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Ein steiniger Weg zur Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin

Wie eine Internistin zur Arbeitsmedizin findet

ASU: Man spricht von der demografischen Katastrophe in der Arbeitsmedizin. Über 50 % der Betriebsärzte sind älter als 60 Jahre, 39 % sogar über 65 Jahre. Und keine Lösung in Sicht. Betriebsärztlich ausgebildete Ärzte werden händeringend gesucht. Für sich persönlich haben Sie eine pragmatische Antwort darauf gefunden. Vielleicht ein Beispiel für viele. Sie engagieren sich beide – nicht ohne persönliche Opfer – als Coach und Lernende in der Weiterbildung. Wie kam es dazu?

Dr. Stichert: Dr. Schwerdtfeger ist auf mich zugegangen und hat gefragt, ob sie bei mir eine Weiterbildung im Fach Arbeitsmedizin machen kann. Da sie mir sehr sympathisch war, habe ich dann die Weiterbildungserlaubnis beantragt, die ich schon in den Jahren zuvor mehrfach in anderen Einrichtungen inne hatte.

Frau Schwerdtfeger: Es gibt immer wieder Zeiten, in denen ich meine Arbeit als Internistin in eigener Praxis sehr mag, aber die Zwänge der Kassenmedizin mich zum Nachdenken bringen. Ich habe dann überlegt, was ich mir als zweites Standbein neben der Kassenmedizin aufbauen kann und bin auf die Arbeitsmedizin gestoßen. Über einen Kontakt in einem arbeitsmedizinischen Zentrum ist mir dann Frau Stichert empfohlen worden.

ASU: Frau Dr. Stichert, Sie haben eine Weiterbildungsstelle für das Fachgebiet Arbeitsmedizin eingerichtet und sind autorisiert, Ihre Kollegin zu coachen, mit dem Ziel der Weiterbildung zur Gebietsbezeichnung Arbeitsmedizin und Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin. Frau Schwerdtfeger, Sie verfolgen dieses ehrgeizige Ziel mit erheblichem persönlichem Aufwand. Welche Motivationen haben Sie beide zusammengeführt?

Dr. Stichert: Gegenseitige Sympathie.

Frau Schwerdtfeger: Die Zukunftsperspektive und der Spaß an der Arbeit, wenn ich mit Frau Stichert zusammen war.

ASU: Welche rechtlichen und administrativen Grundlagen sind für Ihre Weiterbildungsinitiative erforderlich? Und welche vertraglichen Vereinbarungen treffen Sie untereinander?

Dr. Stichert: Ich als Weiterbildnerin benötige sowohl die eigene fachliche Qualifikation wie auch die geeigneten Firmen, um eine breite Ausbildung gewährleisten zu können. Hinzu kommen noch die notwendigen Gerätschaften. Wir haben einen Weiterbildungsvertrag in Teilzeit abgeschlossen, was zum Glück in der heutigen Zeit möglich ist, da ich einerseits keine volle Weiterbildungsstelle als einzelne Praxisinhaberin finanzieren kann und andererseits Frau Schwerdtfeger als zweifache Mutter neben ihrer Praxistätigkeit nicht mehr Zeit aufbringen könnte.

Frau Schwerdtfeger: Am Anfang war das Durcheinander mit den Aussagen von KV und Ärztekammer sehr verwirrend. Die KV erwartete, dass meine Praxis maximal 14 Stunden weniger betreut würde und die Ärztekammer erwartete eine Mindestweiter-bildungszeit von 15 Stunden. Nachdem wir diese Formalien geklärt hatten, KV und ÄK hatten sich zwischenzeitlich auf 15 Stunden geeinigt, konnten wir mit der Weiterbildung beginnen. Es ist nach wie vor für mich sehr anstrengend, meine Zeit zwischen Praxis, Weiterbildungsstelle und Familie aufzuteilen. Ohne persönliche Sympathie würde es in dem kleinen Rahmen nicht gehen.

ASU: Als Ärztinnen sind Sie beide berufstätig. Der Zeitaufwand für die Weiterbildungsmaßnahme ist sicher erheblich. Wie stimmen Sie Ihre jeweiligen Arbeitsabläufe und Zeitpläne miteinander ab?

