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Exoskelette – Erfahrungen mit der Erprobung in Logistikbetrieben

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Exoskeletons – Experiences with testing in logistics companies

Exoskeletons are being discussed and advertised in numerous professional and popular media. Meaningful reports on widespread professional use or reliable study results on long-term use are currently unknown. Several hurdles must be overcome before these devices can be successfully introduced on a long-term basis.

Kernaussagen

  • Gefühlte positive Effekte ließen im Verlauf von Testszenarien nach. Aufwendige Anpassung und notwendige individuelle Einstellung der Exoskelette führten zu störendem Aufwand
    für die Anwendenden. Übergreifende wissenschaftliche Studien (Metaanalysen/Leitlinien) konnten bisher keinen dauerhaften Nutzen von Exoskeletten belegen.
  • Bei mehrwöchigen Tests ergab sich bei allen bekannten Pilotierungen eine abnehmende ­Trage-Compliance der Beschäftigten. Positive Effekte wurden nicht über eine Startphase ­hinaus beschrieben, die Akzeptanz bei Beschäftigten ließ im Laufe der Zeit nach.
  • Vor Anwendungstests von Exoskeletten in Betrieben ist eine Recherche zu aktuellen Ent­wicklungen und Einbindung von Expertinnen und Experten erforderlich. Einsatzmöglichkeiten und Aufwand sollten einander gegenübergestellt und abgewogen werden.
  • Exoskelette – Erfahrungen mit der Erprobung in Logistikbetrieben

    In zahlreichen Fach- und Publikumsmedien werden Exoskelette thematisiert und beworben. Aussagekräftige Berichte zu einer breiten beruflichen Anwendung oder belastbare Studienergebnisse zum längerfristigen Einsatz sind bisher nicht bekannt. Vor der dauerhaft erfolgreichen Einführung der Hilfsmittel sind verschiedene Hürden zu überwinden.

    Einleitung

    Exoskelette werden im Arbeitsumfeld von zahlreichen Akteuren zu innovativen, modernen und erfolgreich etablierten Hilfsmitteln erklärt. Aus seit Jahren wiederkehrenden Meldungen über Innovationssprünge und dargestellter Implementierung im Wirkbetrieb an verschiedenen Arbeitsplätzen, resultieren in der Folge Anfragen an Arbeitgebende und betriebsärztlich tätige Kolleginnen und Kollegen. Das Angebot an Exoskeletten ist zwischenzeitlich schwer zu überblicken, zahlreiche Hersteller drängen auf den Markt (siehe Online-Quellen: exoskeletonreport.com). Bei der Recherche im Internet wird der Bildschirm im Ergebnis geflutet von Bildern und Erfolgsmeldungen, so dass bei Beschäftigten, Unternehmens- und Arbeitsschutzverantwortlichen sowie bei Vertretern der betrieblichen Interessenvertretung rasch eine Erwartungshaltung entsteht. Insbesondere bei körperlich belastenden Tätigkeiten wird die Hoffnung auf Erleichterung geweckt. In den Broschüren der Hersteller werden plakative Schlagworte zur Reduzierung des Krankenstands, Vermeidung von Rückenschmerzen oder einer Produktivitätssteigerung platziert („25 % mehr Kraft“, „Performance für Alle“, „30 kg Entlastung pro Hebevorgang“).

    In Industriebereichen, die mit körperlich anspruchsvollen Tätigkeiten assoziiert sind, zum Beispiel die Logistikbranche, gehören Fragestellungen zu Einflussmöglichkeiten auf den Krankenstand, den demografischen Wandel, altersgerechtes Arbeiten und auf die Belastbarkeit im Allgemeinen etc. zum Tagesgeschäft (Steinhilber et al. 2020). Die regelmäßig wiederkehrenden Ankündigungen zum technischen Fortschritt und den Vorteilen, führen, nach Diskussion in verschiedenen Unternehmensgremien, zu Anwendungserprobungen und Testläufen.

