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Gefährdungsbeurteilung

Arbeitsgestaltung im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung

Herausforderungen am Beispiel der Arbeitsintensität

Work Design in the Context of Psychosocial Risk Assessment - Challenges Using the Example of Work Intensity

Einleitung

Eine hohe Arbeitsintensität ist für alle Tätigkeiten durch angemessene Maßnahmen zu vermeiden und grundsätzlich in der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen (GDA 2022). Mit der Arbeitsintensität wird das Verhältnis aus der Arbeitsmenge, den qualitativen Anforderungen (Schwierigkeit, Komplexität) und der für die Bearbeitung zur Verfügung stehenden Zeit bezeichnet (➥ Abb. 1; vgl. Stab et al. 2016). Obwohl diese Verpflichtung explizit schon seit einigen Jahren besteht, bleibt das Erleben von Zeit- und Leistungsdruck auf einem hohen Niveau. So geben im Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) 48 % der Befragten an, häufig einen hohen Zeit- und Leistungsdruck (ZLD) zu erleben. 67 % von diesen fühlen sich hierdurch belastet. 2012 waren es 65 % (Schulz-Dadaczynski 2020). Offenbar gelingt es dem betrieblichen Arbeitsschutz nicht, Gefährdungen durch hohe Arbeitsintensität ausreichend abzubauen.

Die BAuA untersucht in mehreren Projekten die betriebliche Umsetzung dieser Arbeitsschutz- und Gestaltungsaufgabe. Sie möchte in Erfahrung bringen, warum es nicht gelingt, Gefährdungen durch psychische Belastung ausreichend zu vermeiden. Sie untersucht auch, welche Gestaltungsansätze – hier: zur Vermeidung hoher Arbeitsintensität – in der betrieblichen Praxis entwickelt und umgesetzt werden.

Dieser Beitrag stellt vor, welche Herausforderungen betriebliche Arbeitsschutz-Akteurinnen und -Akteure mit der Arbeitsgestaltung im Rahmen der Gefährdungs­beurteilung psychischer Belastung verbinden und illustriert diese mit Hilfe von Interview­daten am Beispiel der Arbeitsintensität. Darüber hinaus werden berichtete Gestaltungsansätze zur Vermeidung hoher Arbeitsintensität exploriert. Die empirische Grundlage bilden transkribierte Interviews mit betrieblichen Arbeitsschutzbeauftragten aus 34 Unternehmen verschiedener Größen und Branchen, die qualitativ thematisch ausgewertet wurden (Schuller u. Schulz-Dadaczynski 2022; Beck u. Schuller 2020; Schuller 2019).

Komplexität betrieblicher Ent­stehungs- und Wirkungsbedingungen und Interessenkonflikte – Wo an­setzen mit der gefährdungsvermeidenden Arbeitsgestaltung?

Als Herausforderung für die Entwicklung von Gestaltungsmaßnahmen zur Vermeidung von Gefährdungen durch psychische Belastung thematisierten betriebliche Akteurinnen und Akteure die hohe Komplexität betrieblicher Entstehungs- und Wirkungsbedingungen dieser Gefährdungen (im Kontrast zur relativen Klarheit wissenschaftlicher Konzepte, mit denen Gefährdungen durch psychische Belastung beschrieben werden). Psycho­soziale Risiken tragen den Charakter von sogenannten „wicked problems“ („verzwickte Probleme“; vgl. Jespersen et al. 2016). Während bei sogenannten „tame problems“ („zahme Pro­bleme“) sowohl die Problemdefinition als auch die Möglichkeiten der Pro­blemlösung eindeutig sind, sind psychoso­ziale Risiken durch eine hohe Komplexität und Diversität, durch vielfältige Interdependenzen, Problemsichten und Interessenkonflikte gekennzeichnet (vgl. Beck 2019). Es findet sich wiederholt das Bild der vielen verschiedenen „Stellschrauben“ für die Gestaltung psychischer Belastung. Hinsichtlich der Arbeitsintensität führten die Interviewten die Komplexität weiter aus:

