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Eine Kommentierung aus psychiatrisch-psychosomatischer Perspektive

Negatives Altersstereotyp und Ageism in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt

Definition von Ageism beziehungsweise negativem Alterssterotyp

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2015, 2020, s. „Weitere Infos”; Rudnicka et al. 2020) definiert Ageism wie folgt:

„Ageism“ bezeichnet Stereotype, Vorurteile und Diskriminierungen gegenüber Menschen auf Grund ihres Alters. Ageism ist weit verbreitet und hat erhebliche negative Folgen für die Betroffenen. Für ältere Menschen ist Ageism eine alltägliche Erfahrung, weil sie deswegen in der Arbeitswelt und von sozialen Hilfen ausgeschlossen werden und in der Öffentlichkeit negativ dargestellt werden. Ageism marginalisiert ältere Menschen und schließt sie von der Teilhabe am Sozialleben aus.

Ageism ist überall zu finden und wird als „normal“ wahrgenommen wegen der weit verbreiteten Vorurteile dem Alter gegenüber. Es gibt daher diesbezüglich kaum Antistigmaaktivitäten wie sie hinsichtlich Rassismus oder Sexismus selbstverständlich sind.”

Wissenschaftlich wird dieses Thema unter den Stichworten des „negativen Altersstereotyps“ oder der „Altersdiskriminierung“ beschrieben.

Negatives Altersstereotyp in der ­Gesellschaft

In der Öffentlichkeit wie in Fachkreisen ist das Thema „Alter“ vielfach negativ besetzt (Amrhein u. Backes 2007). „Alte“ werden als Last für die Jungen angesehen, als leistungsunfähig, unflexibel und hilfsbedürftig. Allerdings ist Altersdiskriminierung ein Phänomen, das man nicht nur in Bezug auf höhere Altersgruppen findet, sondern über die gesamte Lebensspanne, da Menschen andere Personen, die fünfzehn bis zwanzig Jahre jünger oder älter sind als sie selbst, eher negativ beurteilen (Raymer et al. 2017). Dies hat jedoch für ältere Menschen eine besondere Bedeutung.

Negative Altersstereotype lassen sich in vielen gesellschaftlichen Gruppen beobachten, wie bei den Gewerkschaften, in politischen Parteien oder sogar in wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters wird in Teilen der Bevölkerung sogar als eine unsoziale Maßnahme gesehen. Eine Altersdiskriminierung ist teilweise auch in den Köpfen der Älteren selbst zu finden. Sie geben Funktionen freiwillig oder sogar vorzeitig ab aufgrund eines bestimmten Altersdatums, ohne dass eine inhaltliche Notwendigkeit besteht. Berentung und altersbegründete Arbeitslosigkeit wird oft mit einer Art Dauerurlaub verwechselt, wobei übersehen wird, dass selbst längere tätigkeitsfreie Urlaubszeiten zur Belastung werden können. Die Freistellung von der Arbeitspflicht wird als Chance zur Selbstverwirklichung gesehen, ohne zu berücksichtigen, dass dies nur für einen Teil der Menschen gilt, da die Selbststeuerung der eigenen Aktivität ein hohes Maß an Selbstkontrolle erfordert, die viele Menschen nicht aufbringen, wie das Beispiel sportlicher Aktivität zeigt.

Folgen des negativen Alters­stereotyps

Eine gesellschaftliche Folge des negativen Altersstereotyps ist die Zwangsberentung vieler Menschen mit Mitte sechzig. Was als wohlmeinende Hilfe für Ältere gedacht ist, bedeutet in der Realität, dass Menschen in Angestelltenberufen zwischen 65 und 67 Jahren ausschließlich wegen ihres Alters entlassen werden. Faktisch sind sie damit Arbeitslosen gleichgestellt, mit zum Teil Verlust der Sozial-, Tages- und Anforderungsstruktur sowie sozialer und psychologischer Diskriminierung, aber auch erheblichen finanziellen Einbußen. Wer 2000,– € über 45 Jahre verdient, bekommt etwa 900,– € Rente. Für Arbeitslose unter 65 Jahren hat die Bundesregierung im Jahr 2019 eine Milliarde Euro bereitgestellt, um sie mit viel Aufwand in den Arbeitsmarkt einzugliedern, obwohl sie in der Regel krank, leistungsgemindert und nicht selten auch nicht arbeitsmotiviert sind. Mit 65 werden sie dann aber wieder in die Arbeitslosigkeit zurückgeschickt, zusammen mit allen anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die durchaus in der Mehrzahl leistungsfähig und -motiviert sind. Derartige Schlechterstellungen von Älteren finden sich auch in anderen Lebensbereichen, wie beispielsweise einer geringeren psychotherapeutischen Versorgung, obwohl dies weder über die Notwendigkeit noch über die Wirksamkeit zu begründen ist.