Dr. Stichert: Ich weiß, an welchen Tagen Frau Schwerdtfeger nicht in der Praxis anwe-send sein wird und kann in dieser Zeit Termine mit ihr vereinbaren, bzw. sie vereinbart selbstständig Termine mit den von ihr unter meiner Anleitung betreuten Firmen.

Frau Schwerdtfeger: Zu Beginn bin über längere Zeit mit Frau Stichert zusammen zu ihren Firmen gefahren und konnte mir anschauen, wie sie eine Betreuung durchführt. Wir trafen uns zu diesem Zweck bei ihrer Praxis und fuhren gemeinsam zu den Firmen. Auf diesen Fahrten konnten wir viele Fragen bereits ausführlich klären. Wir waren beide sehr motiviert. Inzwischen betreue ich mir zugewiesene Firmen und wenn ich in einer Firma war, verabrede ich meistens sofort einen Folgetermin und informiere Frau Stichert. Bei Schwierigkeiten kann ich sie jederzeit ansprechen oder hinterher mit ihr Lösungsmöglichkeiten diskutieren.

ASU: Weiterbildung zur Betriebsärztin ist ein aufwändiger Lernaufwand an Theorie und Praxis. In welchen Intervallen werden Lernerfolgskontrollen und von welcher Institution durchgeführt? Und welche Rolle üben Sie, Frau Dr. Stichert, als Supervisorin dabei aus?

Dr. Stichert: Ich erhalte permanent einen Einblick in die Art und Weise, wie Frau Schwerdtfeger die Firmen betreut. Dies geschieht, indem ich mir regelmäßig die Akten ansehe bzw. beispielsweise ASA-Sitzungen, oder Begehungen im Nachgang mit ihr durchspreche.

Frau Schwerdtfeger: Den A- und B-Kurs in der arbeitsmedizinischen Weiterbildung habe ich schon vor Aufnahme der Arbeit bei Frau Stichert absolviert. Dadurch, dass wir uns regelmäßig sehen und die Akten gemeinsam durchgehen, weiß Frau Stichert immer, auf welchem Lernstand ich mich be-finde. Die Prüfung durch eine unabhängige Institution erfolgt erst zum Ende der Weiterbildung in der Facharztprüfung.

ASU: Frau Schwerdtfeger, Sie haben Patienten bisher in Ihrer Hausarztpraxis betreut. Patienten im Arbeitsprozess haben Sie bisher nicht erlebt. Wie gestalten Sie beide die Annäherung an die Realitäten in der heutigen Arbeitswelt?

Dr. Stichert: Ich betreue eine größere Firma, zu der auch eine Werksambulanz gehört. Für mich war es wiederum interessant zu erleben, wie Frau Schwerdtfeger mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen umgeht. Auf diese Weise können wir beide voneinander lernen.

Frau Schwerdtfeger: Für mich ist es äußerst interessant, meine Patienten am Arbeitsplatz zu erleben. Ich bekomme einen ganz anderen Blick auf die Lebensrealität meiner Patienten.

ASU: Sind Sie auf Barrieren als Betriebsärztinnen im Umgang mit Beschäftigten, Vorgesetzten, Personalleitern, Betriebsräten gestoßen und in welchen Fällen?

Dr. Stichert: In den Firmen habe ich immer die volle Unterstützung erhalten, wenn ich davon gesprochen habe, dass ich im Rahmen des bevorstehenden Ärztemangels eine Weiterbildungsstelle eingerichtet habe. Da Frau Schwerdtfeger sehr nett und kompetent bei den Firmen auftritt, sind diese völlig zufrieden.

Frau Schwerdtfeger: Ich bin noch völlig unbeschadet.

ASU: Unternehmen – und damit auch die Arbeitsmedizin – stehen vor großen Herausforderungen in der Zukunft. Stichwörter dazu sind: demografischer Wandel mit altern-den Belegschaften, neue Kommunikationsformen, sich ändernde berufliche Anforderungen, wachsende mentale Belastungen und Gefährdungen, um einige zu nennen. Welche Phänomene treffen Sie zunehmend bei Ihrer betriebsärztlichen Beratung an?