Ursachen einer hohen Arbeitsintensität lägen auch „außerhalb“ des Unternehmens (z. B. durch Kunden- und Klientenanforderungen, aber auch in der Zusammenarbeit mit Trägern von Einrichtungen, dem Mutterkonzern bzw. anderen Unternehmensstandorten in multinationalen Unternehmen), auf Unternehmensebene (z. B. durch komplexe, verkomplizierte Prozesse), aber auch im Verhalten und Einstellungen von Beschäftigten (z. B. durch Bestehen auf aufwendigere Prozesse, durch Akzeptanz hoher Arbeitsintensität bei hoher Leistungsbereitschaft und/oder Wahrnehmung der Arbeitsintensität als berufsimmanent). Die Wirkungen hoher Arbeitsintensität seien für die Beschäftigten unter Umständen nicht nur negativ, sondern auch Ausdruck von Erfolg und Abwechslung. Diese Ambivalenz hoher Arbeitsintensität deckelt das Sichtbarwerden der Gefährdung für betriebliche Arbeitsschutzbeauftragte (Schuller u. Schulz-Dadaczynski 2022).

Fehlende wahrgenommene ­Gestaltungsspielräume – kann der betriebliche Arbeitsschutz überhaupt Gefährdungen durch hohe Arbeits­intensität vermeiden?

Der betriebliche Arbeitsschutz nimmt eingeschränkte Gestaltungsspielräume in Bezug auf psychische Belastung wahr. Arbeitsbedingungen wurden zum Teil als nicht änderbar beschrieben, wenn Gefährdungen als zum Beruf gehörig wahrgenommen wurden (z. B. Gefährdung durch delinquente Jugendliche in der Sozialarbeit) oder Folge sehr grundlegender Strukturen und Prozesse im Unternehmen waren (z. B. Bettenmanagement im Klinikbereich als Ursache hoher Arbeitsintensität auf den Stationen). Hier wurden nur geringe Möglichkeiten gesehen, Gefährdungen durch psychische Belastung mithilfe angemessener Maßnahmen zu vermeiden. Bezüglich der Arbeitsintensität thematisierten die Befragten, dass zum einen Ressourcenentscheidungen (z. B. über Personal, zur Verfügung stehende Zeit) nicht immer unternehmensinterne Entscheidungen seien. Der gesetzliche Rahmen sähe zudem zum Teil Leistungen vor, die nicht durch eine angemessene Finanzierung abgesichert wären und/oder den Unternehmen die Flexibilität nähmen, Entscheidungen im Sinne der Beschäftigten zu treffen. Nicht immer sahen die Interviewten hier Gestaltungsspielräume, um den Konflikt zwischen den Leistungsanforderungen/-erwartungen „von außen“ (Gesetzgeber, Kundinnen/Kunden, Klientinnen/Klienten), der Wirtschaftlichkeit und dem Gesundheitsschutz in Richtung des Gesundheitsschutzes aufzulösen. Eine weitere Schwierigkeit bestehe darin, dass insbesondere dort, wo die Arbeitsintensität bereits sehr hoch sei, die Ressourcen für die Entwicklung von Maßnahmen (Zeit, Strukturen) schlichtweg fehlten. Weiterhin wurde thematisiert, dass eine hohe Arbeitsintensität nicht nur von den Arbeitsbedingungen abhängig sei, sondern auch Anforderungen aus dem Privatleben eine Rolle spielten. Da das Private nicht in den Wirkungsbereich betrieblicher Akteurinnen und Akteure fiele, wurden hier die Gestaltungsspielräume ebenfalls als begrenzt wahrgenommen (Schuller u. Schulz-Dadaczynski 2022).

Fehlendes Bewusstsein für Arbeitsgestaltungsprozesse – „Arbeits­gestaltung“, eine Black Box?

