Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Führungskräfte

Führungskräfte im Fokus1

Besondere Anforderungen der Führungstätigkeit und Empfehlungen für die Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen

Leadership in the Focus of Interest – Special Requirements for the Practice of Leadership and Recommendations for Risk Assessment of Psychosocial Stress

Einleitung

Die Relevanz psychischer Erkrankungen im Arbeitsunfähigkeitsgeschehen hat in den letzten Jahren rasant zugenommen (z. B. Techniker Krankenkasse 2022, s. „Weitere Infos“). Als Konsequenz aus der zunehmenden Bedeutung psychischer Gesundheit in der Arbeitswelt hat der Gesetzgeber reagiert und mit einer Ergänzung des deutschen Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) für mehr Verbindlichkeit in diesem Handlungsfeld gesorgt. So ist im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung (§ 5 ArbSchG) seit 2013 auch die Beurteilung psychosozialer2 Belastungsfaktoren explizit vorgeschrieben (§ 5 Abs. 3 Nr. 6 ArbSchG). Insbesondere diese Art der Belastungsfaktoren ist auch für die Arbeitssituation von Führungskräften relevant.

Obwohl in der Gefährdungsbeurteilung ein tätigkeitsbasierter Ansatz verfolgt wird (§ 5 Abs. 2 Satz 1 ArbSchG), werden Führungskräfte als spezifische Zielgruppe beziehungsweise die Tätigkeit des Führens und Managens bisher selten gesondert berücksichtigt. Führungskräfte werden in der Arbeitsschutzverantwortung gegenüber ihren Mitarbeitenden hierbei meist ausschließlich als die ausführenden Akteurinnen und Akteure gesehen. Zudem wird Führung eher als Positionsmerkmal und weniger als Aufgabe verstanden. Den Fokus auf führungsspezifische arbeitsbezogene Risikofaktoren sowie die damit zusammenhängende Gesundheit der Führungskräfte selbst zu legen, ist in Wissenschaft und Praxis gleichermaßen immer noch eine Seltenheit (z. B. Barling u. Cloutier 2017). Dies stellt auch vor dem Hintergrund der Größe der Zielgruppe eine nicht unerhebliche Lücke dar – in der repräsentativen Erwerbstätigenbefragung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) gaben etwa ein Drittel aller Befragten an, der oder die direkte Vorgesetzte für andere Mitarbeitende zu sein (Lück et al. 2019, s. „Weitere Infos“). Und auch für diesen Teil der abhängig Beschäftigten gilt die generelle Fürsorgepflicht eines jeden Unternehmens.

Führung ist ein entscheidender Einflussfaktor in Bezug auf Leistung, Motivation und Gesundheit von Beschäftigten (z. B. Montano et al. 2017). Es besteht Konsens, Führung daher als eine wichtige Einflussgröße im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen mitzudenken. Allein zu erfassen, wie die Mitarbeitenden das Verhalten ihrer direkten Führungskraft oder die Führungsbeziehung einschätzen, wird allerdings der Komplexität der Entstehungs- und Wirkzusammenhänge von Arbeitsbedingungen und psychosozialen Belastungsfaktoren nicht gerecht (Jespersen et al. 2016; Schuller 2019). Die Bestandsaufnahme schließt ab, ohne die Entstehungsfaktoren von Führungsverhalten mit zu berücksichtigen.

Die Erwartungshaltung an Führungskräfte hat sich verändert (Weber et al. 2018), moderne, stärker unterstützungs- und entwicklungsorientierte Führungsansätze sind für die Führungskräfte selbst sehr ressourcenintensiv (z. B. Lin et al. 2019) und Führungskräfte sehen sich insbesondere in Veränderungs- und Krisenzeiten mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert (Jungbauer u. Wegge 2015; Thomson et al. 2018; Wittmers u. Maier in Vorbereitung). Dies unterstreicht die Notwendigkeit von regelmäßigem Monitoring der Belastungs- und Ressourcensituation, Prävention und Gesundheitsfürsorge für diese Zielgruppe. Gesundheitsfürsorge für Führungskräfte erfüllt aber nicht nur einen Selbstzweck, sondern wirkt sich durch die Multiplikatorenrolle der Führungskräfte positiv auf die gesamte Organisation aus. Die Reduzierung von psychosozialen Risikofaktoren für diese Gruppe kann präventiv gegen negatives oder gar destruktives Führungsverhalten wirken und schädigende Crossover-Effekte auf die Beschäftigten verhindern.