    Alle Akteure einbinden

    Zum erfolgreichen und professionellen Ablauf derartiger Erprobungen sind nach Möglichkeit alle entscheidenden Akteure zu beteiligen (siehe Online-Quellen: Checkliste DGUV). Nur so sind zielführende Diskus­sionen zu den gewonnenen Erkenntnissen mit allen Beteiligten auf Augenhöhe möglich (➥ Abb. 1). Hinzuzuziehen sind neben den direkten Anwendenden, die verantwortlichen Führungskräfte, Beschäftigte der betrieblichen Interessensvertretung aus Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sowie Expertinnen und Experten aus den Fachabteilungen (z. B. Betriebstechnik). Neben Einflüssen auf die Gesundheit wird durch Herstellerfirmen regelmäßig eine verbesserte Produktivität proklamiert, weswegen auch Sachverständige für entsprechende Kennzahlen eingebunden werden sollten (Hensel et al. 2020).

    Anwendungstest über mehrere Wochen schwierig zu realisieren

    Betriebliche Tests verlaufen in der bisherigen Erfahrung zunächst mit einer gewissen Euphorie, zumindest bei einem Teil der Anwendenden. Um aussagekräftige Erkenntnisse zu Tragekomfort und dem Nutzen in der Alltagsanwendung zu erhalten, sind die Testzeiträume „so lange wie möglich“ auszuwählen. Es zeigten sich bisher allerdings große Schwierigkeiten, die Anwendung über einen Zeitraum von mehreren Wochen erfolgreich zu testen.

    Auch an Standorten mit einer großen Zahl von Beschäftigten stellt die Rekrutierung von Mitarbeitenden, die an einem Trageversuch über beispielsweise zwölf Wochen konsequent teilnehmen wollen und können, eine schwer zu bewältigende Herausforderung dar (Bär et al. 2021). Die Beschäftigten sollten als Mindestkriterien für die Testteilnahme eine gewisse Technikaffinität und Offenheit mitbringen. Daneben ist das Commitment für die mehrwöchige Anwendung sowie eine robuste Gesundheit notwendig, damit möglichst der komplette Testzeitraum durchgeführt werden kann (➥ Tabelle 1 und ➥ Tabelle 2, Beispielfragen für Auswertung mit Skalierung).

    Tabelle 1:  Beispielfragen für Auswertung der Akzeptanz unmittelbar nach Arbeitsende

    Tabelle 1: Beispielfragen für Auswertung der Akzeptanz unmittelbar nach Arbeitsende
    Tabelle 2:  Beispiel für Auswertungen nach Abschluss des Testzeitraums

    Tabelle 2: Beispiel für Auswertungen nach Abschluss des Testzeitraums

    Tragebereitschaft lässt nach

    Trotz aufrichtiger Motivation und ehrlichem Interesse aller Beteiligten ist die valide Beobachtung eines echten Anwenderszenarios im geplanten und gewünschten Umfang im Arbeitsalltag schwer zu erreichen. Die Gründe lagen in der Vergangenheit teilweise in auftretenden Gerätedefekten im „Real-life“-Betrieb, wobei diese Endpunkte durch technische Verbesserungen durch die Hersteller sicherlich abzustellen sind. Problematischer war bisher in erster Linie die nachlassende Tragebereitschaft der Beschäftigten im zeitlichen Verlauf der Testungen.

    Die proklamierten Erleichterungen wurden vom überwiegenden Teil der Mitarbeitenden im Verlauf der Anwendungserprobung zunehmend in Frage gestellt, beziehungsweise verneint. Die von den Herstellern dargestellten Erfolgsmeldungen konnten in Anwendungsszenarien bisher nicht bestätigt werden (Kai et al. 2022). Auch die dargestellten verbesserten Produktivitätsparameter wurden nach Aussage der beteiligten betrieblichen Spezialisten nicht erreicht. Als wesentlichste Gründe für die nachlassende Trage-Compliance der Beschäftigten in der Daueranwendung werden störende Bewegungseinschränkungen und Gewicht, fehlender erkennbarer Nutzen und nachlassender Tragekomfort genannt (Giustetto et al. 2021).

