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Urteile des Bundessozialgericht vom 07.05.2019 – B 2 U 25/17 R + B 2 U 26/17 R

Persönlicher Eindruck des Gutachters unabdingbar

Sachverhalt

Die Klägerin, eine abhängig beschäftigte Tierärztin, begehrt von der beklagten Berufsgenossenschaft Verletztenrente wegen der Folgen zweier Arbeitsunfälle. Am 20.06.2008 stürzte sie auf dem Weg zur Arbeit und zog sich einen Kahnbeinbruch der linken Hand zu. Am 25.06.2008 erlitt sie beim Impfen eines Kamerunschafes einen weiteren Arbeitsunfall, wobei das rechte Handgelenk verletzt wurde.

Die Beklagte schlug der Klägerin im Verwaltungsverfahren gemäß § 200 Abs. 2 SGB VII drei Gutachter zur Auswahl vor. Nach dieser Anhörung beauftragte sie Prof. Dr. E.,
Chefarzt der Abteilung für Hand-, Replantations- und Mikrochirurgie des Unfallkrankenhauses B., mit der Begutachtung. In dem Gutachten vom 08.04.2010, das Prof. Dr. E. „aufgrund eigener Urteilsbildung“ und Oberarzt Dr. B. „aufgrund eigener Untersuchung und Urteilsbildung“ unterzeichnet haben, wird die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im Bereich der linken Hand nach Ende der Arbeitsunfähigkeit am 06.10.2008 mit 10 v.H. eingeschätzt. In dem Gutachten vom 17.05.2010 zur rechten Hand, das ebenfalls von Prof. Dr. E. „aufgrund eigener Urteilsbildung“ und Oberarzt Dr. B. „aufgrund eigener Untersuchung und Urteilsbildung“ unterzeichnet wurde, wird ausgeführt, dass im Bereich der rechten Hand eine TFCC-Läsion bei vorbestehendem degenerativen Vorschaden, eine geringgradig reduzierte Beweglichkeit des rechten Handgelenks, eine gering reduzierte Kraft der rechten Hand sowie subjektiv geäußerte Beschwerden bestünden. Die MdE sei auf unter 10 v.H. einzuschätzen.

Darauf gestützt lehnte die Beklagte die Gewährung von Rentenleistungen ab und erkannte als Unfallfolgen an: folgenlos ausgeheilte Prellung des rechten Handgelenks bei erheblichen unfallunabhängigen Vorschäden im Bereich des rechten Handgelenks und knöchern fest verheilte Kahnbeinfraktur links bei erheblichen unfallunabhängigen Vorschäden im Bereich des linken Handgelenks (Bescheide vom 10.08.2010 und Widerspruchsbescheide vom 04.05.2011).

Das Sozialgericht (SG) hat im Klageverfahren auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG ein Gutachten des Chirurgen Dr. H. eingeholt, wonach im Vergleich zur Vorbegutachtung im Verwaltungsverfahren die Einschränkung sowohl der Unterarmdrehung als auch der Bewegungen im linken Handgelenk in allen Ebenen zugenommen habe. Die MdE betrage 20 v.H. Die Beklagte legte hierzu eine von Prof. Dr. E. und Dr. H. unterzeichnete Stellungnahme vor, nach der die MdE mit 10 v.H. einzuschätzen sei. Die Klägerin machte daraufhin geltend, das von Prof. Dr. E. lediglich mitunterschriebene Gutachten vom 08.04.2010 sei unverwertbar, weil es von dem nicht zum Gutachter ernannten Dr. B. erstellt worden sei. Der allein zum Gutachter bestellte Prof. Dr. E. habe außer seiner Unterschrift zu dem Gutachten nichts beigesteuert und damit entgegen § 407a Abs. 2 ZPO die zentralen Aufgaben der Begutachtung nicht selbst erbracht. Sie habe Prof. Dr. E. selbst überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Weiterhin beantragte sie, Prof. Dr. E. und Dr. B. zur mündlichen Verhandlung zu laden und persönlich anzuhören. Dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. komme zudem ein höherer Beweiswert zu, weil es sich bei den beiden anderen Gutachten lediglich um Verwaltungsgutachten handele, deren Beweiskraft als Urkundenbeweis begrenzt sei. Das SG hat daraufhin von Amts wegen eine Begutachtung durch Dr. W. veranlasst, der in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gelangte, Folgen des Arbeitsunfalls vom 20.06.2008 seien nicht mehr feststellbar.