Um für die Relevanz der Führungstätigkeit im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen zu sensibilisieren, wird im Folgenden durch drei zentrale Handlungsfelder geführt:

  • Arbeitsintensität und Arbeitsintensivierung,
  • Autonomie und Verantwortung,
  • Gestaltung von sozialen Beziehungen.
  • Diese Handlungsfelder thematisieren Arbeitsbedingungen, die nicht nur besonders stark ausgeprägt bei Führungskräften auftreten, sondern bei dieser Zielgruppe klare Spezifika aufweisen. Der Fokus liegt dabei vorrangig auf operativen Führungskräften der unteren und mittleren Managementebenen (z. B. Team-, Gruppen- oder Abteilungsleitende). Die Auswahl der Handlungsfelder basiert auf vorhandenen Studien – empirisch wie konzeptionell – und den bereits beschriebenen Entwicklungen hinsichtlich Erwartungshaltung an und Herausforderungen von Führungskräften. Die drei Handlungsfelder sind nicht vollständig trennscharf und bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. Es werden jeweils Empfehlungen für die Integration in die Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen für Führungskräfte abgeleitet.

    Arbeitsintensität und ­Arbeitsintensivierung

    Eine hohe Arbeitsintensität gilt als Schlüssel­faktor psychosozialer Belastung (Schuller u. Schulz-Dadaczynski 2022). Auch wenn sie ebenfalls motivierendes Potenzial beinhalten kann (Kern u. Zapf 2021), zeigt sich über viele Studien hinweg eine bedeutsame Rolle hoher Arbeitsintensität als gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingung (Stab et al. 2016). Insbesondere im Zusammenspiel mit einem geringen Tätigkeitsspielraum (s. auch unten, „Autonomie und Verantwortung“) kann sie zu eingeschränkter körperlicher und psychischer Gesundheit führen (z. B. Niedhammer et al. 2021). Das dynamische Äquivalent zu Arbeitsintensität stellt Arbeitsintensivierung dar (Franke 2015; Kubicek et al. 2015). Insbesondere Arbeitsintensivierung gewinnt an Bedeutung vor dem Hintergrund von permanenten Veränderungs- und Krisensituationen, die Führungskräfte vor erhöhte Anforderungen stellen. Dynamische Zeiten erfordern dynamische Konstrukte, die wahrgenommene Veränderungen sichtbar machen. Konkret geht es um eine hohe Arbeitsmenge, hohen Zeitdruck, eine starke Gleichzeitigkeit, aber auch Fragmentierung der Arbeit, das heißt verschiedenartige Tätigkeiten sowie Störungen und Unterbrechungen, und reduzierte Zeit für Pausen (Kubicek et al. 2015; Paškvan u. Kubicek 2017; Franke 2015). Neben der Relation von Arbeitsmenge und Zeit werden auch Arbeitsmenge und personelle Ressourcen ins Verhältnis gesetzt, was vor allem für Führungskräfte Relevanz besitzt (Kubicek et al. 2015). Zudem können auch eine hohe Aufgabenkomplexität beziehungsweise eine Zunahme der Komplexität, das heißt neue Aufgaben und neue Verantwortungsbereiche, Teil dieser Konstrukte sein (Zeytinoglu et al. 2007). Da Führungskräfte nicht nur für die eigenen Aufgaben, sondern für das Funktionieren eines Teams oder einer ganzen Organisationseinheit verantwortlich sind, liegt es nahe, dass diese Beschäftigtengruppe besonders mit hoher Arbeitsintensität beziehungsweise einer zunehmenden Arbeitsintensivierung konfrontiert ist. Dies wird auch durch empirische Befunde bestätigt (z. B. Macamo et al. 2022; Steidelmüller et al. 2020, s. „Weitere Infos“). Während der COVID-19-Pandemie haben Führungskräfte Arbeitsintensivierung zum Beispiel aufgrund der notwendigen Reorganisation von Prozessen, der erweiterten Verantwortung im Bereich des Arbeits- und Infektionsschutzes und der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit technischen Lösungen für die Remote-Zusammenarbeit erlebt.