    Ursachen für Diskomfort

    Überlegungen zu den Hinderungsgründen, warum das Konzept der Exoskelette in der betrieblichen Realität schwer in den realen Dauereinsatz zu implementieren ist, führen zu biomechanischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Diese werden auch in Zukunft, trotz großer Bemühungen schwierig zu überwinden sein. Ansatz- und Ursprungsorte von Sehnen und Muskeln liegen evolutionär bedingt an den für Beweglichkeit und Kraftwirkung idealen Punkten der biologischen Strukturen. Von außen an den Körper angebrachte Hilfsstrukturen (Exoskelette) können diese idealen Punkte niemals perfekt abbilden, da Körpergewebe, Kleidung und Polster der Exoskelette dazwischenliegen. Bei regelmäßiger dauerhafter Tragezeit sind Druck- oder Reibungspunkte, die zusammen mit der eingeschränkten Bewegungsfreiheit zu störendem Diskomfort führen, ein wesentlicher Faktor. Egal ob aktive oder passive Exoskelette, die Kraftrichtung kann niemals exakt die natürlichen Bewegungsrichtung nachbilden. Bei dauerhafter Anwendung wird ein unangenehmes Gefühl für den Tragenden mit hoher Wahrscheinlichkeit problematisch bleiben.

    Komplexität natürlicher Bewegungen

    Um natürliche Gelenkbewegungen und Bewegungsabläufe möglichst ideal nachzubilden und durch Feder- oder Motorkraft zu unterstützen, müssen die Exoskelette so nah wie möglich an den Körperstrukturen und so perfekt wie möglich an das betreffende Individuum angepasst sein. Der hierfür zu betreibende Aufwand ist enorm und zeitaufwendig; es müssen erhebliche Ressourcen aufgewendet werden. Gelenke des Menschen werden in der Modellvorstellung nach technischen Gelenken benannt. Gleichzeitig sind die Bewegungen von biologischen Gelenken bei näherer Betrachtung nur näherungsweise vergleichbar, aber keineswegs identisch zu technischen Gelenken, zum Beispiel im Maschinenbau. Wenngleich auch menschliche Gelenke in fünf Hauptformen eingeteilt werden (Kugelgelenk, Eigelenk, Sattelgelenk, Scharniergelenk, Zapfen-, Dreh-, Radgelenk) so sind die tatsächlichen Bewegungsabläufe dadurch schwer exakt zu beschreiben. Zum Beispiel tritt im Kniegelenk ein Roll-Gleit-Mechanismus in Kombination mit einer Schlussrotation auf, es wird als Dreh-Scharniergelenk mit fünf Freiheitsgraden bezeichnet. Den Bewegungsverlauf des Kniegelenkes, beispielsweise beim Gehen, durch ein außen auf den Körper angebrachtes technisches Hilfsmittel exakt abzubilden und die Unterstützung eines natürlichen Bewegungsmusters so zu erreichen, dass dauerhaft kein störendes Gefühl entsteht, ist nur eingeschränkt möglich. Bei natürlichen Bewegungsabläufen sind zudem Ketten von Körperstrukturen und Gelenken beteiligt, was die Gestaltung von Exoskeletten zusätzlich vor enorme Herausforderungen stellt.

    Vergleich zu bewegendes Gewicht – Gewicht des Hilfsmittels

    In der Logistikbranche sind von den Beschäftigten täglich hohe Sendungsmengen zu bewegen. In einer insgesamt technologisierten Industriegesellschaft ist dabei der Anteil der manuellen Lastenhandhabung nach wie vor hoch. Gleichzeitig ist das durchschnittliche Sendungsgewicht im weit größten Teil des Sendungsspektrums niedriger als 5 kg. Das Eigengewicht der Exoskelette liegt zumeist in eben dieser Größenordnung, bei aktiven Exoskeletten liegt es durch Motorelemente und Energiespeicher tendenziell höher.

    Um einen für die Beschäftigten dauerhaft nachvollziehbaren unterstützenden Effekt zu generieren, erscheint es erforderlich, dass am Körper getragene passive Exoskelette leichter sein müssen als die zu bewegenden Lasten. Zudem unterstützen Exoskelette in der Regel effektiv nur in einem kleinen Ausschnitt des Bewegungsspektrums, beispielsweise bei der Rumpfaufrichtung nach Vorbeuge. Im betrieblichen Alltag finden vielfältige und komplexe Bewegungsabläufe statt, bei denen dann ein Exoskelett überwiegend ineffektiv getragen wird. Dem kleinen Bewegungsbereich, der unterstützt wird, steht ein hoher Einstellaufwand gegenüber. Bei Arbeitsunterbrechungen, Pausen oder zum Beispiel
    einem Toilettengang sind Exoskelette dagegen üblicherweise ausschließlich hinderlich.