Das SG hat die Klagen abgewiesen (Gerichtsbescheide vom 23.10.2014), das Landessozialgericht (LSG) die Berufungen der Klägerin zurückgewiesen (Urteile vom 28.10.2016). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, der Arbeitsunfall vom 20.06.2008 hätte zu keinen Funktionsstörungen geführt, die die Gewährung einer Verletztenrente rechtfertigen könnten. Die neben dem Kahnbeinbruch an der linken Hand festgestellten Veränderungen seien nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Folgen des Arbeitsunfalls. Prof. Dr. E. habe in seinem von dem Oberarzt Dr. B. mitunterzeichneten Gutachten darauf hingewiesen, dass für die unfallunabhängige Entstehung der degenerativen Befunde deren Erkennbarkeit schon in den zeitnah zum Unfallgeschehen durchgeführten Röntgenuntersuchungen spreche, wobei sich diese auch in der von ihm durchgeführten aktuellen Röntgendiagnostik in unveränderter Form hätten nachweisen lassen. Darüber hinaus habe der Sachverständige Dr. W. plausibel darauf hingewiesen, dass für die Einordnung der Arthrose als anlagebedingtes Leiden auch die Beidseitigkeit und symmetrische Ausprägung der Befunde sprächen. Das Ergebnis der Begutachtung im Verwaltungsverfahren mit einer MdE von 10 v.H. sei angesichts der fast vollständigen Beweglichkeit des linken Handgelenks nicht nachvollziehbar.

Die Beweisanträge betreffend einer Vernehmung des Prof. Dr. E. beziehungsweise des Dr. B. seien nicht rechtzeitig gestellt worden, weil die Klägerin bereits im Widerspruchsverfahren anwaltlich vertreten gewesen sei. Deshalb hätte sie nach der Rechtsprechung des BSG noch vor Abschluss des laufenden Verwaltungsverfahrens die Verletzung des Auswahlrechts rügen müssen. Doch selbst wenn der Verfahrensfehler rechtzeitig gerügt worden wäre, ließe sich eine Unverwertbarkeit des Gutachtens des Prof. Dr. E. nicht begründen. Für ein im gerichtlichen Verfahren eingeholtes Gutachten gehöre die persönliche Untersuchung nur dann zum unverzichtbaren Kern der Aufgaben des Sachverständigen, wenn es sich um eine psychiatrische Begutachtung handele. Darüber hinaus lägen keine Erkenntnisse vor, dass Prof. Dr. E. tatsächlich – entgegen der von ihm mit der Unterschriftsleistung gegebenen Versicherung – die Ausführungen seines Mitarbeiters Dr. B. nicht überprüft habe.

Beweiswert von Verwaltungsgutachten

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihren Revisionen, die im Sinne der Aufhebung der angefochtenen Urteile und der Zurückverweisung der Sachen an das LSG begründet waren. Die Urteile leiden nach Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) an einem Begründungsmangel i.S. des § 128 Abs. 1 S. 2 SGG, weil das LSG zwar die Möglichkeit eines Verwertungsverbotes der Verwaltungsgutachten erörtert und im Ergebnis ablehnt habe, aber nicht zu erkennen gäbe, welchen Beweiswert es diesen Gutachten im Verhältnis zu anderen Beweismitteln beimesse.

Das LSG gehe nicht auf die Frage ein, ob die Verwaltungsgutachten des Prof. Dr. E. beziehungsweise des Dr. B. den förmlichen und inhaltlichen Anforderungen eines ordnungsgemäßen Sachverständigengutachtens entsprächen. Insbesondere bleibe unklar, ob dem LSG bewusst war, dass die im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten nicht im Wege des Sachverständigenbeweises (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 402ff Zivilprozessordnung [ZPO]), sondern allenfalls als Urkundenbeweis gewürdigt werden durften (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 415ff ZPO). Dazu hätte es in der Begründung zu erkennen geben müssen, dass es das Verwaltungsgutachten gerade nicht als Sachverständigengutachten verwertet hat und ihm die Besonderheiten des Urkundenbeweises bewusst gewesen seien, zu denen beispielsweise die fehlende Verantwortlichkeit des Verwaltungsgutachters gegenüber dem Gericht, die fehlende Strafandrohung der §§ 153ff StGB, die fehlende Möglichkeit der Beeidigung, das fehlende Ablehnungsrecht und insbesondere das fehlende Fragerecht zählen.

