben wird als bei reinem Volumenbezug. Der Parameter „Quecksilber im Vollblut“ ist wegen eines signifikanten Einflusses von Fischmahlzeiten auf die Hg-Konzen-tration im Blut nicht spezifisch genug, um eine berufliche Belastung gegenüber anorganischem und metallischem Quecksilber aufzuzeigen. Die Ergebnisse von Speicheluntersuchungen hängen stark von der Amalgamversorgung und der Kaubelastung der Zähne ab, Haaranalysen zeigen nur erhöhte Belastungen mit Methyl-Hg-Verbindungen an. Unter anderem auch aufgrund fehlender Vergleichs- oder Referenzwerte sind Untersuchungen in Speichel oder Haaren nicht geeignet, die innere Belastung mit Hg abzubilden.

Von der Arbeitsgruppe „Aufstellung von Grenzwerten in biologischem Material“ wurde 2005 ein BAT-Wert für Quecksilber und seine anorganischen Verbindungen von 30 µg Hg/L Urin abgeleitet. Nach Berücksichtigung des Kreatinin- anstelle des Volumenbezugs, wurde der BAT-Wert 2007 auf 25 µg Hg/g Kreatinin geändert (DFG 2009). Bei dieser Hg-Konzentration ist nicht mit klinisch relevanten neurotoxischen Veränderungen oder Hg-bedingten nephrotoxischen Wirkungen zu rechnen. Dieser Grenzwert wurde als Biologischer Grenzwert (BGW) in die TRGS 903 übernommen. Der BGW für organische Quecksilberverbindungen wurde 2013 ausgesetzt und damit der MAK-Kommission gefolgt, die den BAT-Wert 2001 aufgrund der Einstufung in die Kanzerogenitätskategorie 3B ebenfalls ausgesetzt hatte.

In Analogie zur Absenkung des BAT-Wertes für Quecksilber und anorganische Verbindungen wurde auch der entsprechende MAK-Wert abgesenkt und beträgt jetzt 0,02 mg Hg/m³ Luft (DFG 2011). Dieser Wert wurde auch als Arbeitsplatzgrenzwert in die TRGS 900 übernommen. Aufgrund des großen Abstandes zwischen dem MAK-Wert (0,02 mg/m³) und der im Tierversuch gentoxischen Dosis (2 mg/kg) wurde trotz der Einstufung in Kategorie 3B der krebserzeugenden Stoffe ein MAK-Wert abgeleitet. Weil Hg und anorganische Hg-Verbindungen eine lange Halbwertszeit und eine systemische Wirkung aufweisen, wurden sie der Kurzzeitwertkategorie II mit dem Überschreitungsfaktor 8 zugeordnet (DFG 2011). Organische Quecksilberverbindungen sind durch die MAK-Kommission ebenfalls in Kategorie 3B der krebserzeugenden Stoffe eingestuft. Deshalb wurde der MAK-Wert (wie auch der BAT-Wert, s. oben) ausgesetzt. Eine EKA-Korrelation kann nicht abgeleitet werden.

Das Biomonitoring ist auch zur Feststellung der Hg-Exposition in der Allgemeinbevölkerung geeignet. Der Referenzwert, definiert als 95. Perzentil der im Umwelt-Survey 1998 untersuchten Personengruppe, für Erwachsene (18–69 Jahre; ohne Amalgamfüllungen) beträgt 1,0 µg/L Urin. Der Median lag unter der Bestimmungsgrenze von 0,2 µg/L. 98 % aller untersuchten Erwachsenen weisen Hg-Konzentrationen unterhalb von 5,1 µg/L im Urin auf. Höhere Werte finden sich meist als Folge von Amalgamfüllungen, noch höhere Werte weisen auf andere Quellen hin. Der Referenzwert für Erwachsene (18–69 Jahre, höchstens 3 Fischmahlzeiten pro Monat) für Hg im Vollblut beträgt 2,0 µg/L. Die Konzentration im Blut wird vor allem durch den Fischkonsum (Methyl-Hg) beeinflusst, übersteigt in der deutschen Bevölkerung aber nur selten 3 µg/L Blut (Wilhelm et al. 2004; Becker et al. 2002, 2006).