    Die Erfassung von Arbeitsintensität und Arbeitsintensivierung sollte demnach in jedem Fall Teil einer Gefährdungsbeurteilung für Führungskräfte sein. Insbesondere die Arbeitsintensivierung wird trotz ihrer gesundheitlichen Effekte über die Wirkung von Arbeitsintensität hinaus (Franke 2015), in den Gefährdungsbeurteilungen eher vernachlässigt. Bei beiden Aspekten ist eine spezifische Anpassung des Wortlauts der Fragen für Führungskräfte hilfreich, um deren Arbeitsrealität bestmöglich abzubilden. Schuller und Schulz-Dadaczynski (2022) heben die komplexen, miteinander verwobenen Bedingungen auf unterschiedlichen organisationalen Ebenen hervor, die Arbeitsintensität beeinflussen. Die Perspektive von Führungskräften ist deswegen besonders wichtig, da ihre Belastungen verstärkt auch auf übergeordneten Ebenen entstehen und Maßnahmen zur Reduzierung dieser Belastungen darauf abzielen müssen. Bestmöglich wäre dies umsetzbar, wenn bei der Erhebung nach unterschiedlichen Quellen und damit auch Formen von Arbeitsintensität und Arbeitsintensivierung differenziert würde, zum Beispiel Anforderungen von außerhalb der Organisation, auf Basis von Entscheidungen des oberen Managements, resultierend aus Abstimmungsprozessen mit anderen Organisationseinheiten oder auch durch Veränderungen im eigenen Team (s. auch Schuller u. Schulz-Dadaczynski 2022).

    Autonomie und Verantwortung

    Autonomie ist eine zentrale Ressource im Arbeitskontext und kann sowohl bei der Bewältigung von Arbeitsanforderungen als auch bei der Prävention gegen negative Stressfolgen hilfreich sein (z. B. Bradtke et al. 2016, s. „Weitere Infos“). Empirische Befunde zu Autonomie zeigen, dass Führungskräfte über ein höheres Maß an Autonomie verfügen als Beschäftigte ohne Führungsfunktion. Führungskräfte berichten konkret, häufiger ihre Arbeit selbst planen und einteilen zu können, Einfluss auf ihre Arbeitsmenge sowie auf ihre Pausenzeiten zu haben (Steidelmüller et al. 2020). Es zeigen sich dabei auch Unterschiede in Abhängigkeit von der Führungsebene, das heißt, je höher die Führungsebene, desto mehr Handlungsspielraum wird in Bezug zu diesen drei Aspekten berichtet (Steidelmüller et al. 2020). In einer Überblicksarbeit von Zimber et al. (2015) hat sich unter anderem der Handlungsspielraum spezifisch auch für diese Zielgruppe als wichtiger protektiver Faktor gegen Beeinträchtigungsfolgen gezeigt. Dabei ergeben sich einige Besonderheiten bei Führungskräften in Bezug zu Auto­nomie, denen bei der bisher etablierten Art der Erfassung – die unter anderem nicht nach der Hierarchieebene differenziert – noch nicht genügend Rechnung getragen wird und auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll.

    Eine wichtige Besonderheit ist die sogenannte Sandwichposition, in der sich Führungskräfte der unteren und mittleren Managementebenen befinden. Sie haben zwar mehr Autonomie als die Beschäftigten, die sie führen, sind aber häufig selbst auch an Vorgaben von höheren Führungsebenen gebunden, die ihre Autonomie wiederum einschränken. Das bringt Rollenkonflikte mit sich. Sich gleichzeitig an Vorgaben zu halten und im Interesse der Organisation zu handeln sowie die Bedürfnisse der Mitarbeitenden im Blick zu haben, ist nicht immer leicht und oft weit entfernt von tatsächlicher Entscheidungsfreiheit. Insbesondere die manchmal vorherrschende Widersprüchlichkeit, mit der sich Führungskräfte konfrontiert sehen, wird in etablierten Verfahren der Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen noch nicht ausreichend abgedeckt. Das Erleben von widersprüchlichen Anforderungen bei der Arbeit ist zwar mit einem Fragebogenitem Bestandteil von vielen Gefährdungsbeurteilungsinstrumenten (z. B. Copenhagen Psychosocial Questionnaire [COPSOQ]; Burr et al. 2019), allerdings bräuchte es hier eine stärkere Konkretisierung und Differenzierung, um tatsächlich Gestaltungsempfehlungen ableiten zu können.

