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Gesundheitliche Risiken durch Schichtarbeit – immer noch ein Thema für die Prävention?

Herr Harth, welchen Anteil macht die Schichtarbeit in der Arbeitswelt aus?

Schichtarbeit ist nicht nur in Deutschland ein nach wie vor relevantes Thema. Insbesondere in der Industrie, im öffentlichen Dienst (z. B. Polizei, Feuerwehr etc.) und im Gesundheitswesen sind Schichtdienstsysteme unvermeidbar. Im Mikrozensus 2020 des Statistischen Bundesamtes gaben 15 % der befragten Erwerbstätigen an, in Wechselschicht, und 12,5 %, in Nachtarbeit tätig zu sein. Eurostat weist aktuell aus, dass der Anteil der in Schichtarbeit Beschäftigten in den letzten drei Jahrzehnten um mehr als 50 % zugenommen hat. Durch die Zunahme des Dienstleistungssektors und die Aufhebung des Nachtarbeitsverbots stieg dabei die Anzahl der erwerbstätigen Frauen in Nachtschicht seit der Wiedervereinigung deutlich an, wobei die Arbeitsmarktforschung durch die 24/7-Ausrichtung unserer Gesellschaft von einem weiterhin hohen Niveau vom „normalen“ Tagdienst abweichender Arbeitszeiten ausgehen.

Warum ist Schichtarbeit ein so wichtiges Thema für die Gesundheit der Menschen am Arbeitsplatz?

Schichtarbeiterinnen und -arbeiter, insbesondere in der Nachtschicht, die tagsüber schlafen, leiden oft unter Schlafstörungen, da ihr Tagesrhythmus weiterhin zu einem großen Teil von Faktoren wie Tageslicht sowie sozialen und familiären Kontakten bestimmt wird. Der Schlaf am Tage ist kürzer, störanfälliger, nicht so tief und somit insgesamt weniger erholsam. Dies kann die Gesundheit der Beschäftigten in verschiedener Hinsicht beeinträchtigen. Schlafstörungen führen aber auch zu einer Reihe von unspezifischen gesundheitlichen Effekten, zu denen Konzentrationsschwäche, Nervosität, vorzeitige Ermüdung und Magenbeschwerden gehören. Verschiedene epidemiologische Studien geben Hinweise auf eine Beteiligung von Nacht- und Wechselschichtarbeit an der Entstehung von vielen chronischen Erkrankungen wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychischen Störungen und Krebserkrankungen.

Welchen Einfluss hat Wechsel- und Nachtschichtarbeit auf physiologische Prozesse des Menschen?

Melatonin steuert maßgeblich den Tag-Nacht-Rhythmus des menschlichen Körpers. Seine Synthese setzt mit der Dunkelheit ein und wird durch Tageslicht oder künstliches Licht gehemmt. Die maximale Ausschüttung erfolgt etwa um zwei Uhr nachts. Die Höhe und der zeitliche Verlauf der physiologischen Melatoninsynthese sind auf genetischer Ebene programmiert. Der Auswirkungen der Chronodisruption könnte durch den individuellen Chronotyp (Früh- oder Spättyp) beeinflusst werden.

Nacht- und Wechselschichtarbeit stört den biologischen Tag-Nacht-Rhythmus des Menschen. Eine nachhaltige Störung der Synchronisation von internen biologischen Prozessen und externen Einflüssen, die mit einer Funktionsstörung verbunden ist, wird als Chronodisruption bezeichnet. Dazu gehört beispielsweise auch ein gestörter Schlaf. Die Kausalkette „Nachtarbeit – Chronodisruption – Krebs“ ist wissenschaftlich noch nicht ausreichend untersucht. Das Ausmaß der Chronodisruption kann sich beispielsweise in Phasenverschiebungen und Änderungen in der Amplitude des Tageszyklus von Melatonin widerspiegeln.

Wie wird die innere Uhr gesteuert?

