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50 Jahre Gehörschadenprävention in der Schweiz

Technisches und Organisatorisches – Audiomobilbetrieb

Schweizweit werden in drei Audiomobilen jährlich ca. 25.000 lärmexponierte Beschäftigte untersucht. Die Audiomobile fahren üblicherweise im dreijährigen Turnus bis an alle Landesgrenzen und sind verantwortlich für die Durchführung der Gehörschadenprävention bei den von den Betrieben gemeldeten lärmexponierten Beschäftigten. Das Personal auf den Audiomobilen führt Anamnese, Audiometrie und Beratung unmittelbar vor Ort durch, so dass es praktisch kaum zu Arbeitsausfallzeiten kommt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Audiomobile sprechen bezogen auf die Anforderungen einer Gehöruntersuchung und -beratung alle Landessprachen, wobei Einzelne infolge ihrer Herkunft zusätzlich zum Beispiel portugiesisch, spanisch und serbokroatisch sprechen. Die Schulung des Audiomobil-Teams erfolgt Suva-intern in Form einer praktischen und theoretischen Ausbildung mit Abschlussprüfung unter arbeitsmedizinischer Supervision eines für die Gehörschadenprophylaxe zuständigen Otorhinolaryngologie(ORL)-Arztes. Die Audiometrie-Ausbildung dauert in der Regel sechs Monate. Dabei lernen die neuen Mitarbeitenden auch, wie ein Lastkraftwagen geführt wird und absolvieren den Führerausweis Klasse C. An dieser Tätigkeit Interessierte kommen aus den verschiedensten Berufen, wie beispielsweise Automechaniker, Käser, Elektriker, Drucker, Maurer, Koch, Hörgeräteakustiker, Dentalassistent, Coiffeur etc.1 Da die Audiomobile an Werktagen meist geografisch in großer Distanz vom Hauptsitz der Suva in Luzern unterwegs sind, ist es Voraussetzung, dass die Beschäftigten werktags bereit sind, wohnortfern und flexibel zu arbeiten, im Hotel zu übernachten und nur an den Wochenenden nach Hause und zu ihren Familien zu kommen. Sie befinden sich im so genannten Außendienst und benötigen unter anderem viel psychologisches Geschick im Umgang mit „ihren Untersuchungspersonen“ aus den verschiedensten Industriebranchen, die oft unter zeitlichem Druck ihren Arbeitsplatz für die Untersuchung verlassen, auf Baustellen in schwierigem Gelände kaum abkömmlich sind, weil der Beton gerade anzieht, gesichert an steilen Felshängen in unwegsamem Gelände gearbeitet, frisches Gemüse angeliefert wird und sofort verarbeitet werden muss, die Mitarbeitenden selbst nicht wissen, in welcher Linie der Nahrungsmittelproduktion sie arbeiten und welchen Lärmpegel sie unter Umständen haben, das Arbeitsgelände weiter vom Audiomobilstandort liegt als ursprünglich gedacht oder die Verantwortlichen der Firma ein wichtiges neues Projekt umsetzen wollen und die Monate im Voraus geplante Untersuchung des Gehörs der Beschäftigten plötzlich nicht mehr „passt“, Schichtarbeit die Hörprüfungen erschwert oder verunmöglicht oder Einsatzpläne in Betrieben mit Schicht- und Nachtarbeit nicht mit einem genügenden Vorlauf bekannt waren.

Das Departement Gesundheitsschutz der Suva entschied 2018 die veralteten Audiomobile durch drei neue Fahrzeugen zu ersetzen, die nun sämtliche Voraussetzungen für einen modernen Betrieb der Gehörschadenprävention bieten, aus denen eine elektronische Datenübermittlung an den Hauptsitz der Suva täglich möglich ist und in denen neben zwei parallel nebeneinander laufenden Gehöruntersuchungen in lärmgeschützten Hörkabinen auch ein kleines Büro im Führerstand vorhanden ist, aus dem heraus die Kommunikation mit den Betrieben problemlos auf elektronischem Wege und zeitnah möglich ist.

Die Equipe eines Audiomobils besteht aus drei bis vier Personen, die das Fahrzeug führen und bewegen, am neuen Standort in Betrieb nehmen, im Wechsel audiometrieren, administrative Aufgaben übernehmen und für Installation sowie Ablauf an den Standorten verantwortlich sind und es schließlich auch am Ende der Arbeitswoche grundreinigen. Das Erscheinungsbild der Audiomobile und das Outfit der Teams wurden der Corporate Identity der Suva optisch angepasst. In der Anfangszeit des Audiomobilbetriebs in den 70er Jahren war noch eine oder ein ORL-Ärztin oder -Arzt vor Ort, es wurde analog audiometriert, der Befund auf einem Formular festgehalten und kommentiert sowie die Papierakten archiviert (➥ Abb. 1). Sicherlich ist diese Vorgehensweise heute nicht mehr zeitgemäß und im digitalen Zeitalter nicht mehr so personalintensiv wie früher. Mit Einbruch der Covid-19-Pandemie standen die Audiomobile drei Monate lang im Frühjahr 2020 still, bis die Vorgaben des Bundes und entsprechende Schutzkonzepte die erfolgreiche Wiederaufnahme des Betriebs erlaubten (➥ Tabelle 1).

