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Sind diese Assistenzsysteme bereit für den praktischen Einsatz?

Exoskelette in der betrieblichen Anwendung

Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com

Seit ungefähr zehn Jahren sind Exoskelette zur Unterstützung körperlicher Arbeit kommerziell erhältlich und prinzipiell für die betriebliche Praxis und den Arbeitsschutz zugänglich. Exoskelette sind am menschlichen Körper getragene technische Systeme, die mechanisch auf den Körper einwirken. Im beruflichen Kontext zielen sie darauf ab, Funktionen des Muskel-Skelett-Systems bei körperlicher Arbeit zu unterstützen und belastete Körperregionen vor Überbeanspruchungen zu schützen. Die Annahme, dass sie Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen beziehungsweise eine Verschlimmerung verhindern können, basiert bislang vor allem auf theoretischen Überlegungen. Bisherige Evidenz bezieht sich hauptsächlich auf eine kurzfristige und akute Belastungs- und Beanspruchungsreduktion in der zu unterstützenden Körperregion. Hochwertige Daten, die über einen längeren Anwendungszeitraum erhoben wurden, fehlen. In vielen Studien zeigte sich, dass neben der reinen biomechanischen Wirkung von Exoskeletten zahlreiche Faktoren wie Akzeptanz, Handhabbarkeit oder Eignung für die entsprechende Tätigkeit für die praktische Anwendung ausschlaggebend sind.

In dieser Ausgabe der ASU beleuchten drei Praxisbeiträge und ein wissenschaftlicher Artikel den Einsatz von Exoskeletten in der Logistik, Pflege und bei der beruflichen Integration von Menschen mit Schwerbehinderung.

Benjamin Keller berichtet über seine Erfahrungen mit Exoskeletten im Bereich der Logistik aus betriebsärztlicher Perspektive. Der Beitrag verdeutlicht den hohen Aufwand, der mit der Erprobung von Exoskeletten an realen Arbeitsplätzen verbunden ist und die Schwierigkeit, unter den mittlerweile zahlreichen Exoskeletten, das am besten geeignete zu identifizieren. Zudem berichtet der Autor, dass auf eine anfängliche Euphorie für die Anwendung der Exoskelette häufig eine Ernüchterung folgt, die dazu führt, dass diese Hilfsmittel von den Beschäftigten nicht mehr eingesetzt werden.

Ein neues bislang nicht thematisiertes Anwendungsfeld von Exoskeletten wird im Beitrag von Urban Daub und Kolleginnen/Kollegen adressiert. Dabei gehen die Autoreninnen und Autoren in Zusammenarbeit mit Inklusions-/Integrationsämtern der Frage nach, ob Exoskelette eine geeignete Maßnahme sein können, um Menschen mit Schwerbehinderung bei ihrer Tätigkeit zu entlasten, Auswirkungen von Behinderungen zu kompensieren und somit die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten.

Nina Inken Schmidtmann und Verena Münch beschreiben, wie der Einsatz von Exoskeletten im Arbeitsalltag von Pflegenden gelingen kann. Hierbei zeigte sich, dass für die Anwendung im Arbeitsalltag weniger die Stärke der Unterstützung als vielmehr ein hoher Tragekomfort bedeutsam war. Entscheidend für die Verstetigung der Anwendung waren sogenannte Multiplikatoren, die als Mitarbeitende in den Pflegeteams eine begleitende und lenkende Rolle übernahmen. Zu ihren Aufgaben zählten beispielsweise die Schulung und Einweisung neuer Kolleginnen und Kollegen im Anlegen sowie die Gewährleistung einer sicheren Anwendung der Exoskelette im praktischen Arbeitsalltag.

Der wissenschaftliche Artikel dieser ASU-Ausgabe von Hanna Brandt und Benjamin Steinhilber berichtet, wie Pflegepersonal einen simulierten Transfer einer Patientin beziehungsweise eines Patienten
vom Rollstuhl auf eine Liege mit Exoskelett erleben und welche Gedanken sie hinsichtlich der praktischen Anwendung von Exoskeletten für den Pflegealltag haben. Hervorzuheben ist dabei, dass die 33 Teilnehmenden dieser Studie einem Pflege­beruf nachgehen. Die gewonnenen Eindrücke und Anregungen berücksichtigen somit weitaus besser deren Arbeitsalltag als die Erkenntnisse vieler Studien, in denen ein sogenanntes Gelegenheitssample ohne fundierte Erfahrungen zur betrieblichen Praxis genutzt wurde (z. B. Studierende).

Alle Beiträge zeigen, dass die Einführung von Exoskeletten einen aufwändigen Prozess darstellt, bei dem die Partizipation aller Beteiligten von zentraler Bedeutung ist. Das simple „Anlegen-und-alles-wird-gut-Prinzip“, wie es viele Hersteller von Exoskeletten den Anwendenden suggerieren, spiegelt in keiner Weise die Einführung und Anwendung an realen Arbeitsplätzen wider. Um einen Mehrwert für das Unternehmen und die Beschäftigten zu generieren, ist eine detaillierte Analyse der Arbeitsbedingungen und Umgebungsfaktoren sowie der dort beschäftigten Personen im Sinne einer Gefährdungsbeurteilung mit und ohne Exoskelett erforderlich. Ebenso sind Schulungen zum Umgang mit dem entsprechenden Exoskelett sowie eine Unterweisung der Beschäftigten zum Wirkprinzip des Exoskeletts und dessen Einsatzzweck notwendig. Weitere Hilfestellung bei der Einführung und Anwendung von Exoskeletten bietet die AWMF-Leitlinie „Einsatz von Exoskeletten im beruflichen Kontext zur Primär-, Sekundär-, und Tertiärprävention von arbeitsassoziierten muskuloskelettalen Beschwerden“, die frei im Netz abgerufen werden kann.

Unternehmen sollten vor der Einführung von Exoskeletten eine Erprobungsphase vorsehen, die durchaus auch zu dem Ergebnis kommen kann, das gewählte Exoskelett nicht einzuführen. Vor- und Nachteile insbesondere gegenüber anderen Arbeitsschutzmaßnahmen im Sinne des STOP-Prinzips (Substitution, Technische Maßnahmen, Organisatorische Maßnahmen und Persönliche Schutzmaßnahmen) sollten dabei abgewogen werden. Darüber hinaus sollten sich Unternehmen bewusst sein, dass selbst, wenn die Einführung gelingt, immer noch nicht geklärt ist, ob durch die Anwendung von Exoskeletten langfristig Muskel-Skelett-Erkrankungen und -Beschwerden vorgebeugt oder eine Verschlimmerung bestehender Erkrankungen verhindert werden können. Ebenso offen ist die Frage, ob der langfristige Einsatz des spezifischen Exoskeletts gegebenenfalls sogar unerwünschte gesundheitliche Nebenwirkungen induzieren kann.

Exoskelette stellen einen Baustein unter vielen dar, der zum Arbeitsschutz beitragen kann. Die Beiträge dieser Ausgabe zeigen jedoch sehr deutlich, dass die bloße Bereitstellung von Exoskeletten nicht ausreicht, um diese Assistenzsysteme in einem Unternehmen einzuführen oder gar positive Wirkung auf die Gesundheit von Beschäftigten zu erzielen. Vielmehr sollte in einem partizipativen Ansatz passgenaue Anwendungsszenarien erarbeitet und bei Bedarf angepasst werden.

Benjamin Steinhilber

Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Tübingen

Prof. Dr. Benjamin Steinhilber

Foto: FotografieEbinger

Prof. Dr. Benjamin Steinhilber