    Auch ein Zuviel an Autonomie kann seine
    Schattenseiten haben. Insbesondere in Verbindung mit einem Erleben hoher Arbeits­intensität und einer emotionalen Komponente der Tätigkeit (s. unten „Gestaltung von sozialen Beziehungen“), bedarf es guter Selbststeuerungs- und Abgrenzungsfähigkeiten der Führungskräfte, um nicht in selbstgefährdende Verhaltensmuster zu rutschen (z. B. Krause et al. 2015). Überlange Arbeitszeiten und ständige Erreichbarkeit sind dabei nur zwei Folgen einer solchen Kombination von Arbeitsanforderungen, die sich empirisch bei Führungskräften zeigen (Ribbat et al. 2021). Autonomie als Entscheidungsfreiheit bedeutet auch, die Verantwortung für diese Entscheidungen zu tragen. Oftmals handelt es sich dabei um Entscheidungen, die weitreichende ökonomische und soziale Konsequenzen haben können. Die Notwendigkeit, wichtige Entscheidungen unter Zeitdruck und Unsicherheit zu treffen, ist eine zentrale Herausforderung von Führungskräften in Krisenzeiten (Hadley et al. 2011; Jungbauer u. Wegge, 2015). Anforderungen, resultierend aus den Bedingungen, unter denen Entscheidungsfindung stattfindet, sowie das Thema Verantwortung als Arbeitsanforderung bleiben dabei in bisher etablierten Erhebungsverfahren ebenfalls weitestgehend unberücksichtigt.

    Insgesamt leitet sich aus diesen Ausführungen die Frage ab, welche Art der Autonomie Führungskräfte brauchen, um eine tatsächliche Erleichterung in Bezug auf ihre Führungstätigkeit zu erleben. Das von Korek et al. (2015) entwickelte Konstrukt des Führungsspielraums sowie das dazugehörige Messinstrument beziehen sich genau auf diese Frage. Dabei unterscheiden sich Führungskräfte darin, wie viel Handlungsspielraum sie in Bezug auf die Bereiche Personalverantwortung, Delegation und Kontrolle von Aufgaben sowie Organisation und Koordination besitzen – klassische Führungsaufgaben also. Höherer Führungsspielraum steht mit höherer Gesundheit und posi­tivem Führungsverhalten im Zusammenhang (Korek et al. 2015). Das Verfahren zur Beurteilung von Arbeitsinhalten, Arbeitsorganisation, Mitarbeiterführung und sozia­len Beziehungen (BAAM; BIT 2022) hält ein Führungsmodul bereit, dass sich spezifischen Ressourcen von Führungskräften sowie dem Thema Rollenkonflikte ebenfalls nähert. Genau solche spezifisch auf die Führungstätigkeit zugeschnittenen Konstrukte und Instrumente braucht es, allerdings erweitert um die oben genannten Herausforderungen.

    Gestaltung von sozialen Beziehungen

    Führung ist ein sozialer Beeinflussungs- und Interaktionsprozess, das heißt, die Anforderungen an Führungskräfte beziehen sich zu einem erheblichen Teil auf die Aufgaben­aspekte, die mit der Einflussnahme auf und die Zusammenarbeit mit Beschäftigten verbunden sind. Dazu gehören beispielsweise die alltägliche Kommunikation, das Delegieren von Aufgaben, Feedback zu geben, Mitarbeitende zu motivieren und Konflikte zu mediieren. Soziale Beziehungen und soziale Unterstützung zählen zu den wichtigsten arbeitsbezogenen Ressourcen und spielen als solche in zahlreichen arbeitspsychologischen Theorien und Modellen eine zentrale Rolle (z. B. Demerouti et al. 2001 oder Ryan u. Deci 2000). Bei Führungskräften gibt es sowohl auf der Seite des Gebens von sozialer Unterstützung und des aktiven Gestaltens von sozialen Beziehungen als auch auf der Seite des Empfangens von sozialer Unterstützung Spezifika zu berücksichtigen.