Alle Organismen und die meisten biologischen Prozesse haben eine mehr oder weniger ausgeprägte zirkadiane Rhythmik, um wichtige Vorgänge mit dem Aktivitätsmuster abzustimmen. Bereits Einzeller haben sogenannte „Chrono-Gene“ entwickelt, die innerhalb der Zellen als biologische Uhren wirken und in der Evolution konserviert wurden. Höher entwickelte Organismen haben zusätzliche, hierarchisch organisierte Uhren, die von externen Zeitgebern wie Licht gesteuert werden. Die zirkadiane Rhythmik wird beim Menschen im Nucleus suprachiasmaticus, einer Region im Hypothalamus, die als sogenannte „Master clock“ fungiert, generiert und zeichnet sich – ohne die Einwirkung externer Zeitgeber – durch eine bis zu 25 Stunden dauernde Periodik aus. Unter dem Einfluss externer, im 24-Stunden-Rhythmus verlaufender „Zeitgeber“, wie dem natürlichen Wechsel zwischen Tageslicht und Dunkelheit, wird die „innere Uhr“ auf den uns bekannten Tag-Nacht-Rhythmus synchronisiert.

Krebserkrankungen – was ist die Kausalität dahinter?

Das bereits erwähnte Melatonin ist nicht nur ein Schrittmacher im Hinblick auf chronobiologische Wirkungen, sondern auch ein effektives Antioxidans, indem es reaktive Sauerstoffspezies abfängt. Es reguliert beispielsweise antioxidative Enzyme hoch und oxidative Enzyme herunter. Aus In-vitro-Studien gibt es weiterhin Hinweise auf onkostatische Effekte von Melatonin. So inhibiert es in physiologischen Konzentrationen das Wachstum von humanen Östrogen-empfindlichen Brustkrebszellen. Dieses Thema rückte in den Fokus der Forschung, als die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) der Weltgesundheitsorganisation WHO im Jahre 2007 (und dann auch in 2019) Schichtarbeit, die mit zirkadianen Störungen einhergeht, als „wahrscheinlich krebserregend beim Menschen“ (entsprechend der Kategorie 2A) einstufte.

Bei der Beurteilung der Ursachen erhöhter Gesundheitsrisiken von Schichtarbeitenden müssen als wesentliche Einflussgrößen jedoch auch der soziale Status der Beschäftigten und die damit assoziierten Risikofaktoren (insbesondere Zigarettenrauchen und Übergewicht) sowie die familiäre Situation berücksichtigt werden. Wir wissen durch verschiedene Studien, dass Schichtarbeitende, insbesondere Nachtschichtarbeitende, stärker rauchen, sich ungesünder ernähren, weniger bewegen, unter Schlafstörungen leiden, kürzere Schlafzeiten haben, weniger tief schlafen und oftmals durch ihre Arbeitszeiten den sozialen Anschluss verlieren.

Im Oktober 2020 wurde die neu erstellte Leitlinie „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“ durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) veröffentlicht. Was ist neu an der Schichtarbeitsleitlinie und an wen richtet sie sich?

Ziel dieser Leitlinie auf S2k-Niveau ist es, auf der Basis von orientierenden und systematischen Literaturauswertungen die aktuelle, bestehende Evidenz zu gesundheitlichen Auswirkungen von Nacht- und Schichtarbeit zusammenzustellen, zugänglich zu machen und Empfehlungen für die Praxis sowie zur Schichtplangestaltung zu geben. Außerdem soll der Forschungsbedarf in den verschiedenen Themenfeldern zur Nacht- und Schichtarbeit deutlich werden.

Die Leitlinie richtet sich an Ärztinnen und Ärzte in der Arbeits- und Betriebsmedizin, an Sozialmedizinerinnen und -mediziner, Arbeitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie Psychiaterinnen/Psychiater und Psychologinnen und Psychologen. Sie dient der Information für Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner und staatliche Gewerbeärztinnen und -ärzte, aber auch für Fachärztinnen und -ärzte aller Fachgebiete, die die Beschäftigten in Nacht- und Schichtarbeit in Bezug auf die möglichen arbeitsbedingten gesundheitlichen Folgen beraten und behandeln. Sie richtet sich aber auch an die mit der Thematik beschäftigten Vertreterinnen und Vertreter im Gesundheits- und Sozialwesen (z. B. Krankenkassen, Kostenträger, Firmen), die Sozialpartner (Arbeitgebende und Arbeitnehmende) und deren Vertretungen, alle Expertinnen und Experten im Arbeits- und Gesundheitsschutz und natürlich die Beschäftigten in Nacht- und Schichtarbeit selbst.