Stigmatisierung und Negativstereotype beeinflussen unmittelbar das Verhalten, das Selbstbild und das Selbsterleben von Menschen und nicht zuletzt auch, wie Menschen altern (Ayalon u. Tesch-Römer 2018). Es ist zu diskutieren, ob ein Teil der negativen Altersentwicklungen in Wahrheit Folgen der berentungsbedingten Altersarbeitslosigkeit sind. Es gibt wissenschaftliche Hinweise, dass die zerebrale Leistungsfähigkeit wesentlich auch von einer Leistungsanforderung abhängt, was auch für die körperliche Leistungsfähigkeit gilt, obwohl derartige Leistungsanforderungen (köperlich wie mental) nicht mit einem subjektiven positiven Erleben verbunden sein müssen (Hashimoto et al. 2017).

Neben diesen psychischen und sozialen Folgen des negativen Altersstereotyps sind auch die politischen Folgen von Bedeutung. Die jüngeren Jahrgänge werden gezwungen, durch ihre Arbeit die vorzeitigen wie auch die regulären Renten zu finanzieren, während gleichzeitig die so genannten Senioren daran gehindert werden, sich selbst zu ernähren. Dabei muss bedacht werden, dass mit zunehmend längeren Ausbildungszeiten die verbleibende Phase der produktiven Arbeit immer kürzer wird, wenn es nach oben hin eine gesetzliche Begrenzung gibt. Die Gesellschaft kann auf den Beitrag von ca. 20% der Bevölkerung zum wirtschaftlichen und sozialen Erhalt des Landes nicht ohne Weiteres verzichten. Es ist politisch nicht haltbar, dass die so genannte „Sandwichgeneration“ für viele voll leistungsfähige Menschen den Lebensunterhalt bezahlt, nur weil diese über 65 sind.

Alterspotenziale

Diesen negativen Altersstereotypen steht entgegen, dass ein zunehmend großer Teil der Bevölkerung über 65 ist, mit einer weiteren Lebenserwartung von etwa einem Vierteljahrhundert, mit fortbestehender Leistungsfähigkeit und guten Fach- und Sozialkompetenzen (Lindenberger u. Staudinger 2018). So können 78-Jährige selbstverständlich Präsident der Vereinigten Staaten oder Bundestagspräsident sein, sogar dann, wenn eine schwerwiegende körperliche Beeinträchtigung vorliegt. Es gibt einen beträchtlichen Anteil Menschen, die auch mit 65+ Jahren noch zum eigenen Einkommen wie zum Gemeinwohl etwas beitragen können und wollen. Eine fortbestehende Leistungsfähigkeit Älterer ist dadurch gegeben, dass am modernen Arbeitsmarkt wesentlich Soft Skills und keine körperlichen Anforderungen gestellt werden. Leistungsfähigkeit ist unter modernen Lebensbedingungen vom Alter weit weniger abhängig als früher. Es ist zu beobachten, dass Ältere nach der Pensionierung zunehmend weiterhin eine Tätigkeit suchen mittels eines Ehrenamtes. Allerdings kann dies nicht die Einkommensverluste ausgleichen. Es hat in der Regel auch nicht dieselbe Verbindlichkeit wie eine Arbeitsanstellung.