Verwertbarkeit von Verwaltungs­gutachten

Voraussetzung der Verwertbarkeit eines Verwaltungsgutachtens sei zunächst, dass es in Form und Inhalt den (Mindest-)Anforderungen entsprächen. Die Klägerin habe sowohl im Klage- als auch im Berufungsverfahren behauptet, der Verwaltungsgutachter Prof. Dr. E. habe sie weder untersucht, noch sei er ihr persönlich begegnet. Zur Beurteilung der Verwaltungsgutachten hätte das LSG diesem Vortrag zum Beispiel durch Befragung der beteiligten Ärzte nachgehen müssen. Sofern das LSG zu der Feststellung gelangt, dass das Vorbringen der Klägerin zutrifft, also Prof. Dr. E. keinerlei Kontakt mit ihr hatte, würden die Verwaltungsgutachten Prof. Dr. E./Dr. B. gegen § 200 Abs. 2 Halbs. 1 SGB VII verstoßen und unter einem Verfahrensfehler leiden. Hieraus folge zwar noch nicht zwingend ein Beweisverwertungsverbot dieses Verwaltungsgutachtens. Das LSG würde dann aber weiter zu ermitteln und zu prüfen haben, ob aufgrund der Mitarbeit des Oberarztes Dr. B. bei der Gutachtenerstellung ein Verstoß gegen datenschützende Normen vorliege und daraus eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG) mit der Folge eines Verwertungsverbots resultieren könnte.

Missachtung des Auswahlrechts ist Verfahrensfehler

Sofern es im Rahmen der Begutachtung zu keiner persönlichen Begegnung zwischen dem ernannten Gutachter und dem Probanden komme, sei sein Gutachten auf jeden Fall verfahrensfehlerhaft. Dabei könne dahinstehen, ob §  407a der ZPO, wonach der beauftragte Sachverständige das Gutachten persönlich zu erstatten hat und eine Übertragung des Gutachtensauftrags auf andere Personen unzulässig ist, sinngemäß auch im Verwaltungsverfahren Anwendung finde. Denn in der fehlenden Begegnung mit dem ernannten Gutachter liege ein Verstoß gegen die unfallversicherungsrechtliche Sondernorm § 200 Abs. 2 Halbs. 1 SGB VII. Sie regele für den Bereich der Gesetzlichen Unfallversicherung eine Gutachterbenennungspflicht der Verwaltung und damit korrespondierend ein Auswahlrecht des Versicherten.

Aus § 200 Abs. 2 Halbs. 1 SGB VII folge unabhängig von der Anwendbarkeit des § 407a ZPO zwingend, dass der ausgewählte Gutachter seinen Gutachtenauftrag nicht auf einen weiteren Gutachter übertragen darf. Dies würde Sinn und Zweck der Norm zuwiderlaufen, dem Bürger durch Einräumung eines Auswahlrechts eine qualifizierte Mitwirkung bei der behördlichen Ermittlung des Sachverhalts einzuräumen und die Akzeptanz des Verwaltungsverfahrens zu fördern. Dieses Übertragungsverbot verbiete zwar grundsätzlich nicht, weitere Personen zu unterstützenden Diensten nach Weisung heranzuziehen, sofern der beauftragte Gutachter seine das Gutachten prägenden und regelmäßig in einem unverzichtbaren Kern von ihm selbst zu erbringenden Zentralaufgaben selbst wahrnimmt, die abhängig vom Fachgebiet differieren können. Insofern könnten hier die Grundsätze des § 407a ZPO herangezogen werden.