Welche Empfehlungen wurden aus den Literaturauswertungen abgeleitet?

Um anhand der wissenschaftlichen Literatur Empfehlungen zur Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention ableiten zu können, wurden von den Autorinnen und Autoren auch handlungsleitende Fragen formuliert. In der Leitlinienerstellung wurden für jedes der Themenfelder jeweils Schlüsselfragen zur möglichen Kausalbeziehung zwischen der Exposition „Nacht- und Schichtarbeit“ und der in dem Kapitel bearbeiteten Erkrankung (bzw. gesundheitlichen Auswirkung) formuliert. Die Themenfelder der Leitlinie beziehen sich auf Auswirkungen auf den Schlaf, Konzentrationsfähigkeit, Fehler und Unfälle, Work-Life-Balance, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechsel- und gastrointestinale Erkrankungen, psychische Erkrankungen, neurologische Erkrankungen, Krebserkrankungen, Reproduktions- und Zyklusstörungen/Schwangerschaft sowie muskuloskelettale Erkrankungen. In der Leitlinienerstellung wurden insgesamt 59 einzelne Empfehlungen zu den spezifischen Themenfeldern erarbeitet.

Und gibt es auch Empfehlungen zur Vorsorge?

Gemäß § 6 Abs. 3 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) sind Nachtarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer berechtigt, sich vor Beginn der Beschäftigung und danach in regelmäßigen Zeitabständen von nicht weniger als drei Jahren arbeitsmedizinisch untersuchen zu lassen. Nach Vollendung des 50. Lebensjahres steht ihnen dieses Recht in Zeitabständen von einem Jahr zu. Ziele dieser Vorsorge bei Nachtarbeit sind identisch mit denen der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Der Schwerpunkt liegt sowohl auf dem Beratungs- als auch auf dem Untersuchungsanspruch.

Die Leitlinie Empfehlungen widmet sich in einem eigenen Unterkapitel den Inhalten und dem Umfang der Vorsorge. Dabei steht die Erhebung einer umfangreichen arbeits- und schlafbezogenen Anamnese im Mittelpunkt, die aber auch auf die oben genannten chronischen Erkrankungen und Störungen näher eingeht. Nicht zuletzt wird auch der mögliche Gebrauch von Schlaftabletten und Beruhigungsmitteln beziehungsweise Amphetaminen erfragt.

Welche klinischen Untersuchungen und Laboruntersuchungen sollte die Vorsorge umfassen?

Die klinische Untersuchung sollte eine eingehende körperliche Untersuchung mit Befunddokumentation (z. B. der Körpergröße, Gewicht, Blutdruck und klinischen Befunde) beinhalten. Labortechnisch sollten mindestens die Parameter zur Bestimmung des kardiovaskulären Risikos und des Zuckerhaushalts (Cholesterin mit Differenzierung zwischen HDL und LDL, Triglyzeride, Nüchtern-Glukosespiegel, HbA1c) Berücksichtigung finden. Tumormarker sollen im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge ausdrücklich nicht bestimmt werden.

Sind noch weitere Studien aus Ihrer Sicht notwendig, um die Belastungen und Beanspruchungen durch Wechsel- und Schichtarbeit zu bewerten?

Weitere Studien zur Aufklärung der Kausalkette zwischen Chronodisruption und gesundheitlichen Auswirkungen werden aktuell sowohl in der Grundlagenforschung als auch in großen epidemiologischen Studien durchgeführt. Dabei ist die genaue Erhebung der Schichtarbeit und des Chronotyps der Beschäftigten von großer Bedeutung zur Schärfung der Ergebnisse und Aussagen.