Tabelle 1:  Entwicklung Gehöruntersuchungen (eigene Darstellung/Datenerhebung)

Tabelle 1: Entwicklung Gehöruntersuchungen (eigene Darstellung/Datenerhebung)

Die aufgebotenen Personen werden vor der Gehöruntersuchung im Eingangsbereich des Fahrzeugs mit einer digitalen Präsentation auf die korrekte Verwendung verschiedener Gehörschutzmittel aufmerksam gemacht und „sehen“, wie sich eine Lärmschwerhörigkeit später bemerkbar machen kann, wobei die dargestellten Personen nicht werbewirksam wirken, sondern Betrachtende das Gefühl haben, es handle sich um einen Arbeitskollegen – eine moderne Visualisierung ohne Distanz und auf Augenhöhe.

Voraussetzung für die korrekte Erfassung aller lärmexponierten Personen ist die Übermittlung der Personendaten durch die Betriebe an die Einsatzleitung der Suva Gehörschadenprävention. Die Planung mit den Betrieben, Vereinbarung der Besuchstermine, Auswahl der Audiomobilstandorte und Versand der Aufgebote erfordert eine Vorlaufzeit von 8–10 Monaten bis zur definitiven Gehöruntersuchung. Im Vorfeld werden vom Bereich „Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz Akustik“ allgemeine und individuelle Lärmtabellen regelmäßig ausgearbeitet und überprüft, das heißt, Fachkräfte der Arbeitshygiene und Arbeitssicherheit besuchen in regelmäßigen Abständen die Betriebe und überprüfen technische Änderungen im Produktionsablauf und die aktuellen Lärmemissionen, die sich aufgrund von Verbesserungen im Schallschutz und zunehmender Reduktion der Lärmemission der Maschinen laufend verändern. Dabei kann es vorkommen, dass ehemals lärmexponierte Beschäftigte aufgrund technischer Optimierung am Arbeitsplatz nicht mehr einem Lärmpegel von >85 dB(A) ausgesetzt sind und daher auch nicht mehr im Audiomobil untersucht werden. Die lärmintensiven Branchen Forst, Metall, Bau, Textilindustrie, Nahrungsmittelindustrie, Bahnverkehr, Gartenbau sowie die Musikbranche dürften im europäischen Ausland mit unserem Klientel übereinstimmen. Der Bereich „Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz Akustik“ übernimmt auch die zuweilen erforderlichen individuellen Gehörschutzberatungen bei mit Hörgeräten versorgten oder stark lärmvulnerablen Personen, die weiterhin lärmexponiert arbeiten und erproben mit diesen Beschäftigten diverse mit Hörgeräten harmonierende Gehörschutzmittel, damit die Betroffenen nicht aus Gründen ihres schlechten Gehörs den Arbeitsplatz verlieren Hierzu gehören elektronisch gesteuerte Aktiv-Gehörschutzkapseln oder spezielle, am Schutzhelm getragene oder einsetzbare Gehörschützer. In der Schweiz ist der so genannte „Hörluchs“ noch nicht erhältlich, der Hörverstärkung und Gehörschutz bei Schwerhörigen in lauter Arbeitsumgebung in einem Gerät vereint. Möchten sich Betriebe oder Sicherheitsfachleute zum Stichwort „Gehörschutz“ informieren, finden sie auf der Suva-Homepage 282 Resultate.

Strukturelle Änderungen seit 2018

Seit 2018 wird ein verstärkter Fokus auf die Prävention anstelle von routinemäßiger Dokumentation gelegt und im Bedarfsfall eine zusätzliche Dämmmessung mit dem mitgebrachten Gehörschutz durchgeführt. Es werden im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge der Suva alle lärmexponierten Personen bis zum 40. Lebensjahr und neu eintretende Beschäftigte über dieses Alter hinaus untersucht und beraten, denn man geht aufgrund wissenschaftlicher Belege davon aus, dass sich berufslärmbedingte Hörschäden vor allem in jungem Alter entwickeln und das Gehör von jungen Exponierten empfindlicher ist als das des älteren Menschen. Ausgenommen von dieser Regelung sind Personen im Gleisverkehr des Bahnschienennetzes, die aus Sicherheitsgründen bis zum Ausscheiden aus dem Berufsleben über ein so genanntes Mindesthörvermögen verfügen müssen und daher im Audiomobil bis zu ihrer Pensionierung aufgeboten werden.