    Wie oben beschrieben, bedeutet die Tätigkeit des Führens zu einem großen Teil Interaktion mit Beschäftigten. Diese Interaktionsarbeit ist sehr spezifisch und in bisherigen arbeitswissenschaftlichen Modellen und Studien zu wenig berücksichtigt. So gibt es durchaus empirische Befunde zu Dienstleistungs- und Emotionsarbeit; diese bezieht sich aber vorrangig auf die Interaktion mit Kundinnen und Kunden beziehungsweise Klientinnen und Klienten, die meist weniger langfristig und eindeutiger in den Rollen­erwartungen sind. So müssen Führungskräfte eine Balance dazwischen finden, Menschen zu motivieren und eine gute Beziehung zu ihnen aufzubauen, gleichzeitig aber auch ihre Leistung zu beurteilen und gegebenenfalls kritisches Feedback zu geben bis hin zu Kündigungen und Abmahnungen. Bei der Integration von spezifischen Anforderungen aus der Interaktionsarbeit in die Gefährdungsbeurteilung gibt es aktuell sehr positive Entwicklungen (s. auch den Beitrag von Jonas Wehrmann in dieser Ausgabe); eine dezidierte Anpassung auf die Führungstätigkeit als spezifische Form der Interak­tionsarbeit steht aber noch aus. Auch die emotionalen Belastungen, die aus der Führungsinteraktion resultieren, sollten dabei Berücksichtigung finden – sei es aufgrund von Konflikten und Kritik oder aufgrund der Konfrontation mit persönlichen Problemen und Sorgen der Mitarbeitenden – eine Anforderung, die sich in Krisenzeiten verstärkt (Mumford et al. 2007; Wittmers u. Maier, in Vorbereitung). Auch hier wäre eine weitere Differenzierung hilfreich, allerdings hält zum Beispiel der COPSOQ (Burr et al. 2019) zumindest zwei Fragen zu emotionalen Anforderungen und der Konfrontation mit den persönlichen Problemen anderer Menschen bereit.

    Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob nicht gerade diejenigen, bei denen soziale Unterstützung und die Gestaltung von so­zialen Beziehungen eine tätigkeitsimmanente Anforderung sind, nicht selbst mehr soziale Ressourcen benötigen. Führungskräfte sind in ihrem Team die einzigen mit dieser sozia­len Position, das heißt, sie stehen in einer sozialen Beziehung mit ihren Mitarbeitenden, sind aber in Bezug zu ihren Führungsaufgaben allein. Das heißt, es fehlt ihnen die Möglichkeit, sich in ihrem Team mit Peers über ihre Führungsaufgaben auszutauschen. Um hier in Bezug auf das Erleben von sozialer Unterstützung aus unterschiedlichen Quellen und auf unterschiedlichen Ebenen ein differenziertes Bild zu erhalten, sollte bei der Gefährdungsbeurteilung differenziert nach der Unterstützung durch Vorgesetzte, Mitarbeitende beziehungsweise das Team und Peers gefragt werden.

    Zusammenfassung: Forschungs-und Praxisimplikationen zur Integration der Zielgruppe Führungskräfte in die Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen

    Über die spezifischen Empfehlungen zu den drei Handlungsfeldern hinaus (zusammenfassend dargestellt in ➥ Tabelle 1), sollen an dieser Stelle noch einige übergeordnete Empfehlungen für zukünftige Forschungsaktivitäten in diesem Themenfeld und für betriebliche Akteurinnen und Akteure gegeben werden.

    Tabelle 1:  Empfehlungen zur Integration der Zielgruppe Führungskräfte in die Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen

    Tabelle 1: Empfehlungen zur Integration der Zielgruppe Führungskräfte in die Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen

    Wie bereits aufgezeigt wurde, können existierende Instrumente durchaus bereits genutzt werden, um psychosoziale Belastungsfaktoren von Führungskräften zu erfassen. An der ein oder anderen Stelle – siehe unter anderem Führungsspielraum – gibt es auch schon spezifische, auf die Führungstätigkeit zugeschnittene Instrumente. Dennoch besteht noch großer Handlungsbedarf.