Obwohl die Gewinnung von Harn- oder Blutproben zur Hg-Analyse nicht an einen bestimmten Zeitpunkt der Probenahme gebunden ist, wird aus Standardisierungsgründen empfohlen, die Gewinnung des Probenmaterials am Ende einer Arbeitswoche durch-zuführen. Bei Probenahmen von Urin (ca. 20 ml Morgenurin) ist strikt auf eine Vermeidung von Kontaminationen z. B. von der Arbeits-kleidung zu achten. Geeignet sind Einmalgefäße, für Blut insbesondere bereits mit EDTA präparierte Entnahmebestecke. Es stehen spezielle Entnahmegefäße mit besonders geringen Hg-Leerwerten zur Verfügung. Die Analysen müssen dem Stand der Technik und den Qualitätskriterien der arbeitsmedizinisch-toxikologischen Analytik entsprechen. Das beauftragte Laboratorium muss über die entsprechende Fachkunde und apparative Ausstattung verfügen. Wenn das Laboratorium über ein gültiges Zertifikat über die erfolgreiche Teilnahme an einem Ringversuch für diese Analyten, zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V., teilgenommen hat, kann davon ausgegangen werden, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind (AMR 6.2, Biomonitoring)

Im Falle des Überschreitens des Arbeitsplatz- bzw. biologischen Grenzwertes (BGW) und wenn eine Substitution nicht möglich ist, sind technische und/oder organisatorische Maßnahmen zur Verminderung der Exposition zu ergreifen, erforderlichenfalls ist persönlicher Atemschutz zu tragen. Versetzungen vom Arbeitsplatz sind insbesondere bei individuell erhöhten Belastungswerten infolge unzureichender persönlicher Schutzmaßnahmen zu erwägen.

Wirkungen auf den Menschen

Pathomechanismen

Quecksilber wirkt bei chronischer inhalativer Exposition des Menschen neurotoxisch, d. h. das Hauptzielorgan bei wiederholter Exposition ist das Nervensystem. Darüber hinaus wirkt Hg nach wiederholter dermaler Exposition hautsensibilisierend. Hg und seine Verbindungen können inhalativ, peroral sowie perkutan aufgenommen werden. Elementares Hg wird im Körper schnell zu zweiwertigen Hg-Ionen oxidiert, die über die Bindung an SH-Guppen primär als Eiweißgifte wirken. Die biologische Halbwertszeit für metallisches Hg oder Hg++ variiert, je nach Organ und Redoxstatus, von einigen Tagen bis Monaten (Bernhoft 2012). Metallisches Hg und Alkyl-Hg sind aufgrund ihrer lipophilen Eigenschaften für das ZNS toxischer als ionische Verbindungen. Sie passieren auch leichter die Plazenta.

Bei Exposition mit elementarem Hg und anorganischen Verbindungen erfolgt die Ausscheidung hauptsächlich über den Urin, bei organischen Verbindungen über den Stuhl.

Krankheitsbilder und Diagnosen

In Abhängigkeit von der jeweiligen Bindungsform (elementar, anorganisch, organisch) dem Aufnahmeweg (inhalativ, oral, dermal) und der Zeitdauer der Aufnahme (akut, subakut, chronisch) verursachen Hg und seine Verbindungen unterschiedliche Symptome.

Für die häufigste chronisch-inhalative Form einer Hg-Dampf-Vergiftung sind folgende Leitsymptome charakteristisch:

  • (Intentions-)Tremor,
  • Stimmungslabilität (Erethismus),
  • Sprechstörungen (Psellismus), in schweren Fällen außerdem
  • Stomatitis und Gingivitis sowie
  • Proteinurie (Nephrotoxizität).

Schwere Schädigungen des ZNS einschließlich Hirnnerven (v. a. Seh- und Hörnerv) sowie Parästhesien sind insbesondere für Vergiftungen durch Alkyl-Hg-Verbindungen charakteristisch.

Für Kleinkinder wird eine teilweise deutlich erhöhte Empfindlichkeit auf Hg als Morbus Feer/Akrodynie-Syndrom oder auch „pink disease“ beschrieben.

Für die Entstehung der Erkrankungen genügen kurze, im Extrem-fall sogar nur einmalige akute Aufnahmen in einer Größenordnung von einem Vielfachen der Arbeitsplatzgrenz- bzw. BGW-Werte.