So werden heute bei allen pro Jahr untersuchten ca. 25.000 Personen vermehrt Beratungen beziehungsweise eine Sensibilisierung durchgeführt, wie sie sich individuell und optimal vor Lärm schützen können. Das Ergebnis der Gehörprüfung wird den Beschäftigten vor allem im Vergleich mit vorherigen Ergebnissen und der gültigen Altersnormkurve grafisch dargestellt, kommentiert und als Ausdruck ausgehändigt, der zeigt, ob es stabil ist oder sich eine Verschlechterung ergeben hat, die beobachtet oder weiter abgeklärt werden muss. Zusätzlich findet eine individuelle Gehörschutzmittelberatung statt. Die Untersuchung wird mit einer Präventionsempfehlung beendet.

Im Gegensatz zum europäischen Ausland werden im Schweizer Audiomobil ausschließlich Untersuchungen des Gehörs vorgenommen, keine Lungenfunktionsprüfungen, EKG, Laboruntersuchungen oder Sehprüfungen etc. im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Solche Abklärungen finden an spezialisierten Zentren oder durch Betriebsmedizinerinnen und -mediziner statt.

Eine grundlegende Innovation im Audiomobilbetrieb war die Einführung der Video-Otoskopie im Jahr 2011 vor Ort. Befunde des äußeren und mittleren Ohres infolge auffälliger Audiometrie können seither durch eine vom Audiometristen durchgeführte Video-Otoskopie nach Einverständnis der Untersuchungsperson visualisiert, archiviert und elektronisch zur Triagierung durch ORL-Fachärztinnen und -ärzte der Suva Arbeitsmedizin übermittelt werden. Bei der Otoskopie werden Befunde erhoben, die möglicherweise auf eine berufsfremde Erkrankung des Mittelohrs hinweisen und die dann weiter extern oder intern abgeklärt oder gegebenenfalls zulasten der Krankenkasse der Versicherten behandelt werden können, im häufigsten Fall zum Beispiel Cerumen obturans oder Entzündungen des äußeren Ohrs, Trommelfelldefekte, Exostosen oder Fehlbildungen des äußeren Ohrs, Cholesteatomverdacht, Otorrhoe, Sklerosierungen oder Einziehungen des Trommelfells – alles Erkrankungen, die letztlich eine Erklärung für den Hörschaden bieten können (➥ Abb. 2). Oft werden bei der Video-Otoskopie keine besonderen Pathologien entdeckt, so dass die Ursache der Hörstörung auf andere Art und Weise fachärztlich abgeklärt werden muss.

Abb. 2:  Links: Trommelfelldefekt, Mitte: Sandstrahlerbefund, rechts: Insekt im Gehörgang

Fotos: Suva

Abb. 2: Links: Trommelfelldefekt, Mitte: Sandstrahlerbefund, rechts: Insekt im Gehörgang

Die Audiometristen werden in der Handhabung und im Umgang mit dem Otoskop eingehend durch ORL-Fachärztinnen und -ärzte beziehungsweise die Beauftragten für die Gehörschadenprävention der Suva geschult und in der Handhabung geprüft. Neue Mitarbeitende im Audiomobil legen mehrere Prüfungen über ihr administrativ und praktisch gewonnenes Wissen und Können sowie eine medizinische Grundausbildung ab.

Hilfreich ist das Vorliegen von Audiomobil-Audiogrammen bei Unfalldossiers der Suva wie akustischen Traumata oder anderen Schädeltraumata, da hier auf prätraumatische Hörtests zurückgegriffen und die Unfallkausalität valide beurteilt werden kann. Die Registrierung aller verfügbaren Gehördaten eines Individuums von extern und intern wird von spezialisierten Sachbearbeitenden zuverlässig im Vorfeld von versicherungsmedizinischen Kausalitätsbeurteilungen erledigt. Sie sind auch für die Vorbereitung der wöchentlichen fachärztlichen Triage verantwortlich sowie für die Aufbereitung von Gehördaten in Schadenfällen der Militärversicherung und bei Beratungsdossiers von Fremdversicherungen.