    Eine Konsolidierung von Erkenntnissen, idealerweise ergänzt durch eine ganzheitliche Analyse, würde in einem ersten Schritt zur Schärfung und Ergänzung der hier im Überblick dargestellten Empfehlungen dienen. Hierfür würde sich insbesondere ein qualitativer Zugang (Interviews oder Fokusgruppen) eignen, um differenziert die alltäglichen Arbeitsanforderungen von Führungskräften zu erfassen, idealerweise aufgeschlüsselt nach Hierarchieebenen. Basierend auf diesen Erkenntnissen und der Anpassung und Umformulierung von bereits existierenden Fragebogenitems könnte dann ein quantitatives Erhebungsverfahren entwickelt und validiert werden.

    Eine Herausforderung im Gesamtprozess der Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen ist sicherlich das Selbstbild der Führungskräfte. Ihr Rollenverständnis und die ihnen von außen zugeschriebenen Attribute von Stärke und mentaler Gesundheit (Epitropaki u. Martin 2005) können den Blick dafür erschweren, dass auch ihre eigene Gesundheit wichtig ist – für sie selbst, aber auch, weil sie sozusagen Arbeitsbedingung für ihre Mitarbeitenden sind. Die stärkere Integration dieser Zielgruppe in alle Phasen des Gefährdungsbeurteilungsprozesses birgt die Chance, hier ein besseres Bewusstsein, aber auch ein höheres Commitment (Engagement) zu schaffen. Daher macht es in der Phase der Ableitung von Gestaltungsempfehlungen und der Umsetzung von Maßnahmen Sinn, Führungskräfte beispielsweise bei moderierten Workshops und Gruppendiskussionen (siehe z. B. Kersten et al. 2021) nicht nur als Teil ihrer Organisa­tionseinheit mit zu berücksichtigen, sondern auch einen ausschließlich mit Führungskräften besetzten Workshop zu gestalten. Dieser kann dann auf Führungsthemen fokussieren und fördert darüber hinaus noch den bereits erwähnten wichtigen Austausch mit
    Peers.

    Mit den hier beschriebenen Empfehlungen können wichtige Schritte hin zu einer gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung spezifisch für Führungskräfte gegangen werden. Dies ist nicht nur für die psychosoziale Gesundheit von Führungskräften essenziell und Voraussetzung für die oftmals benötigte hohe Leistungsfähigkeit, sondern kommt auch ihren Mitarbeitenden und ihren Organisationen als Ganzes zugute.

    Interessenkonflikt: Die Autorinnen geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

    Literatur

    Ahlers E: Leistungsdruck, Arbeitsverdichtung und die (ungenutzte) Rolle von Gefährdungsbeurteilungen. WSI-Mitteilungen 2015; 68: 194–201.

    BAuA: Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Erfahrungen und Empfehlungen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2014.

    Beck D, Lenhardt U: Consideration of psychosocial factors in workplace risk assessments: findings from a company survey in Germany. Int Arch Occup Environ Health 2019; 92: 435–451.

    Beermann B, Schütte M, Lohmann-Haislah A, Schulz-Dadaczynski A, Rösle U, Rosen P: Stressreport Deutschland 2019. Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Berlin: BAuA, 2019.

    Böhle F, Weihrich M: Das Konzept der Interaktionsarbeit. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2020; 74: 9–22.

    Brandstädter S, Feldmann E, Seiferling N, Sonntag K: Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in kleinen und mittleren Unternehmen – Validierung des Verfahrens GPB-KMU. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2019; 73: 69–77.

    Carstensen T: Neue Anforderungen und Belastungen durch digitale und mobile Technologien. WSI-Mitteilungen 2015; 68: 187–193.

    DGB Index Gute Arbeit: Arbeiten mit Menschen – Interaktionsarbeit. Eine Sonderauswertung auf Basis des DGB-Index Gute Arbeit 2018 für den Dienstleistungssektor 2018. Verfügbar unter: https://index-gute-arbeit.dgb.de/++co++2710716a-e72f-11e8-891f-52540088cada

    Doerflinger N: Social interactions at work: why interactive work should be an analytical category in its own right. Employee Relations: The International Journal 2022; 44: 81–95.

    Dormann C, Brod S, Engler S: Demographic change and job satisfaction in service industries-the role of age and gender on the effects of customer-related social stressors on affective well-being. SMR-Journal of Service Management Research 2017; 1: 57–70.

    Dormann C, Zapf D: Customer-related social stressors and burnout. J Occup Health Psychol 2004; 9:61.