Vergiftungen durch Alkyl-Hg-Verbindungen sind durch symptomfreie Latenzzeiten von gelegentlich mehr als 3 Wochen nach der Aufnahme gekennzeichnet.

Differenzialdiagnostisch sind zur Hg-Vergiftung insbesondere psychovegetative und neurasthenische Syndrome, Schilddrüsenüberfunktion und neurologisch-psychiatrische Krankheitsbilder (Multiple Sklerose, amyotrophe Lateralsklerose, Parkinson-Syndrom, Demenz etc.) in Betracht zu ziehen. Eine Hg-Vergiftung ist häufig bereits aufgrund des Verlaufes (enge zeitliche Beziehung, kein weiteres Fortschreiten nach Expositionsunterbrechung) wahrscheinlich zu machen oder auszuschließen.

Für die Akuttherapie von Hg-Vergiftungen werden in der Literatur Komplexbildner, insbesondere Dimercaptopropansulfonsäure-Natrium, DMPS bzw. Dimaval® (Heyl) in einer Dosierung von bis zu ca. 1000 mg/Tag (p.o. oder i.v.) empfohlen. Entscheidend dabei ist allerdings eine normale Nierenfunktion, die die etwa 10- bis 100fach erhöhte Ausscheidung von Hg mit dem Urin bewältigt, und eine ausreichende Flüssigkeitsgabe. Nebenwirkungsreicher und weniger effektiv sind Behandlungen mit anderen Komplexbildnern (z. B. BAL oder D-Penicillamin). Die Effektivität der Behandlung sollte durch Untersuchung der Sammelurine überprüft werden.

Bei chronischen Hg-Vergiftungen lässt sich nach Normalisierung der Hg-Ausscheidung keine Effektivität der Behandlung nachweisen. In diesen Fällen ist eine Behandlung mit Komplexbildnern nicht indiziert. Zu beachten ist ferner, dass die Komplexbildner auch bei Amalgamfüllungsträgern hohe Hg-Ausscheidungen im Urin provozieren können.

Versicherungsrechtliche Aspekte

Der begründete Verdacht auf eine berufsbedingte Hg-Vergiftung (Berufskrankheit nach Nr. 1102 des Anhangs der Berufskrankheitenverordnung) ist an die zuständige Unfallversicherung (Berufsgenossenschaft) oder die im jeweiligen Bundesland zuständige Stelle des medizinischen Arbeitsschutzes (Gewerbeaufsicht) zu melden. Der Verdacht ist u. U. bereits bei typischer beruflicher Anamnese und charakteristischer Symptomatik als begründet anzusehen. „Positive“, d. h. oberhalb der Referenzwerte liegende Biomonitoringbefunde können den Verdacht weiter erhärten. Aufgrund der relativ kurzen biologischen Halbwertszeiten können aber bereits wenige Monate nach Beendigung der Exposition auch wieder unauffällige Befunde im biologischen Material vorliegen. Im Falle sehr starker Exposition sollen sich bleibende Ablagerungen von Hg in der hinteren Linsenkapsel des Auges mit der Spaltlampe nachweisen lassen (sog. Atkinson-Augenreflex).

Im Rahmen der Zusammenhangsbegutachtung sind insbesondere die Expositionsbedingungen mit dem Krankheitsverlauf in Relation zu bringen. Im Falle der Bestätigung eines wahrscheinlichen Ursachenzusammenhanges muss außerdem die MdE infolge der Berufskrankheit abgeschätzt werden. Sie beträgt 20 % für leichte neurasthenische Syndrome und bis zu 100 % bei schweren hirnorganischen Beeinträchtigungen.

Die Zahl der auftretenden anerkannten Berufskrankheiten ist in den letzten Jahren gesunken und betrug in den letzten 10 Jahren nie mehr als 5 Fälle pro Jahr.

Prinzipien der primären Prävention

Substitution von Hg durch weniger gefährliche Stoffe bzw. technische und organisatorische Maßnahmen oder, wenn diese nicht ausreichen, auch persönliche Schutzmaßnahmen, sind Schritte, um die Gefährdung der Gesundheit der Beschäftigten zu reduzieren (STOP-Prinzip). Grundlage ist dabei eine aktuelle Gefährdungsbeurteilung, in der die Hygienemaßnahmen am Arbeitsplatz berücksichtigt werden.

