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Praktische Beispiele zur Risikobewertung

Beratung von besonders schutzbedürftigen Beschäftigten während der Corona-Pandemie

Zum Beginn der Covid-19-Pandemie wurden zahlreiche Beschäftigte vorsorglich von ihrer Arbeit freigestellt, wenn sie oder ihr Unternehmen annahmen, dass sie zu einer so genannten Risikogruppe gehörten, wodurch die erhöhte Wahrscheinlichkeit eines schwereren Verlaufs der Infektion und des Auftretens von Komplikationen vermutet wurde. Grundsätzlich hat das Unternehmen keinen Anspruch auf Informationen über die Erkrankung der Beschäftigten – es waren jedoch zahlreiche Beschäftigte bereit, eine vermeintliche Risikogruppenzugehörigkeit ärztlich attestieren zu lassen.

Als Hintergrund kann einerseits ein hoher Beratungsbedarf verunsicherter Beschäftigter ebenso gesehen werden wie das Bemühen von Unternehmensseite, der Fürsorgepflicht auch in der Pandemie nachzukommen. Dies führt bei der Beteiligung zahlreicher medizinischer fachärztlicher Gruppen, insgesamt situationsbedingt geringem Evidenzgrad von Empfehlungen und inhomogenem Wissensstand bei allen Beteiligten rasch zum Ruf nach einem stärker standardisierten und transparenten Vorgehen.

Der einfachste Weg einer Einstufung könnte über die weithin bekannten Seiten des Robert Koch-Instituts (RKI 2020) erfolgen, die einer groben Einschätzung dienen (s. Infokasten) und mit einigen Veränderungen seit März 2020 online stehen.

Auf Grundlage der im Infokasten genannten Personengruppen würden zielgruppenadaptierte Schutzkonzepte im Betrieb erheblich erschwert oder unmöglich werden, weil sehr große Anteile einer Belegschaft als besonders schützenswert einzustufen wären.

Um eine differenzierte und im betrieblichen Kontext praktikablere Beurteilung einer besonderen Schutzbedürftigkeit zu ermöglichen, ist eine bessere Datenlage nötig. Aufgrund der Neuartigkeit des SARS-CoV-2-Virus und des kurzen Zeitraums des Infektionsgeschehens seit Januar 2020 ist die Wissensbasis allerdings noch gering und sehr dynamisch. Datenquellen stellen Vorabpublikation („preprint“) und Publikationen nach einem Peer-Review-Verfahren dar. Ergänzungen sind Internetplattformen, in denen wissenschaftliche Gruppen interdisziplinär und multizentrisch Daten zusammentragen, wie der „Lean European Open Survey on SARS-CoV-2 Infected patients“ (LEOSS, s. „Weitere Infos“). Wünschenswert für die Beratung wären auch konsentierte Aussagen zu einzelnen Erkrankungsbereichen der jeweiligen Fachgesellschaften, die allerdings derzeit (noch) nicht vorliegen. In diesen Fällen wurde im Folgenden der einfache Ansatz einer plausiblen Expertenschätzung gewählt. Ein weiteres Problem ist die Bewertung von Komorbiditäten, da Publikationen mit komplexeren Analysen praktisch nicht vorliegen.

➥ Tabelle 1 ist daher als aktueller Diskussionsbeitrag ohne Anspruch auf Vollständigkeit und permanente Gültigkeit zu verstehen. Im Gegensatz zum Infokasten oben ist bei diesem Ansatz für die Beurteilung der individuellen Schutzbedürftigkeit nicht die Diagnose per se entscheidend, vielmehr sind der Schweregrad, die Medikation, der Therapieerfolg, mögliche Folgeerkrankungen, die Dauer der Erkrankung und Komorbiditäten mit zu berücksichtigen.

Aufgrund der reduzierten Datenlage, können in der Tabelle verschiedene Faktoren nicht beachtet werden, die an sich für die Gesamtbeurteilung relevant wären. Dazu gehören das Alter, der Body Mass Index (BMI), das Geschlecht oder der aktuelle Raucherstatus – bei all diesen Faktoren sehen die publizierten Originalarbeiten zwar einen Einfluss, können diesen jedoch nicht von den Komorbiditäten trennen.