    GDA – Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie: Arbeitsschutz gemeinsam anpacken. Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz. Berlin: Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz (Hrsg.), 2018. file:///D:/Daten/d1758/Downloads/Leitlinie-Psych-Belastung-1.pdf (abgerufen am 15.12.2022).

    GDA – Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie: Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung – Empfehlungen zur Umsetzung in der betrieblichen Praxis. Berlin: Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz (Hrsg.), 2022. file:///D:/Daten/d1758/Downloads/empfehlungen-zur-umsetzung-der-gefaehrdungsbeurteilung-psychischer-belastung.pdf (abgerufen am 17.12.2022).

    Grandey A, Dickter D, Sin H: The customer is not always right: Customer aggression and emotion regulation of service employees. J Organ Behav 2004; 25: 397–418.

    Hacker W, Steputat-Rätze A, Pietrzyk U: Verhältnis- und verhaltenspräventives Gestalten dialogisch-interaktiver Erwerbsarbeit. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2020; 74: 23–33.

    Hahnzog S: Psychische Gefährdungsbeurteilung: Impulse für den Mittelstand. Wiesbaden: Springer Gabler, 2015.

    Hofmann M: Gefährdungsbeurteilung durch den Arbeitgeber bezüglich psychischer Belastungen am Arbeitsplatz. Ein innereuropäischer Vergleich: Berlin: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, 2014.

    Irastorza X, Milczarek M, Cockburn W: Second European Survey of Enterprises on New and Emerging Risks (ESENER-2): overview report: managing safety and health at work. Publications Office of the European Union, 2016.

    Jacobsen H: Strukturwandel der Arbeit im Tertiarisierungsprozess. In: Böhle F, Voß GG, Wachtler G (Hrsg.): Handbuch Arbeitssoziologie. Wiesbaden: Springer, 2018, S. 233–262.

    Junghanns G, Morschhäuser M: Immer schneller, immer mehr. Psychische Belastung bei Wissens- und Dienstleistungsarbeit. Wiesbaden: Springer VS, 2013.

    Kollmer N, Klindt T, Schucht C: Arbeitsschutzgesetz. Mit BetrSichV, BaustellV, BildscharbV, LasrhandhabV, PSA-BV, BiostoffV, MuSchArbV, LärmVibrationsArbSchV, OStrV, ArbMedVV, ArbStärrV, EMFV : Kommentar, 3. Aufl. München: C.H. Beck, 2016.

    Marschall J: DAK-Gesundheitsreport 2013. Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. Update psychische Erkrankungen – Sind wir heute anders krank? (Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, Bd. 5). Heidelberg: medhochzwei Verlag, 2013.

    Metz A, Rothe H: Screening psychischer Arbeitsbelastung. Ein Verfahren zur Gefährdungsbeurteilung. Wiesbaden: Springer, 2017.

    Richter G: Toolbox Version 1.2. Instrumente zur Erfassung psychischer Belastungen. Dortmund, Berlin, Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2010.

    Schmidt C, Pietrzyk U, Burisch M, Mußlick S, Hoffmann S: Psychische Belastungen in der Dienstleistungsbranche. Entwicklung eines Instruments für die Analyse, Bewertung und Gestaltung interaktiver Tätigkeiten 2012 (Projekt F 1912). Dortmund: BAuA, 2012.

    Sliter M, Jones M: A qualitative and quantitative examination of the antecedents of customer incivility. J Occup Health Psychol 2016; 21: 208–219.

    Sträter O: Vermeidung von arbeitswissenschaftlichen Planungsfehlern. Rechtzeitige arbeitswissenschaftliche Planung zur Vermeidung psychischer Belastung. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2022; 57: 19–23.

    Sträter O, Wehrmann J, Unger M, Englisch F: Modulare Analyse der Belastungsfaktoren in Organisationen (MABO) (Teil 2 von 2). Ein ganzheitliches, adaptives und praxisnahes Instrument zur psychischen Gefährdungsbeurteilung. sicher ist sicher 2022; 2: 82–89.

    Thorein A: Dienstleistungsarbeit ist Interaktionsarbeit. Konkretisierung der Gefährdungsbeurteilung psychisch wirkender Belastungen. 2017; S. 1–7. http://www.xn--verdi-gefhrdungsbeurteilung-jkc.de/upload/pdf/Gefaehrdungsbeurteilung_bei_Interaktionsarbeit.pdf (abgerufen am 10.06.2020).