Die Entwicklung des Audiomobilbetriebs ist einem stetigen Wandel unterlegen (➥ Abb. 3). Die Anzahl der untersuchten Personen hat sich durch fortschreitende technische Entwicklung und Reduktion der betrieblichen Lärmemissionen verringert. Im Laufe der Jahre hat sich herauskristallisiert, dass ein Schwergewicht der Prävention auf junge Erwerbstätige zumindest teilweise sinnvoller ist als eine turnusmäßige Kontrolle aller Lärmexponierten bis an das Lebensende, denn die altersbedingte Zunahme des Hörverlusts addiert sich „unbemerkt“ zum Lärmschaden und verfälscht die reine Lärmschwerhörigkeit.

Abb. 3:  Audiomobiluntersuchung früher und heute

Fotos: Suva

Abb. 3: Audiomobiluntersuchung früher und heute

Berufskrankheit Lärm

Trotz großen Erfolgen in der Gehörschadenprävention macht der Anteil der Berufslärmschwerhörigkeiten an der Gesamtanzahl der Berufskrankheiten in der Schweiz seit Jahren den größten und einen stets größer werdenden Anteil aus. Neben der Lärmexposition wird die Anzahl der Fälle von Berufslärmschwerhörigkeiten auch vom konsequenten Meldeverhalten beeinflusst (➥ Abb. 4 und ➥ 5).

Abb. 4:  Anerkannte Berufslärmschwerhörigkeiten an der Gesamtheit aller anerkannten BK/Jahr von 1968–2018 (eigene Darstellung)

Abb. 4: Anerkannte Berufslärmschwerhörigkeiten an der Gesamtheit aller anerkannten BK/Jahr von 1968–2018 (eigene Darstellung)
Abb. 5:  Berufskrankheiten gesamt (eigene Darstellung)

Abb. 5: Berufskrankheiten gesamt (eigene Darstellung)

Bei anerkannter Berufslärmschwerhörigkeit beteiligt sich die Unfallversicherung anteilmäßig an den Kosten für eine Hörgeräteversorgung. Streng genommen qualifiziert ein Gehörschaden erst ab einem Hörverlust von 35% je Ohr bei einer symmetrischen beidseitigen Schwerhörigkeit als „erheblicher“ Hörschaden zur Anerkennung als Berufskrankheit. Der gesamte monaurale prozentuale Hörverlust (CPT-AMA-Tabelle) errechnet sich durch Addition der vier Schwellenwerte in den Frequenzen 500 Hz, 1 kHz, 2 kHz und 4 kHz (➥ Abb. 6 und ➥ 7).

Abb. 6:  Typische Lärmanamnese eines 59-Jährigen: 32 Berufsjahre mit Lärmpegel 100 dB(A) (Quelle: Arbeitsmedizinische Gehörschadenprävention der Suva)

Abb. 6: Typische Lärmanamnese eines 59-Jährigen: 32 Berufsjahre mit Lärmpegel 100 dB(A) (Quelle: Arbeitsmedizinische Gehörschadenprävention der Suva)

Es werden jedoch nur etwa 40% aller bewilligten Hörgeräte zulasten einer ausgewiesenen, anerkannten und erheblichen Berufslärmschwerhörigkeit vergütet. Bei nicht erheblichem Hörverlust, aber langjährigem Berufslärm beteiligt sich die Suva dennoch bei einem lärmtypischen Hörschaden an den Kosten für eine apparative Versorgung auf freiwilliger Basis und dies auch bei einer Wiederversorgung mit Hörgeräten nach frühestens sechs Jahren.

Bei der Suva werden auch die nicht erheblichen Hörstörungen mit einem Gesamthörverlust von <70% nach CPT-AMA als „Berufskrankheit“ versicherungstechnisch kodiert, was den hohen und steigenden Anteil der Lärmschwerhörigkeiten am Gesamtanteil der Berufskrankheiten mit erklärt. Diese Vorgehensweise rückt allerdings nominal die „echte“ Berufslärmschwerhörigkeit in ein „falsches Licht“, denn die tatsächliche Anzahl der anerkannten Berufslärmschwerhörigkeiten ist deutlich niedriger als in der vorherigen Tabelle dargestellt. Die Datenerhebung zur abgebildeten Berufskrankheitenstatistik ist daher nicht unproblematisch.

An der nach wie vor hohen Bewilligung von Hörgeräten und BK-Anerkennungen aufgrund von beruflichem Lärm lassen sich die Fortschritte der Gehörschadenprävention nicht ablesen. Es steht fest, dass die Akzeptanz, Hörgeräte zu tragen, in der Bevölkerung deutlich gewachsen ist, in der Schweiz tragen knapp 4% der Bevölkerung ein Hörgerät. Bei anerkannter Berufslärmschwerhörigkeit kann es vorkommen, dass die Unfallversicherung die Kosten auch für eine Cochlea-Implantation übernimmt, wenn konventionelle Hörgeräte eine progrediente Ertaubung nicht mehr ausgleichen können.