    Erkenntnisse aus Anwendungstest

    Die am besten nutzbare Wirkung entfalten Exoskelette aktuell bei gleichförmigen monotonen Bewegungen, die allerdings besser durch Maßnahmen der Verhältnisprävention reduziert werden sollten und denen zum Beispiel über ein Job-Enlargement entgegenzuwirken wäre.

    Für einen höheren Tragekomfort und eine höhere Akzeptanz müssen Exoskelette leicht und angenehm zu tragen sein, ohne den Bewegungsspielraum einzuschränken. Gleichzeitig müssen so hohe Kräfte abgegeben werden, dass ein Benefit für Anwendende deutlich spürbar ist.

    Fazit

    Für die Betriebsverantwortlichen steht einer Daueranwendung ein unklarer oder mangelhafter Kosten-Nutzen-Effekt hinderlich gegenüber, für die Beschäftigten in erster Linie die Einschränkung der natürlichen Bewegungsspielräume und fehlender langfristig spürbarer deutlicher Benefit. Dieser konnte auch wissenschaftlich bisher nicht belegt werden.▪

    Interessenskonflikt: Der Autor gibt an, dass keine Interessenskonflikte vorliegen.

    Literatur

    Bär M, Steinhilber B, Rieger MA, Luger T: The influence of using exoskeletons during occupational tasks on acute physical stress and strain compared to no exoskeleton – A systematic review and meta-analysis. Appl Ergon 2021; 94: 103385. doi: 10.1016/j.apergo.2021.103385. Epub 2021 Mar 3. PMID: 33676059.

    Giustetto A, Vieira Dos Anjos F, Gallo F, Monferino R, Cerone GL, Di Pardo M, Gazzoni M, Micheletti Cremasco M: Investigating the effect of a passive trunk exoskeleton on local discomfort, perceived effort and spatial distribution of back muscles activity. Ergonomics 2021; 64: 1379–1392. doi: 10.1080/00140139.2021.1928297 (Open Access). Epub 2021 May 24. PMID: 33970812.

    Hensel R, Keil M, Sielaff B, Hofmann N, Mayer TA, Maiwald C: Auswirkungen der Nutzung von Exoskeletten auf die zeitliche Bewertung manueller Arbeitsabläufe mit dem MTM-Prozessbausteinsystem. In: Bericht zum 66. Arbeitswissenschaftlichen Kongress vom 16.–18. März 2020, Beitrag B.8.4.

    Heinrich K, Johns J, Ralfs L et al.: Exoskelette:
    Aktueller Kenntnisstand. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2022; 57: 746–749. doi:10.17147/
    asu-1-240648.

    Steinhilber B, Luger T, Schwenkreis P et al.: The use of exoskeletons in the occupational context for primary, secondary, and tertiary prevention of work-related musculoskeletal complaints. IISE Trans Occup Ergon Hum Factors 2020; 8: 132–144. doi:10.1080/24725838.2020.1844344. Epub 2020 Nov 30. PMID: 33140996.

    Online-Quellen

    Checkliste für den betrieblichen Einsatz von Exoskeletten
    https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/3909

    Exoskeleton Report – Rising Strong Using Exoskeleton T­echnology
    https://exoskeletonreport.com/

    Beispiel: Exoskelett zur Unterstützung der Rumpfaufrichtung nach Vorbeuge. Wirksamkeit limitiert bei überwiegendem Teil der alltäglichen Bewegungsmuster

    Foto: DHL Group

    Beispiel: Exoskelett zur Unterstützung der Rumpfaufrichtung nach Vorbeuge. Wirksamkeit limitiert bei überwiegendem Teil der alltäglichen Bewegungsmuster

    Kontakt

    Dr. med. Benjamin Keller
    SNL HR Deutschland; Abt. Arbeitsmedizin und ­Gesundheitsschutz; Deutsche Post AG; Betriebsarztpraxis Nürnberg; Kesslerstraße 1; 90489 Nürnberg

    Foto: Susanne Ehrenschwender-Irrgang

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