    Thorein A: Micky-Mäuse helfen nicht gegen schwierige Kunden. Arbeitsschutz-Maßnahmen bei Interaktionsarbeit 2020. http://www.xn--verdi-gefhrdungsbeurteilung-jkc.de/upload/pdf/Arbeitsschutz-Massnahmen_bei_Interaktionsarbeit.pdf (abgerufen am 10.06.2020).

    Thorein A, Müller N, Fischer M: Interaktionsarbeit – Notwendigkeit von Forschung und Gestaltung aus gewerkschaftlicher Sicht. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2020; 74: 4–8.

    Tisch A, Beermann B, Wünnemann L, Windel A: Interaktionsarbeit: Herausforderung für die arbeitswissenschaftliche Forschung. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2020; 74: 44–51.

    Wehrmann J: Psychische Belastung in der Interaktionsarbeit. In: Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. Transfer von Sicherheit und Gesundheit. Workshop 2022. Kröning: Asanger, 2022, S. 127–128.

    Wehrmann J: Interaktionsbezogene Stressoren und Ressourcen – Entwicklung einer Taxonomie zur menschengerechten Gestaltung von Interaktionsarbeit. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2023 (im Druck).

    doi:10.17147/asu-1-257889

    Weitere Infos

    Bradtke E, Melzer M, Röllmann L, Rösler U: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Tätigkeitsspielraum in der Arbeit. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), 2016
    https://doi.org/10.21934/baua:bericht20160713/1a

    Lück M, Hünefeld L, Brenscheidt S, Bödefeld M, Hünefeld A: Grundauswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018. Vergleich zur Grundauswertung 2006 und 2012.
    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2019

    https://doi.org/10.21934/baua:bericht20190603

    Steidelmüller C, Steinmann B, Thomson B, Wittmers A: Anforderungen, Ressourcen und Gesundheit von Führungskräften. In: BAuA (Hrsg.): Stressreport Deutschland 2019. Dortmund, Berlin, Dresden: BAuA, 2020, S. 105–117
    https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Stressreport-201…

    Techniker Krankenkasse: Gesundheitsreport 2022 – Arbeitsunfähigkeiten
    https://www.tk.de/resource/blob/2125010/da11bbb6e19aa012fde9723c8008e39…

    Kernaussagen

  • Vor dem Hintergrund führungsspezifischer arbeitsbezogener Risikofaktoren ist es notwendig, operative Führungskräfte im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen adäquat zu berücksichtigen. Den Gesundheitszustand von Führungskräften regelmäßig zu reflektieren, dient nicht nur dem Zweck der spezifischen Gesundheitsfürsorge für diese Zielgruppe, sondern wirkt sich durch ihre Multiplikatorenrolle positiv auf die gesamte Organisation aus.
  • Neben einer hohen Arbeitsintensität und Arbeitsintensivierung zählen das Arbeiten unter widersprüchlichen Anforderungen und Rollenkonflikten sowie die Übernahme von Verantwortung zu den spezifisch für Führungskräfte potenziell gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen. Die höheren Handlungsspielräume, die Führungskräften zur Verfügung stehen, nehmen dabei eine ambivalente Rolle in. Die Gestaltung von sozialen Beziehungen ist ein zentraler Bestandteil der Führungstätigkeit, kann aber ebenfalls mit Belastungen einhergehen – zudem sollten Quellen der sozialen Unterstützung für die Führungskräfte selbst mehr Beachtung erfahren.
  • Existierende Instrumente der Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen können durchaus auch als Monitoring-Instrumente für Führungskräfte genutzt werden, jedoch besteht noch großer Handlungsbedarf bei der Anpassung auf die angesprochenen tätigkeitsspezifischen Anforderungen und Risikofaktoren, um zielgerichtete ganzheitliche Verhältnispräven­tion betreiben zu können.
  • Kontakt

    Anja Wittmers
    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)
    Friedrich-Henkel-Weg 1–25
    44149 Dortmund

    Fotoagentur FOX/Uwe Voelkner

    Koautorinnen
    Dr. Astrid Macamo
    Sophie Niedobetzki
    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Dortmund

    Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.