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Berufskrankheiten-Begutachtung

Obwohl es sich bei Berufskrankheiten (BK) um gesetzlich „bezeichnete“ Versicherungsfälle handelt, gibt es keine behördlichen Vorgaben zur Begutachtung. Weder das Bundesarbeitsministerium (Sozialgesetzbuch VII, BKV etc.) noch das Bundesgesundheitsministerium (z. B. Ärztliche Weiterbildungsordnung etc.) kennen dazu Regelungen, die einer Standardisierung der BK-Verfahren dienlich wären.

Das Defizit offenbart sich eindrucksvoll beim Studium mehrbändiger (Landes-) Sozialgerichtsakten und lässt sich systematisch an Hand der drei BK-Begutachtungssäulen wie folgt aufgliedern:

  1. IObjektivierung der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung einer BK
  • In Kenntnis der Tatsache, dass die zu-ständigen (BK- und) Unfallversicherungsträger (z. B. „Berufsgenossenschaften“) gleichzeitig als Unternehmer-Haftpflichtversicherungen fungierend (§ 104 SGB VII) „von Amts wegen“, d. h. von sich aus ermitteln (§ 20 SGBX), ist es nachvollziehbar, warum deren „Expertisen“ (z. B. TAD-Berichte) häufig Anlass umfänglicher Rechtsstreitigkeiten in den BK-Verfahren sind.
  • Hier wäre eine Aufhellung durch un-abhänghängige Sachverständige, spätes-tens im Auftrag der Sozialgerichte erfor-derlich. Dies soll durchaus als eine Aufwertung der ersten Säule verstanden werden und eine „echte“ Begutachtung nach § 106 SGG zur Folge haben. Infrage dafür kämen Arbeitswissenschaftler, Gewerbeaufsichtsbeamte, TÜV-Experten u. a. m.
  • Nicht zu unterschätzen ist an dieser Stelle die Funktion der arbeitsmedizinischen Berufsanamnese (vgl. III), die ebenfalls zur Aufklärung über die BK-verursachenden Expositionsverhältnisse relevante Fakten aufzudecken ermöglicht.
  1. IIKlinische Diagnosesicherung
  • Selbstverständlich sind die klinischen Diagnosen – leitliniengerecht erarbeitet und die ICD-10-Vorgaben berücksichtigend – gutachtlich eine Domäne der Fachärzte mit entsprechender Gebietsanerkennung. Probleme erwach-sen aber, wenn Kliniker (z. B. Chef- und Oberärzte etc.) zu BK-Fragen bemüht werden, für die sie laut Weiterbildungsordnung nicht zuständig sind. Offenbar ist vielen Richtern nicht bekannt, dass im Rahmen der fachärztlichen Weiterbildungsordnung die BK-Lehre nahezu ausgespart wurde (Ausnahme: Arbeitsmedizin, vgl. III).
  1. IIIArbeitsmedizinisches BK-Zusammenhangsgutachen
  • Der Begriff „Zusammenhangsgutachten“ wird sowohl vom Gesetz- als auch vom Verordnungsgeber (§ 9 Abs. 6 SGBVII und § 4 Abs. 4 BKV) nur im Zusammenhang mit den für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen ver-wendet. Und ausgerechnet die Staat-lichen und (Landes-)Gewerbeärzte haben sich zunehmend aus den BK-Verfahren verabschiedet …
  • Unstrittig ist aber, dass die Weiterbildungsordnung von Arbeitsmedizinern umfangreiche BK-Kenntnisse ab-verlangt (obwohl angesichts von 77 BK-Positionen in der Anlage 1 BKV dies quasi einer Überforderung gleichkommt!). Folglich erstellt nur ein Arbeitsmediziner in Gesamtschau der überprüften arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK-Entstehung (vgl. I) mit der gesicherten klinischen Diagnose (vgl. II) auf dem Boden einer eigens erhobenen Berufsanamnese das maßgebliche BK-Zusammenhangsgutachten.
  • Leider wird diese arbeitsmedizini-sche BK-Fachkompetenz sowohl in den Verwaltungs- als auch in den Gerichtsakten nicht in angemessener Weise be-rücksichtigt (cui bono?).