Dr. Stichert: Die Belegschaften werden zunehmend älter, die Anforderungen vor allem in zeitlicher Hinsicht immer größer, so dass ich meine Hauptaufgabe darin sehe, Beschäftigten als Anlaufstelle zu dienen und Arbeitgeber auf diese Umstände eindringlich aufmerksam zu machen, bevor Beschäftigte erkranken und dann ausfallen. Leider erlebe ich es immer wieder, dass Institutio-nen wie die Bundesagentur für Arbeit, die Integrationsämter oder die Rentenversiche-rung sich hinter Akten verstecken und den Menschen nicht sehen wollen. Die angeb-lich eingerichteten gemeinsamen Service-stellen funktionieren nach meinen bisherigen Erfahrungen bis auf wenige Ausnahmen nicht. Hilfreich sind in den Fällen allenfalls persönliche Kontakte, die man sich über Jahre erarbeitet hat, aber dies ist als überörtlicher Dienstleister in allen Kommunen nur schwer zu realisieren.

Frau Schwerdtfeger: Sowohl in der Arbeits-als auch in der Hausarztmedizin fällt ein hoher Anteil an psychischen Erkrankungen auf. Vor allem, wenn sowohl im beruflichen wie auch im häuslichen Umfeld enorme Belastungen auf den Beschäftigen oder Patienten einprasseln, wird es schwierig. Die Arbeitgeber gehen sehr unterschiedlich damit um. Ich denke, dass eine wichtige Aufgabe als Arbeitsmedizinerin darin besteht, auf derartige Missstände aufmerksam zu machen und die Institutionen zu sensibilisieren.

ASU: Werden Sie nach Erreichung des Weiterbildungsziels auch weiter kooperieren, ggf. eine betriebsärztliche Gemeinschafts-praxis aufbauen? Wie gesagt, Betriebsärzte haben eine Alleinstellung, sie sind nah am Beschäftigten und nah am Betrieb, sie kennen die Zusammenhänge und der Bedarf an Ihren Leistungen nimmt exponentiell zu.

Dr. Stichert: Ich kann mir eine solche Zusammenarbeit sehr gut vorstellen.

Frau Schwerdtfeger: Fände ich sehr reizvoll!

ASU: Vielen Dank für dieses Interview.

Das Gespräch führte:

Gernot Keuchen

Gentner Verlag, Stuttgart

    Persönlicher Kommentar einer Weiterbildungs- beauftragten

    Als Einzelkämpfer in eigener Praxis bedeu-tet die Schaffung einer Weiterbildungsstelle, dass man sehr eng mit einer Person zusammen arbeiten muss. Dies setzt vor-aus, dass man sich persönlich sehr gut versteht. Es fängt schon damit an, dass man den Schlüssel seiner Praxis weitergibt, um derjenigen damit Zugang zu Unterlagen oder zentral gelagertem Impfstoff zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass man zur Finanzierung dieser Stelle zusätzliche vertragliche Kundenbindungen eingehen muss, mehr als man als Einzelner schaffen kann. Dies bedeutet gleichzeitig die Abhängigkeit davon, dass die Person, die man weiterbildet, sich absolut kooperativ dem Weiterbildner gegenüber verhält und zur Erfüllung dieser Verträge aktiv beiträgt. Auch die Betriebe bevorzugen häufig einen alternativ tätigen Betriebsarzt, der dem originären Betriebsarzt in der Vorgehensweise ähnlich ist, was ebenfalls bei der Auswahl der Person des Weiterzubildenden eine Rolle spielt. Auf der anderen Seite bedeutet es eine wirksame Bereicherung der eigenen Arbeit, da man eng zusammenarbeitet und kommuniziert. Das hat Rückwirkung auf den eigenen Arbeitstil und Aussagen, da man erklären muss, warum man es so und nicht anders macht. Für die eigene Tätigkeit ist dies durchaus eine Bereicherung.

    Dr. med. Monika Stichert

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