Es gibt in der Gerontologie drei wesentliche und zum Teil konträre Denkansätze zum Ausscheiden aus dem Berufsleben:

  • Die Disengagement-Theorie besagt, dass es ein Bedürfnis älterer Menschen sei, sich aus gesellschaftlichen Rollen und Aktivitäten zurückzuziehen und dass dies zu einer höheren Lebenszufriedenheit führe.
  • Dem steht die Kontinuitätshypothese entgegen, nach der es im Alter wichtig sei, eine innere und äußere Kontinuität zu wahren.
  • Die Aktivitätstheorie schließlich sagt aus, dass die Ausfüllung sozialer Rollen und die damit verbundene gesellschaftliche Anerkennung ein wesentlicher Faktor für eine hohe Lebenszufriedenheit ist, wobei allerdings unklar ist, wie Menschen in Zukunft generell zur Arbeit unter dem Thema der Work-Life-Balance stehen.
  • Positiv ist zu vermerken, dass ältere Menschen und Themen rund um das Alter zunehmend medial präsent sind und auch der Aspekt eines aktiven und fitten Alters wahrgenommen wird. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich ein positiver Wandel der Altersbilder vollzogen, mit einer eher gewinnorientierten statt verlustorientierten Sichtweise.

    Es gibt natürlich ältere, ebenso wie auch jüngere Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr in der Lage sind, am Leben in der Gesellschaft oder der Arbeit teilzunehmen. Es werden auch bereits 20-Jährige wegen Leistungsunfähigkeit berentet. So ist Arbeitsfähigkeit keine Frage des Alters, sondern einer individuell zu bestimmenden Leistungsfähigkeit. Einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen, zeigen, dass die durchschnittliche Gebrechlichkeitsgrenze etwa mit 85 Jahren anzusetzen ist, was jedoch mit Blick auf den Einzelfall keine Vorhersage ermöglicht.

    Schlussfolgerungen

    Aus den vorangestellten Überlegungen zu Ageism ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen: Es sind Maßnahmen zur Veränderung individueller und sozialer Altersbilder zu ergreifen, die die Entwicklungspotenziale von Individuen aufzeigen. Diesbezüglich kommt der Wissenschaft wie der Presse eine wichtige Rolle zu.

    Auf die Diskriminierung von Gruppen wird gesellschaftlich in der Regel sehr sensibel reagiert. Dies gilt bislang jedoch nicht für die Altersdiskriminierung. Die Umsetzung des §1 des Antidiskriminierungsgesetzes (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz), in dem steht, dass „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“ sind, muss von allen politischen und gesellschaftlichen Gruppen deutlicher eingefordert werden. Es sollten Aktivitäten ergriffen werden, um Altersdiskriminierung ebenso zu brandmarken wie die Diskriminierung von Frauen, Behinderten usw. Die Potentiale einer alternden Gesellschaft können nur dann effektiv genutzt werden, wenn jeglicher Altersdiskriminierung entgegengewirkt wird.

    Es ist sozial und grundrechtlich nicht vertretbar, dass Menschen ohne individuelle Begründung nur unter Bezug auf ihr Alter zwangsweise mit 65 Jahren in die Arbeitslosigkeit geschickt werden. Es ist nicht zu begründen, warum es eine Ungleichheit zwischen Arbeitsverträgen im öffentlichen Dienst und im Privatbereich gibt, so dass beispielsweise angestellte Ärztinnen und Ärzte, im Gegensatz zu freiberuflich Tätigen, mit 65 Jahren aus dem Beruf gedrängt werden, auch dann, wenn sie selbst noch weiterarbeiten wollen und obwohl sie teilweise dringend gebraucht werden.

    Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit ist grundsätzlich altersunabhängig zu diskutieren. Es gibt nicht nur ältere Menschen, sondern ebenso jüngere Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen leistungsgemindert sind. Dies wird vor 65 nach fachüblichen sozialmedizinischen Kriterien im Einzelfall geprüft, nach 65 aber generell unterstellt, was sachlich nicht begründet ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Beurteilung der Leistungsfähigkeit kontextbezogen zu adjustieren ist. Es sind deshalb verstärkt Anstrengungen zu unternehmen, die Arbeitsstrukturen und Arbeitsanforderungen unter einer Lebensspannenperspektive zu planen und Arbeitsplätze an die Bedürfnisse und Kompetenzen älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzupassen, so wie das zunehmend auch für Menschen mit Kindern geschieht (Mache u. Harth 2017).

    Die Negativfolgen der Arbeitslosigkeit mit Verlust von Anforderung, Tagesstruktur oder sozialer Einbindung müssen nicht nur bei Menschen unter 65 Jahren, sondern auch bei über 65-Jährigen ernst genommen werden. Es gilt grundsätzlich, dass Arbeitslosigkeit ein Zustand ist, der körperlich und psychisch Menschen jeden Alters negativ beeinflusst. Unangemessene Schonung und erzwungene Inaktivität können gerade im Alter (wie letztlich in jedem Lebensalter) zu mentalem und körperlichem Abbau führen.