In den Interviews stellten die Befragten ihr Vorgehen beim Ermitteln von Gefährdungen durch psychische Belastung differenziert dar. Schilderungen von Prozessen der Maßnahmenentwicklung und -umsetzung nahmen dagegen im Interviewverlauf nur einen geringeren Raum ein, sie waren weniger detailreich und blieben eher oberflächlich. Die Interviewten schienen Prozesse der eigentlichen Arbeitsgestaltung, also der Entwicklung, Umsetzung und Reflexion von Maßnahmen, im Vergleich mit der Phase der Gefährdungsermittlung nur wenig reflektiert zu haben (Schuller 2018).

In den Interviews, in denen Maßnahmen zur Vermeidung von Gefährdungen berichtet wurden, zeigte sich, dass diese Maßnahmen nicht unbedingt im Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung umgesetzt wurden. Sie wurden durchaus in ganz anderen betrieblichen Kontexten entwickelt und umgesetzt, waren aber auch geeignet, Gefährdungen durch psychische Belastung zu vermeiden. Daher wurden sie im Arbeitsschutzkontext reflektiert. Es gibt also auch in anderen betrieblichen Kontexten Arbeitsgestaltungsprozesse, die vom betrieblichen Arbeitsschutz genutzt und hinsichtlich ihres Potenzials zur Vermeidung von Gefährdungen durch psychische Belastung systematischer reflektiert werden können.

Gestaltungssätze zur Vermeidung von Gefährdungen durch hohe Arbeitsintensität – Einlassen auf Komplexität ermöglicht vielfältige Maßnahmen

In fünfzehn der 34 Fälle wurden Gestaltungsansätze zur Vermeidung von Gefährdungen durch hohe Arbeitsintensität reflektiert (➥ Abb. 2). Bereits an der Schnittstelle zwischen dem Unternehmen und „draußen“ (Markt, Kundinnen/Kunden, gesetzliche Regelungen, externe Träger) berichten die Befragten Maßnahmen, die die Arbeitsmenge begrenzen (z. B. Anpassung des Angebots für Kundinnen/Kunden an vorhandene Ressourcen) und die für die Erledigung der Aufgaben zur Verfügung stehende Zeit anpassen (z. B. durch eine verbesserte Koordination der Auftragsplanung). Unternehmensintern wurden ebenfalls Maßnahmen berichtet: Zur Begrenzung der Arbeitsmenge wurden beispielsweise Aufgaben begrenzt und Stellenprofile entsprechend überarbeitet, Prozesse optimiert und verschlankt und die Arbeitsteilung überarbeitet (differenzielle Arbeitsteilung, stärkere Arbeitsteilung). Qualitative Merkmale der Arbeitsaufgaben wie die Schwierigkeit und Komplexität wurden berücksichtigt, indem zum Beispiel sogenannte „schwierige“ Fälle gleichmäßig auf Mitarbeitende verteilt wurden (Schuller u. Schulz-Dadaczynski 2022).

Abb. 2:  Wesentliche Aspekte der Komplexität von Arbeitsintensität und beschriebene Gestaltungsansätze zur Vermeidung hoher Arbeitsintensität, die den verschiedenen Ebenen zugeordnet werden können (in Anlehnung an Schuller u. Schulz-Dadaczynski 2022)

Abb. 2: Wesentliche Aspekte der Komplexität von Arbeitsintensität und beschriebene Gestaltungsansätze zur Vermeidung hoher Arbeitsintensität, die den verschiedenen Ebenen zugeordnet werden können (in Anlehnung an Schuller u. Schulz-Dadaczynski 2022)

Die von betrieblichen Akteurinnen und Akteuren wahrgenommene Komplexität der Entstehungsbedingungen hoher Arbeits­intensität ist also nicht nur eine Schwierig­keit für die Gestaltung, sondern bietet Möglichkeiten, auf verschiedenen Ebenen – beispielsweise an der Schnittstelle zwischen dem Unternehmen und dem „Draußen“, auf Unternehmensebene (organisational, Teamebene) und an der Schnittstelle zwischen den Beschäftigten und ihren Tätigkeiten – Gefährdungen durch hohe Arbeitsintensität durch eine aktive Arbeitsgestaltung zu vermeiden.