Prinzipien der arbeitsmedizinischen Prävention/Gesundheitsüberwachung

Bei Arbeitnehmern, die gegenüber Quecksilber und/oder anorganischen Quecksilberverbindungen sowie Alkylquecksilberverbindungen exponiert sind, ist gemäß Anhang Teil 1 (1) der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) eine Pflichtvorsorge zu veranlassen, wenn der Arbeitsplatzgrenzwert für den Gefahrstoff nach der Gefahrstoffverordnung nicht eingehalten wird, oder eine wiederholte Exposition nicht ausgeschlossen werden kann, und der Gefahrstoff ein krebserzeugender oder erbgutverändernder Stoff oder eine Zubereitung der Kategorie 1 oder 2 im Sinne der Gefahrstoffverordnung ist oder die Tätigkeiten mit dem Gefahrstoff als krebserzeugende Tätigkeiten oder Verfahren Kategorie 1 oder 2 im Sinne der Gefahrstoffverordnung bezeichnet werden oder der Gefahrstoff hautresorptiv ist oder eine Gesundheitsgefährdung durch Hautkontakt nicht ausgeschlossen werden kann.

Eine Angebotsvorsorge ist vom Arbeitgeber bei Tätigkeiten mit Quecksilber und/oder anorganischen Quecksilberverbindungen sowie Alkylquecksilberverbindungen anzubieten, wenn eine Exposition nicht ausgeschlossen werden kann, und der Arbeitgeber keine Pflichtvorsorge zu veranlassen hat.

Die Vorsorge hat vor Aufnahme der Tätigkeit nach dem Stand der Arbeitsmedizin zu erfolgen. Gemäß Arbeitsmedizinischer Regel (AMR) 2.1 beträgt die Frist für Nachuntersuchungen 6–12 Monate. Der Arbeitsmediziner bzw. Betriebsarzt kann hierzu den DGUV Grundsatz G 9 heranziehen.

Insbesondere bereits durchgemachte Hg-Vergiftungen, Neuropathien, Nierenschäden und Schilddrüsenstörungen gelten als Kontraindikationen gegen eine (Weiter-)Beschäftigung unter Hg-Exposition.

Qualitätskriterien

Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer führt das Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. Ringversuche zur Bestimmung von Quecksilber im Urin und im Blut durch ( www.g-equas.de/ ).

Hinsichtlich weiterer qualitätssichernder Maßnahmen wird auf die Dokumentationen der DFG für die Begründungen der BAT-Werte sowie für die Analysen in biologischem Material (DFG 1983, 1999) und das Kapitel „Qualitätssicherung Biomonitoring“ im Handbuch der Arbeitsmedizin (Goen et al. 2010) verwiesen.

Literatur

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Becker K, Schulz C, Kaus S, Seiwert M, Seifert B: German Environmental Survey 1998 (GerES III): environmental pollutants in urine of the German population. Int J Hyg Environ Health 2003; 206: 15–24.

Bender HF, Beziel M, Krehenwinkel H, Lademann H, Münstedt R, Menig H, Nasterlack M: Korrelation zwischen inhalativer Hg-Aufnahme und Hg-Auscheidung. Gefahrstoffe Reinhalt Luft 2006; 66: 465–468.

Bernhoft RA: Mercury toxicity and treatment. A review of the literature. J Environ Pub Health 2012; 2012: 460508.

Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege – BGW (Hrsg.): Quecksilber in Zahnarztpraxen (2007, aktualisiert 2012) Online verfügbar unter https://www.bgw‑online.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medientypen/bgw_forschung/GP4_Quecksilber_in_Zahnarztpraxen_Download.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff 07.01.2015).

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Senatskommission zur Prüfung ge-sundheitsschädlicher Arbeitsstoffe: Quecksilber – Bestimmung in Blut und Harn – Atomabsorptionsspektroskopie – Kaltdampftechnik. In: Analytische Methoden zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe. Analysen in biologischem Material. Band 2, Wiley-VCH, Weinheim, 1983.