Lösungsansätze

Aus medizinischer Sicht bieten sich zwei Herangehensweisen zurVerfahrensoptimie-rung an: Benennung von Obergutachtern und Hinzuziehung von Rechtsmedizinern.

Als BK-Obergutachter sind Doppelfach-ärzte qualifiziert, die zusätzlich zur arbeitsmedizinischen Gebietsanerkennung (vgl. III) über die für die klinische Diagnose in Frage kommende Facharztausbildung als Pneumo-loge, Orthopäde etc. (vgl. II) verfügen.

Bei Berufskrankheiten mit Todesfolgen sind Rechtsmediziner in besonderer Weise als BK-Gutachter gefordert, weil sie eine pathologische und toxikologische Weiterbildung nachweisen können. Neben derer Aufklärungsleistungen im Falle von Obduktionen sollten sie spätestens von Sozialrichtern im BK-Verfahren vermehrt einbezogen werden, weil laut Weiterbildungsordnung die „Darstellung des Kausalzusammenhangs im Rahmen der Todesermittlung“ ausdrücklich zu ihren Hauptaufgaben gehört.

Allerdings: „Zuerst ist es Aufgabe der Politik, Regelungen zu setzen“ (Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, FAZ vom 28. Mai 2015).

Juristisch gesehen wäre eine Korrektur der Marginalisierung von BK-Anforderungen im Rahmen der klinischen Facharzt-ausbildung unabdingbar, weil diese auch einem iatrogenen BK-Dunkelziffernanstieg Vorschub leistet. Zumindest sollte im Ausbildungscurriculum ein BK-Begutachtungsnachweis eingeführt werden, ohne den sich Kliniker zu BK-Fragen gutachtlich nicht äußern dürften.

Sowohl zur Fortbildung als auch als Be-gutachtungsunterlagen stellen die amtlichen BK-Merkblätter zwar eine traditionsreiche Informationsquelle dar, sie werden aber leider vom BMAS nicht mehr herausgegeben. Stattdessen liefern seit 1995 „Wissenschaftliche Begründungen“ für neue BK den Gutachtern und Richtern wertvolle Entscheidungshilfen (Hrsg.: BMAS).

Ferner wären die früheren „Anhaltspunkte für die Begutachtung im sozialen Entschädigungsrecht …“ (BMAS) durchaus geeignet gewesen, als Vorbild für die BK-Begutachtung im Rahmen einer Verordnung aufgearbeitet zu werden.

Wenig hilfreich für die praktische Gutachtertätigkeit erscheint darüber hinaus die Tatsache, dass der Verordnungsgeber anstelle von „Krankheiten“ (§ 9 Abs. 1 SGBVII) Schädigungen und Syndrome in die BK-Liste einrückt oder – wissenschaftlich unbegründet – Berufskrebsentitäten nur bei multiplem Auftreten zur Anerkennung vorschlägt (Anlage 1 BKV nach der dritten Änderungsverordnung).

Ausblick

Dankenswerterweise hat die DGAUM (feder-führend) – eine ministerielle Regelungslücke angehend – Zertifizierungsbemühungen für die BK-Zusammenhangsbegutachtung angestrengt, die sich an Interessenten aller Fachrichtungen wendet und erfreulicherweise guten Anklang findet.

Dr. med. Franz H. Müsch, Köln

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    In der Juli-Ausgabe der ASU wurde über neue Möglichkeiten für Betriebs- und Werksärzte durch das Präventionsgesetz und in diesem Zusammenhang über das Pilotprojekt „Vom Setting Betrieb zum Netzwerk Versorgung“ und dessen Evaluation berichtet. Den Artikel finden Sie auf der ASU-Homepage oder direkt hier:

    Gerne möchten wir Sie bezüglich der Evaluation des Pilotprojekts nochmal ganz herzlich erinnern und einladen, den Fragebogen zum Zeitpunkt T1 auszufüllen – unabhängig von einer Teilnahme an den Fortbildungsveranstaltungen – damit das Projekt erfolgreich evaluiert werden kann.

    Der Fragebogen zum Zeitpunkt T1 mit rückfrankiertem Briefumschlag und Adressaufschrift lag der Juli-Ausgabe der ASU bei und kann ferner von der ASU-Homepage oder direkt hier heruntergeladen werden:

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