Fazit

Der Beitrag zeigt, dass Arbeit nicht unbedingt im Arbeitsschutzkontext gestaltet wird. Es gibt verschiedene betriebliche Kontexte, in denen tagtäglich Gestaltungsentscheidungen getroffen werden, die psychische Belastung formen. Sich diese bewusst zu machen, sie hinsichtlich möglicher Gefährdungen durch psychische Belastung zu hinterfragen und gegebenenfalls andere Gestaltungsentscheidungen anzustoßen – dies ist die Aufgabe des Arbeitsschutzes. So wird die Gefährdungsbeurteilung ein Prozess des systematischen Hinterfragens und Überarbeitens von Arbeitsgestaltungs­lösungen beziehungsweise von Maßnahmenkonzepten zur Vermeidung von Gefährdungen durch psychische Belastung.▪

Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Literatur

Beck D: Psychische Belastung als Gegenstand des Arbeitsschutzes: Typische Herausforderungen in der betrieblichen Praxis. Arbeit 2019; 28: 125–147.

Jespersen AH, Hasle P, Nielsen KT: The Wicked Character of Psychosocial Risks: Implications for Regulation. Nordic Journal of Working Life Studies 2016; 6: 23–42.

Schuller K: Schwierigkeiten bei der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Vermeidung von Gefährdungen durch psychische Belastung. In: Kampe J, Trimpop R, Bald M, Seliger I, Effenberger G (Hrsg.): Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. Von­einander lernen und miteinander die Zukunft gestalten!
20. Workshop 2018. Kröning: Asanger, 2018, S. 203–206.

Schuller K: Interventions as the centrepiece of psychosocial risk assessment – why so difficult? Int J Workplace Health Manage 2019; 13: 61–80.

Schulz-Dadaczynski A: Termin- oder Leistungsdruck. In: BAuA (Hrsg.): Stressreport Deutschland 2019: Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2020, S. 40–47.

Schuller K, Schulz-Dadaczynski A: Arbeitsgestaltung bei hoher Arbeitsintensität und Zeit- und Leistungsdruck – Herausforderungen und Herangehensweisen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung.
Z Arbeit Organisationspsychol 2022; 62: 98–212.

doi:10.17147/asu-1-257880

Weitere Infos

Beck D, Schuller K: Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis. Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus einem Feldforschungsprojekt. In: baua: Bericht kompakt, Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2020
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Bericht-kompakt/F2358.html

GDA Arbeitsprogramm Psyche: Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung – Empfehlungen zur Umsetzung in der betrieblichen Praxis, 4. Aufl. 2022
https://www.gda-psyche.de/SharedDocs/Downloads/DE/empfehlungen-zur-umse…

Stab N, Jahn S, Schulz-Dadczynski A.: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Arbeitsintensität. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2016
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/F2353-1d.html

Kernaussagen

  • Prozesse der Arbeitsgestaltung zur Vermeidung von Gefährdungen durch psychische ­Belastung werden von betrieblichen Akteurinnen und Akteuren als herausfordernd erlebt.
  • Sie reflektieren mit Bezug auf die Vermeidung von Gefährdungen durch hohe Arbeitsinten­sität insbesondere eine hohe Komplexität der Entstehungsbedingungen und nehmen ihre ­Gestaltungsspielräume als gering wahr.
  • Die thematisierte hohe Komplexität von Entstehungsbedingungen muss allerdings nicht nur hinderlich sein. Sie bietet vielmehr Chancen, hoher Arbeitsintensität auf ganz verschiedenen Ebenen aktiv entgegenzuwirken und Gefährdungen zu vermeiden.
  • Kontakt

    Dr. Katja Schuller
    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)
    Nöldnerstraße 40–42
    10317 Berlin

    Foto: Uwe Völkner / Fotoagentur FOX

    Koautor
    Dr. David Beck
    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Berlin

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