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Senatskommission zur Prüfung ge-sundheitsschädlicher Arbeitsstoffe: Antimon, Blei, Cadmium, Platin, Quecksilber, Tellur, Thallium, Wismut, Wolfram, Zinn – Bestimmung in Harn – Quadrupol-ICP-MS, In: Analytische Methoden zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeits-stoffe. Analysen in biologischem Material, 13. Lfg., Wiley-VCH, Weinheim, 1999.

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe: Addendum zu Quecksilber und seine an-organischen Verbindungen. In: Biologische Arbeitsstoff-Toleranz-Werte (BAT-Werte) und Expositionsäquivalente für krebserzeugende Arbeitsstoffe (EKA) und Biologische Leitwerte (BLW), Arbeitsmedizinisch-toxikologische Begründungen. 16. Lfg., Wiley-VCH, Weinheim, 2009.

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Senatskommission zur Prüfung ge-sundheitsschädlicher Arbeitsstoffe: MAK- und BAT-Werte-Liste 2012, Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe, Mitteilung 50, Wiley-VCH, Weinheim, 2014.

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Senatskommission zur Prüfung ge-sundheitsschädlicher Arbeitsstoffe: Quecksilber und anorganische Quecksilber-verbindungen. In: Gesundheitsschädliche Arbeitsstoffe – Toxikologisch-arbeitsmedizinische Begründungen von MAK-Werten, 51. Lieferung, Wiley-VCH, Weinheim, 2011.

Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV): DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen, 6. Aufl. Stuttgart: Gentner, 2014.

Gabriel S, Koppisch D, Range D: The MGU – a monitoring system for the collec-tion and documentation of valid workplace exposure data. Gefahrstoffe Reinhalt Luft 2010; 70: 43–49.

Hollemann A, Wiberg E: Lehrbuch der Anorganischen Chemie, 102. Aufl. Kapitel XXIII. Die Zinkgruppe, Abschnitt 2, Das Quecksilber, 2008; S. 1497–1512.

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Jung D: Anorganisches Quecksilber. In: Konietzko J, Dupuis H (Hrsg.): Hand-buch der Arbeitsmedizin, Band 2, 30. Erg. Lfg. 9-02. Landsberg: ecomed, 2002.

Göen T, Schaller KH, Drexler H: Qualitätssicherung arbeitsmedizinisch-toxiko-logischer Analysen – Maßnahmen zum Erhalt zuverlässiger Ergebnisse des Bio-monitoring. In: Letzel S, Nowak D (Hrsg.): Handbuch der Arbeitsmedizin. Lands-berg: ecomed, 2010.

Technische Regeln für Gefahrstoffe 900 (TRGS 900): Arbeitsplatzgrenzwerte, Aus-gabe Januar 2006, zuletzt geändert und ergänzt: GMBl 2013, S. 943–947 [Nr. 47].

Technische Regeln für Gefahrstoffe 903 (TRGS 903): Biologische Grenzwerte (BGW), Ausgabe Februar 2013, zuletzt geändert und ergänzt: GMBl 2013, S. 948–951 [Nr. 47].

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Wilhelm M, Ewers U, Schulz C: Revised and new reference values for some trace elements in blood and urine for human biomonitoring in environmental medicine. Int J Hyg Environ Health 2004; 207: 69–73.

Erarbeitet von:

R. Schiele, Jena (1998)

Erste Aktualisierung von:

T. Brüning, T. Mensing, T. Weiß (2006)

Zuletzt überarbeitet und aktualisiert von:

T. Brüning, Bochum, P. Welge, Bochum, S. Plöttner, Bochum, O. Hagemeyer, Bochum, T. Weiß, Bochum, R. Van Gelder, St. Augustin, J. Bünger, Bochum

Verabschiedet vom Vorstand der DGAUM: November 2013

Die vorliegende Fassung der Leitlinie wurde mit der Gesellschaft für Toxikologie abgestimmt (Juli 2014).

Hinweise bitte an:

Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. (DGAUM)

Schwanthaler Straße 73 b

80336 München

Fax: +49 (89) 33 03 96-13

E-Mail: gs@dgaum.de

Fußnoten

1 Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung – Institut der Ruhr-Universität Bochum (IPA), Bochum (Direktor: Prof. Dr. med. Thomas Brüning)

2 Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA), Sankt Augustin