Von großem praktischem Nutzen für die Zukunft sind aber Projekte und Studien, die eine offene und flexible Gestaltung von Schichtarbeitssystemen untersuchen. Ziel dabei sollte es sein, möglichst auf die Arbeitszeitwünsche von Beschäftigten einzugehen, um deren persönliche Bedarfe zum Beispiel nach Ruhezeiten oder der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu adressieren.

Welche Projekte beziehungsweise Studien können Sie in diesem Zusammenhang benennen?

Exemplarisch möchte ich hier einmal die neue Dienstzeitregelung der Hamburger Polizei erwähnen, die nach vielen Jahrzehnten in 2015 auf ein Schichtmodell umgestellt hat, das nunmehr geblockte Wochenendfreizeiten ermöglicht. Diese sind von besonders hohem Nutzwert für das Sozialleben und die persönliche Regeneration der Polizistinnen und Polizisten. Das Projekt und die wissenschaftliche Begleitstudie werden in diesem Heft gesondert vorgestellt.

Im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) tritt das Projekt „Harmonisierung von Dienstzeiten und Prozessen“ in seine Praxisphase. Um die Attraktivität des Pflegeberufs zu steigern, werden auf pilotierenden Stationen Maßnahmen zur größtmöglichen Flexibilisierung der Arbeitszeiten in der Pflege und zur Optimierung von Prozessen zwischen ärztlicher sowie pflegerischer Berufsgruppe getroffen. Dabei stehen die Verringerung der gesundheitlichen Belastungen der Beschäftigten und die Vereinbarkeit von Beruf, Freizeit und Familie im Fokus. Mit Unterstützung der Techniker Krankenkasse werden auf einer chirurgischen, internistischen und intensivmedizinischen Fachabteilung in Workshops flexible Schichtmodelle und Organisationsformen gemeinsam ausgearbeitet sowie Prozesse bei berufsgruppenübergreifenden Tätigkeiten optimiert. Dabei setzten sich die Workshop-Gruppen aus ärztlichen und pflegerischen Verantwortlichen der drei ausgewählten Modellbereiche zusammen.

Viele Unternehmen haben die Zeichen der Zeit erkannt, insbesondere im Zeitalter des Fachkräftemangels. Der Automobilhersteller AUDI AG beispielsweise pilotiert aktuell ein offenes Schichtmodell, um eine flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit auch für Beschäftigte im Produktionsumfeld mit Schichtarbeit zu ermöglichen. Ein weiterer Zielaspekt ist es, die soziale Anerkennung und Akzeptanz in der Belegschaft für Beschäftigte und Führungskräfte in Teilzeit zu stärken. Mit einem „Betrieblichen Praxislaboratorium“ wird dabei ein ergebnisoffener Experimentierraum geschaffen, um die Arbeitswelt der Zukunft zu gestalten. Es wurden Lösungen über verschiedene Hierarchiestufen hinweg sozialpartnerschaftlich, agil und beteiligungsorientiert auf Augenhöhe erarbeitet. Das Projekt bestand aus einem „Lab-Team“ mit rund
15 Produktionsbeschäftigten, einem Lenkungskreis sowie der wissenschaftlichen Begleitung. Die wissenschaftliche Evaluation dieser innovativen Ansätze ermöglicht es, mit dieser anwendungsorientierten Forschung wichtige praxisnahe Ergebnisse zu generieren.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ziel sollte es in Zukunft sein, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Chronodisruption, aber auch zum Nutzwert für das Sozialleben und die persönliche Regeneration infolge von Arbeit in unterschiedlichen Schichtsystemen zu gewinnen. Dazu müssen sowohl Parameter wie Lichtexposition, körperliche Aktivität, Schlafdauer/-qualität und Lebensqualität als auch biologische Effektparameter im Zeitverlauf genauer bestimmt werden. Diese Ergebnisse sollten in praktische Empfehlungen für Schichtsysteme umgesetzt werden, die eine mögliche Chronodisruption minimieren.

Vielen Dank für das Gespräch!

doi:10.17147/asu-1-189923i

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