Die vorgeschlagene Tabelle simplifiziert bewusst verschiedene Erkrankungen. Beispielsweise müssten Malignome differenziert betrachtet werden (Lilienfeld-Toal et al. 2020). Auch sollte die Behandlung mit kardiotoxischen oder pneumotoxischen Medikamenten besonders bewertet werden, wie es in Edelmann und Huber (2009) übersichtlich aufgeführt wird. Eine Bewertung dieser Erkrankungen und Therapien würde den Rahmen einer arbeitsmedizinischen Beurteilung sprengen und erfordert einen interdisziplinären Ansatz von Arbeitsmedizin und kurativer Medizin. Die arbeitsplatzbezogene Wahrscheinlichkeit eine Infektion zu erwerben (z.B. durch Kundenkontakt), ist ebenfalls nicht Gegenstand dieses Vorschlags. Sie ist eher im Bereich der arbeitsplatzbezogenen Gefährdungsbeurteilung zu sehen und ist in der Beratung zu berücksichtigen.

Speziell in der Beratung sollten Stigmatisierungsaspekte, mögliche Auswirkungen einer Therapie und länger bestehende Erkrankungsverläufe gewürdigt werden. Die letztendliche Beurteilung eines personenbezogenen Risikos wird immer individuell erfolgen müssen. Es ist wahrscheinlich, dass sich weitere Prädiktoren für einen schweren Verlauf identifizieren lassen, die aktuell noch nicht bekannt oder nicht ausreichend untersucht sind (vgl. unter anderem Opensafely Collaboration 2020).

Eine umfassendere und gegebenenfalls aktualisierte Zusammenfassung von Risikofaktoren ist auf der Internetseite des Kompetenznetzes Public Health COVID-19 veröffentlicht (s. „Weitere Infos“).

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Tabelle 1:  Vorschlag einer kategorialen Einstufung beispielhafter Erkrankungen

Tabelle 1: Vorschlag einer kategorialen Einstufung beispielhafter Erkrankungen

Literatur

Edelmann M, Huber RM (für Arbeitsgemeinschaft Supportive Maßnahmen in der Onkologie, Rehabilitation und Sozialmedizin der Deutschen Krebsgesellschaft (ASORS)): Langfristige Nebenwirkungen unter Chemotherapie - Toxizität der Lunge behandeln und vorbeugen. Im Focus Onkologie 2009, 3: 72–77.

OpenSAFELY Collaborative, Williamson E, Walker AJ, Bhaskaran K et al.: OpenSAFELY: Factors associated with COVID-19-related hospital death in the linked electronic health records of 17 million adult NHS patiens. medRxiv 2020.05.06.20092999 (preprint).

Eine ausführliche Literaturliste mit weiterführenden Quellen kann auf der ASU-Homepage beim Beitrag eingesehen werden (www.asu-arbeitsmedizin.com).

Weitere Infos

Lilienfeld-Toal M et al.: Coronavirus-Infektion (COVID-19) bei Patienten mit Blut- und Krebserkrankungen. Covid-19-Empfehlungen 11. Überarbeitung vom 11.05.2020
https://www.onkopedia.com/de/news/copy_of_covid-19-empfehlungen-11-aktu…

RKI Robert Koch-Institut: SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief…

Lean European Open Survey on SARS-CoV-2 Infected patients
leoss.net

Kompetenznetz Public Health COVID-19
www.public-health-covid19.de

Info

Personengruppen mit erhöhtem Risiko nach dem Schema des ­Robert Koch-Instituts (RKI 2020)

  • Ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für schweren Verlauf ab etwa 50–60 Jahren; 86% der in Deutschland an COVID-19 Verstorbenen waren 70 Jahre alt oder älter
    [Altersmedian: 82 Jahre])
  • Raucher (schwache Evidenz)
  • Stark adipöse Menschen
  • Personen mit bestimmten Vorerkrankungen:
  • Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck)
  • Chronische Lungenerkrankungen (z.B. COPD)
  • Chronische Lebererkrankungen
  • Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit)
  • Krebserkrankung
  • Patientinnen/Patienten mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch die regelmäßige Einnahme von Medi­kamenten, die die Immunabwehr beeinflussen und herabsetzen können, wie z.B. Cortison)
  • Kontakt:

    Priv.-Doz. Dr. med. ­Stephan Weiler
    Inge-Meysel-Str. 19; 85053 Ingolstadt

    Foto: Andrea Ludwig Design

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