Für die Bewilligung von konventionellen Hörgeräten zulasten einer anerkannten Berufslärmschwerhörigkeit ist die Hörgeräteexpertise niedergelassener ORL-Fachärztinnen und -ärzte erforderlich. Mit Einreichung einer ohrenärztlichen Hörgeräteexpertise kommt somit in der Schweiz erstmals die Anzeige einer vermuteten Berufslärmschwerhörigkeit zur Anzeige, während dieser Verdacht in Deutschland zwar ebenfalls von Ärztinnen und Ärzten angezeigt werden kann, meist jedoch aufgrund betriebsmedizinischer Vorsorgeabklärungen erfolgt, sofern sich Pathologien des Gehörs ergeben. Ungünstig ist sicher in unserem Land, dass hörgeschädigte Versicherte die ORL-Praxen erst deutlich nach der Pensionierung aufsuchen, wenn es „ohne Hörgerät gar nicht mehr geht“ und die Hörstörung durch altersbedingte Einflüsse wie Presbyakusis „erheblich“ beziehungsweise symptomatisch geworden ist. Wir wissen aus unserer fachärztlichen Triage der Audiomobilbefunde, dass sich unter den jährlich knapp 25.000 untersuchten Personen nur etwa 16% befinden, die weiter abklärungsbedürftige Schäden des Gehörs zeigen. Nur bei ca. 8% der erwähnten Gruppe sind diese Schäden durch beruflichen Lärm bedingt, der Rest von 92% zeigt berufsfremde Erkrankungen am Mittel- oder Innenohr gemäß Beurteilung von Befunden und Audiogrammen durch bei der Suva Arbeitsmedizin tätige ORL-Fachärztinnen und -ärzte.

Abb. 7:  Tonaudiogramm mit Hochtonsteilabfall beidseits bei Anerkennung als Berufskrankheit (Quelle: Arbeitsmedizinische Gehörschadenprävention der Suva)

Abb. 7: Tonaudiogramm mit Hochtonsteilabfall beidseits bei Anerkennung als Berufskrankheit
(Quelle: Arbeitsmedizinische Gehörschadenprävention der Suva)

Integritätseinbuße/Nichteignung/­bedingte Eignung

Nur erhebliche berufliche Lärmschädigungen lösen eine Integritätseinbuße aus. Die Schädigung des Gehörs muss hierzu vorwiegend durch berufliche Lärmarbeit in einem UVG-versicherten Betrieb2 verursacht worden sein. Die Erheblichkeitsgrenze bei binauralem Schaden liegt bei 70% Hörverlust binaural, wobei Grundlage für die Berechnung des Integritätsschadens das Reintonaudiogramm ist. Der tatsächliche prozentuale Hörverlust wird nach der CPT-AMA-Tabelle berechnet. Die Höhe des Integritätsschadens wird aus dem entsprechenden Hörverlust des rechten und linken Ohrs ermittelt. Berufsfremde Ursachen der Hörschädigung und die Anzahl der Berufsjahre vor dem 01.01.1984 müssen mit einer annähernd exakten fachärztlichen Einschätzung vom aktuellen Gesamthörverlust subtrahiert werden.

Die Ausrichtung einer berufslärmbedingten Integritätsentschädigung erfolgt ausschließlich für Berufsjahre nach dem 01.01.1984 (Einführung UVG). Die nicht erhebliche „Berufslärmschwerhörigkeit“ löst keine Integritätsentschädigung aus. Ob eine binaurale Standard-Hörgeräteversorgung gutgeheißen wird oder eine teurere, komplexe Hörgeräteversorgung, ergibt sich aus verschiedenen Aspekten der Hörgeräteexpertise (z.B. Hochtonsteilabfall, 50%-Einsilberverstehen im Sprachaudiogramm <70 dB, erhebliche Sehbehinderung, zusätzlich invalidisierender Tinnitus etc.). In der Schweiz müssen ORL-„Expertisenärztinnen und -ärzte“ eine spezielle Ausbildung, Nachweis einer Expertisentätigkeit an ORL-Spitalabteilungen und verschiedene Aspekte der technischen Ausrüstung wie schalldichte Hörprüfkabine etc. nachweisen und von der audiologischen Kommission der ORL-Fachgesellschaft eine Bewilligung erhalten haben. Diese Sachverständigen richten ihre Hörgeräteanträge nicht nur an die Suva, sondern auch an die Invalidenversicherung (IV) sowie Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), die sich an den Kosten der Hörgeräteversorgung beteiligen, sofern die Ursache der Hörstörung nicht vorwiegend beruflicher Natur ist. Für Personen, die bereits vor dem ordentlichen AHV-Alter aufgrund ihres Hörverlusts IV-Leistungen beziehen, gilt die so genannte Besitzstandswahrung. Diese Personen beziehen weiterhin die Leistungen der IV. Die Unterschiede in der Entschädigungspraxis zwischen IV und UVG-Versicherern haben also Einfluss auf die Inanspruchnahme von Leistungen. Auch militärversicherte Hörschäden werden gemäß UVG vergütet, sofern die Kausalität der Hörstörung auf eine militärversicherte Ursache zurückgeführt werden kann. Die militärversicherte Integritätsentschädigung folgt anderen Regeln und wird als Integritätsschadenrente ausgerichtet.