    Die Gerontologie und verwandte wissenschaftliche Fachdisziplinen sollten differenziert zu den psychischen Negativ- wie Positivaspekten des höheren Lebensalters wie auch der Berentung Stellung nehmen und gegen ein negatives Altersstereotyp Position beziehen.

    Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

    Literatur

    Amrhein L, Backes GM: Alter(n)sbilder und Diskurse des Alter(n)s. Z Gerontol Geriatr 2007; 40: 104–111.

    Ayalon L, Tesch-Römer C: Contemporary perspectives on ageism. Cham, Switzerland: Springer, 2018.

    Hashimoto M, Araki Y, Takashima Y, Nogami K, Uchino A, Yuzuriha T, Yao H: Hippocampal atrophy and memory dysfunction associated with physical inactivity in community-dwelling elderly subjects: The Sefuri study. Brain Behav 2017; 7: e00620.

    Lindenberger U, Staudinger UM: Höheres Erwachsenenalter. In: Schneider W, Lindenberger U (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, 2018.

    Mache S, Harth V: Kognitive Leistungsfähigkeit von älteren Beschäftigten erhalten und fördern. Zentralbl Arbeitsmed Arbeitsschutz Ergon 2017; 67: 286–290.

    Raymer M, Reed M, Spiegel M, Purvanova RK: An examination of generational stereotypes as a path towards reverse ageism. Psychol Manag J 2017; 20: 148–175.

    Rudnicka E, Napierała P, Podfigurna A, Męczekalski B, Smolarczyk R, Grymowicz M: The

    Weitere Infos

    World Health Organization (WHO):World report on ageing and health. World Health Organization, Geneva, 2015
    apps.who.int/iris/bitstream/han (Anm. d. Red.: Link nicht mehr gültig.)

    Kernaussagen

  • In der Gesellschaft findet sich vielfach ein negatives Altersstereotyp, mit vielfältigen ­Vorurteilen gegenüber Menschen im höheren Lebensalter.
  • Alter ist einer der wenigen Lebensbereiche, in denen Negativstereotype oder Diskriminierung nicht sanktioniert werden, wie das Beispiel der unabweisbaren Altersrente zeigt, die ­bedeutet, dass Menschen zwangsweise in die Arbeitslosigkeit versetzt werden.
  • Negative Altersstereotype beeinflussen nicht nur, wie die Gesellschaft auf Ältere reagiert, sondern auch, wie Ältere sich selbst sehen und wie sie altern.
  • Menschen können sich auch nach dem 65. Lebensjahr noch ein Vierteljahrhundert selbst ernähren, weshalb es nicht gerecht erscheint, dass jüngere Menschen in der Spanne zwischen 25 und 65 für sie aufkommen müssen.
  • Die politischen Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeber und auch die Wissenschaft sind ge­fordert, älteren Menschen eine uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
  • Koautoren

    An der Erstellung des Beitrags beteiligt waren Dr. Mark Burri, Fribourg, Em Schweiz, Invaliden- und Rentenversicherung; Prof. Manfred Fichter, Forschungsgruppenleiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), em. Direktor der Psychosomatischen Klinik Roseneck, Epidemiologe, u.a. Mitautor der Münchner Hochbetagten Studie; Prof. Dr. Hans Gutzmann, em. Direktor der Psychiatrischen Klinik Krankenhaus Hedwigshöhe Berlin, Past-President der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und Psychotherapie; Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Distinguished Professor der Johann Christian Senckenberg-Stiftung an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Frankfurt, em. Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Leipzig, Versorgungsforscher bzgl. psychischer Störungen und zur Versorgung von Senioren; Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Kapfhammer, Graz, em. Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin; Dr. Ulrich Niedermeyer, Sozialpsychiatrischer Dienst Frankfurt/Oder, em. Direktor der Psychiatrischen Klinik Frankfurt/Oder; Prof. Dr. Dr. Wolfgang Schneider, em. Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik Rostock, Leitlinienautor zur Frage der sozialmedizinischen Begutachtung.

    Kontakt

    Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation (FPR); Charité Universitätsmedizin Berlin; Hindenburgdamm 30; 12200 Berlin

    Foto: privat