Die erhebliche Schädigung des Gehörs durch beruflichen Lärm kann eine so genannte Nichteignungsverfügung für die ausgeübte Tätigkeit auslösen oder eine bedingte Eignungsverfügung. Die Nichteignung aufgrund nicht ausreichender Hörfähigkeit kann nur dann verfügt werden, wenn die Beschäftigten bei der weiteren Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeit einer erheblichen gesundheitlichen Gefährdung ausgesetzt sind. Solche Nichteignungsverfügungen wurden vor Jahrzehnten deutlich häufiger erlassen als heute. Von dieser Maßnahme wird heute nur noch in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht, da es bekanntermaßen schwierig beziehungsweise unmöglich ist, solche Beschäftigte, häufig fortgeschrittenen Alters, an einem nicht lärmexponierten Arbeitsplatz unterzubringen. Arbeitslosigkeit soll durch den Erlass einer Nichteignungsverfügung möglichst nicht forciert werden. Üblicherweise werden heute nur noch Nichteignungsverfügungen bei hochgradiger beruflicher Hörschädigung erlassen, sofern es sich um Personen handelt, die aufgrund ihres stark reduzierten Gehörs einer unmittelbaren Lebensgefahr ausgesetzt sind, zum Beispiel im Gleisverkehr. Es ist wissenschaftlich anerkannt, dass sich eine berufliche Lärmschwerhörigkeit nach Beendigung der Lärmexposition aus beruflichen Gründen nicht weiter verschlechtert.

Deutlich häufiger ist der Erlass von so genannten bedingten Eignungsverfügungen, der die weitere Beschäftigung nur unter der verpflichtenden Bedingung des Tragens eines geeigneten Gehörschutzes bei der Arbeit mit einem Pegel über 85 dB(A) erlaubt. Bedingte Eignungsverfügungen für lärmexponierte Personen wurden in den letzten zehn Jahren etwa 200 Mal pro Jahr erlassen, das heißt, ein Klientel von etwa 1% aller untersuchten und noch lärmexponierten Personen erhält infolge auffälliger Audiometrie im Audiomobil und hochgradigem Verdacht auf berufslärmbedingte oder auch BK-fremde Ursachen eine bedingte Eignungsverfügung, um zu verhindern, dass die Schwerhörigkeit sich durch berufliche Einflüsse weiter verschlechtert. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die Durchführung des Erlasses zu überwachen.

Bemerkenswert ist, dass bei 52.181 gehörpräventiven Untersuchungen im Jahr 1984 weitere Abklärungen bei externen ORL-Fachärztinenn und -ärzten und Suva-intern in 1735 Fällen veranlasst wurden (3,3%), während externe Untersuchungen im Jahr 2019 nur noch in 48 von 23.902 Fällen heraustriagiert wurden, das ist ein Anteil von 0,2%. Der Anteil ist deutlich gesunken, da mithilfe der Video-Otoskopie oft eindeutig berufsfremde Gründe erkannt werden können, die nicht zulasten der Unfallversicherung behandlungsbedürftig sind, sondern zulasten der Krankenkasse des Untersuchten. Es erstaunt, dass 1984 in dem großen Untersuchungsgut nur fünf Integritätsentschädigungen/Jahr wegen Berufslärm ausgerichtet wurden (0,09‰), heute sind dies bei anerkannter Berufslärmschwerhörigkeit 323/Jahr (1,35%). Die Gesamtzahl untersuchter Fälle hat sich seit 1984 bis 2009 um 46% reduziert, da die Zahl der lärmexponierten Personen durch technische Verbesserungen und Reduktion der Lärmemissionen an den Arbeitsplätzen enorm abgenommen hat, seit 2018 praktisch ausschließlich Personen nur noch bis zum 40. Lebensjahr untersucht und nicht mehr wie früher während des gesamten Erwerbslebens kontrolliert werden.

Während die drastisch zurückgehenden externen weiteren Abklärungen von Gehörstörungen sicherlich zu einer nicht geringen Kostenreduktion bei der Unfallversicherung geführt haben, ist es andererseits durch deutliche Zunahme von Integritätsentschädigungen infolge erheblicher Hörstörung durch den Beruf zu einer Kostensteigerung bei der Unfallversicherung gekommen, wobei die Summe der ausgerichteten Integritätsentschädigungen für die BK Lärm seitens der Suva einen Betrag von ca. 2,8 Mio. CHF/Jahr ausmacht, exklusive der zusätzlichen Kosten für die Hilfsmittel/Hörgeräte.

Diskussion

Fünfzig Jahre Gehörschadenprävention in der Schweiz im Audiomobil haben zu einer signifikant besseren Tragedisziplin von Gehörschutzmitteln geführt und technische Maßnahmen seitens der Betriebe haben infolge Lärmreduktion an Maschinen und Reduktion der Lärmemissionen an den Arbeitsplätzen bewirkt, dass jüngere Beschäftigte sich in der Regel von Beginn ihrer lärmigen Tätigkeit an zuverlässig vor einer berufslärmbedingten Schwerhörigkeit schützen. Betroffene sind sensibilisiert und die Betriebe sind in der gesetzlichen Pflicht, die Maßnahmen zu überwachen. Ausbilderinnen und Ausbilder von Lernenden haben Vorbildfunktion, und in Berufsschulen ist das Thema Gehörschutz Bestandteil des Lehrplanes.

Der Audiomobilbetrieb wurde in den vergangenen fünfzig Jahren stetig angepasst, das gefährdete Klientel wird heute spezifischer ausgewählt, der Audiomobilbetrieb – unter laufendem persönlichen Einsatz von Audiometristen – digitalisiert und auch arbeitsmedizinische Erkenntnisse aus den vergangenen fünf Jahrzehnten haben nachweislich positiv gewirkt, so dass andere als berufliche Gründe für die heute noch sehr hohe Zahl der Berufslärmschwerhörigkeiten verantwortlich gemacht werden müssen, hauptsächlich das Alter der Versicherten bei der ersten Hörgeräteanpassung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem Gehörschutz als primärer Präventionsmaßnahme im Zeitraum der vorliegenden Beobachtung über fünf Jahrzehnte sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde und heute niemand mehr ausgegrenzt oder belächelt wird, wenn er Gehörschutz – so selbstverständlich wie eine andere persönliche Schutzausrüstung – trägt.

Es ist trotz den Präventionsbemühungen nicht zu erwarten, dass die Zahl der anerkannten Berufslärmschwerhörigkeiten und erforderlichen Hörgeräteanpassungen mit einer verkürzten Latenz sinken wird und die Lärmschwerhörigkeit auf einen geringeren Anteil am Gesamtkontingent der Berufskrankheiten signifikant reduziert werden kann. Gründe für die hohe Anzahl der Berufslärmschwerhörigkeiten dürften dem Umstand geschuldet sein, dass die Anerkennung dieser Berufskrankheit mit finanziellen Leistungen verbunden ist. Darüber hinaus ist das Tragen von Hörgeräten heute fast „smart“ geworden. Dank der Bluetooth-Technik können Musik und Telefongespräche „direkt im Ohr“ gehört werden, Hörapparate sind heute praktisch unsichtbar, recht langlebig und stigmatisieren die schwerhörige Person kosmetisch nicht mehr.

Unter normalen Umständen wird eine Berufskrankheit während des Arbeitslebens angezeigt, im Falle der Berufslärmschwerhörigkeit liegt der Zeitpunkt der BK-Anerkennung im Durchschnitt bei einem Alter von knapp 65 Jahren, so dass davon ausgegangen werden muss, dass doch zunehmend altersbedingte Anteile der Hörstörung zur Auslösung einer Berufskrankheit „Lärm“ führen, was in der versicherungstechnischen Kodierung der Berufskrankheiten praktisch keine Berücksichtigung findet, jedoch die konsolidierten Ergebnisse und Erfolge der Gehörschadenprävention empfindlich reduziert (➥ Abb. 8).

Die Berufslärmschädigung legt nachhaltig den Grundstein in den ersten Berufsjahren, den „early twenties“. Ein subjektiver Leidensdruck fehlt meist noch in der Prophylaxeabklärung im Audiomobil. Auf dem Boden der okkulten Lärmvorschädigung schreitet die Altersschwerhörigkeit früher daher. Meist 40 Jahre später, in der Vorpensionierung der „late fifties and sixties“ schlägt diese Berufskrankheit erstmals versicherungstechnisch zu Buche. Der zunehmende Leidensdruck mit beeinträchtigter Sozialkompetenz und „Partyschwerhörigkeit“ nach der Pensionierung (sprich Isolation im privaten Umfeld des dritten Lebensabschnitts) führt im heutigen Zeitalter der digitalisierten Kommunikationsgesellschaft zu höheren Ansprüchen bezüglich Technik und Rehabilitation: Digitale technische Fortschritte erlauben heute, leichtgradige Höreinbußen im Hochtonbereich (Konsonantendiskrimination) besser hörprothetisch zu versorgen als vor 30 Jahren. Das Stigma des Hörgerätetragens ist am Abklingen und so wird die anerkannte Berufslärmschwerhörigkeit weiterhin am Anteil der Berufskrankheiten vermutlich den höchsten Prozentsatz generieren, ohne dass die Gehörschadenprävention versagt oder sich außerordentliche Meriten verdient hätte.

Nach wie vor ist es bei der fachärztlichen Beurteilung einer Berufslärmschwerhörigkeit ausgesprochen schwierig bis zuweilen unmöglich, altersbedingte und/oder endogene von berufslärmbedingten Ursachen der Hörstörung zu separieren, wenn keine frühere Audiogramme bis zur Beendigung der beruflichen Lärmexposition vorliegen. Es sind Überlegungen im Gange, wie diesem Umstand künftig Rechnung getragen werden kann.

Trotz großer Verbesserungen in der Gehörschadenprävention und Behandlungsmöglichkeiten mit modernen Hörgeräten bleibt die Senkung der Anzahl lärmbedingter Berufskrankheiten eine Herausforderung, da die Latenz des Auftretens dieser Berufskrankheit groß ist und nicht zuletzt auch versicherungstechnische finanzielle Aspekte im Raum stehen.

Danksagung: Mein besonderer Dank für die Unterstützung bei der vorliegenden Publikation gilt Marco Schmid, Adrian Götsch, Daniel Weyermann, Stefan Scholz, Michael Koller sowie meinen Brüdern Kai und Patrick Diekelmann für die Durchsicht des Manuskripts.

Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

American Medical Association Council on Physical Therapy (AMA, CPT): Tentative standard procedure for evaluating the percentage of useful hearing loss in medicolegal cases. JAMA 1942; 119: 1108–1109.

Matefi L: Berufslärmschwerhörigkeit. Schweiz Med Forum 2002; 11: 255.

Weitere Infos

Medienmitteilung des Schweizer Fernsehens DRS zum Thema „1. Audiomobil der Suva“ vom 18.06.1971
https://bit.ly/3vKf87u

Unfallstatistik UVG 2008–2012
https://www.unfallstatistik.ch/d/publik/fuenfjb/pdf/D2008_2012.pdf#page…

EKAS Mitteilungsblatt Nr. 85, 2017: Unfallabklärung
https://www.ekas.admin.ch/download.php?id=7286

Verhütung der beruflichen ­Lärmschwerhörigkeit, 2003
http://docplayer.org/57099143-Verhuetung-der-beruflichen-laermschwerhoe…

Verhütung der beruflichen ­Lärmschwerhörigkeit, 2016
http://docplayer.org/19682954-Verhuetung-der-beruflichen-laermschwerhoe…

Suva: 40 Jahre Audiomobile: viermal weniger Gehörschäden
https://bit.ly/2UiSkiN

Suva: „Nach 20 Jahren Lärmbelastung ist das Tal erreicht“
https://bit.ly/36JzMdU

Suva: Gehörgefährdender Lärm am Arbeitsplatz
https://bit.ly/3ijn8HO

Abb. 8:  Berufskrankheiten am Gehör (Quelle: Unfallstatistik UVG 2008–2018, Suva)

Abb. 8: Berufskrankheiten am Gehör (Quelle: Unfallstatistik UVG 2008–2018, Suva)

Kernaussagen

  • Die Sensibilisierung insbesondere von jungen Arbeitnehmenden, sich vor beruflichem Lärm zu schützen, hat eine eine hohe Priorität im Rahmen der arbeitsmedizinischen Prävention der Schweizerischen Unfallversicherung.
  • Die BK Lärm hat in der Schweiz einen wachsenden Anteil am Gesamt aller Berufskrankheiten und bleibt auf hohem Niveau.
  • Konsequente Gehörschadenprävention hat nicht unmittelbar eine Reduktion der BK Lärm zur Folge.
  • Die Gehörschadenprävention im Audiomobil erfuhr in den vergangenen 50 Jahren einen großen technischen Fortschritt und ist heute vollständig digitalisiert.
  • Kontakt

    Dr. med. Anja Meyer
    Fachärztin für Otorhinolaryn­gologie und Arbeitsmedizin; Suva Arbeitsmedizin; Fluhmattstrasse 1; 6002 Luzern

    Foto: privat

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