Persönlicher Eindruck zwingend ­erforderlich

Die persönliche Begegnung mit der zu untersuchenden Person gehöre indes bei einem gemäß § 200 Abs 2 Halbs 1 SGB VII in Auftrag gegebenen Gutachten auch auf orthopädischem, hand- beziehungsweise (unfall-)chirurgischem Fachgebiet zu den nicht übertragbaren Kernaufgaben, die der ernannte Gutachter selbst zu erbringen habe. Eine solche persönliche Begegnung, bei der sich der Gutachter einen persönlichen Eindruck verschafft und der zu Begutachtende seine subjektiven Beschwerden vorbringen kann, sei im Rahmen einer Begutachtung nach § 200 Abs. 2 Halbs. 1 SGB VII zwingend erforderlich. Ansonsten würde gerade der von § 200 Abs. 2 Halbs. 1 SGB VII vorausgesetzte Sinn und Zweck des Untersuchungsauftrags nicht erreicht werden, wenn der Versicherte den von ihm selbst benannten Gutachter überhaupt nicht zu Gesicht bekomme und der ernannte Gutachter andererseits sich nicht durch eine unmittelbare Sinneswahrnehmung einen persönlichen Eindruck vom Versicherten verschaffe. Damit entspräche es gerade der mit der Norm beabsichtigten Transparenz des Verfahrens, dass der Versicherte einen Anspruch darauf hat, mit dem von ihm ausgewählten Gutachter, der das Gutachten nach einer Untersuchung erstellen soll, persönlich in Kontakt zu treten.

Dieser Grundsatz werde bestätigt durch Ziffer 4.2 der Leitlinie „Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung“ (AWMF-Registernummer 094/001), an der unter anderem auch die Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie beteiligt ist. Nach Ziffer 4.2 der Leitlinie „muss sich“ der Gutachter „zwingend einen persönlichen Eindruck von dem zu Begutachtenden, seinen Beschwerden und den zu erhebenden Befunden verschaffen, um die aus Rechtsgründen erforderliche Letztverantwortung für das Gutachten übernehmen zu können.“

Rügerecht im Gerichtsverfahren

Die Klägerin hatte erstmals im Gerichtsverfahren vor dem SG gerügt, dass Prof. Dr. E.
nicht Verfasser des Gutachtens gewesen sei beziehungsweise sie ihn überhaupt nicht „gesehen“ habe. Dies war nicht verspätet. Im Verfahren nach dem SGG seien trotz des herrschenden Amtsermittlungsprinzips Verstöße gegen Verfahrens- und insbesondere gegen Formvorschriften nicht von Amts wegen, sondern nur auf Rüge zu beachten. Daher müsse gemäß § 202 S. 1 SGG i.V.m. § 295 Abs. 1, § 556 ZPO eine Rüge bezüglich der Verwertbarkeit eines Gutachtens, das im Gerichtsverfahren eingeholt wird, spätestens in der nächsten mündlichen Verhandlung erhoben werden. Ansonsten gehe das Rügerecht verloren.

Soweit der erkennende Senat diese Grundsätze aus der ZPO i.V.m. § 202 S. 1 SGG auch auf das Verwaltungsverfahren übertragen und in der Vergangenheit entschieden hatte, dass bei im Verwaltungsverfahren erfolgten Verfahrensverstößen spätestens mit Erlass des Widerspruchsbescheids ein Rügeverlust eintrete, wird diese Rechtsprechung ausdrücklich aufgegeben. Die damalige Begründung des Senats, der Bürger sei hier der einzige, der eine Verletzung seines Auswahlrechts rechtzeitig abwenden oder eine Heilung dieses Verfahrensfehlers rechtzeitig anstoßen könne, erscheine wenig überzeugend, könne doch auch die Verwaltung durch einen einfachen Blick auf das ihr übersandte Gutachten jeweils feststellen, ob der im Rahmen des § 200 Abs. 2 Halbs. 1 SGB VII vom Bürger ausgewählte Gutachter überhaupt und in welchem Umfang tätig geworden ist.

Des Weiteren folge aus § 31 SGB I (Vorbehalt des Gesetzes) zwingend, dass Rechte und Pflichten im Bereich des SGB einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage bedürften. Der mit der Konstruktion einer Rügeobliegenheit im Verwaltungsverfahren verbundene Rechtsverlust lasse sich mangels ausdrücklicher Anwendbarkeit des § 295 ZPO im SGB X nicht rechtfertigen. Eine dem § 202 S. 1 SGG entsprechende Norm fehle gerade im SGB X. Daher sei die von der Klägerin hier im erstinstanzlichen Klageverfahren erhobene Rüge als rechtzeitig anzusehen.

Bedingtes Beweisverwertungsverbot

Aus einem Verstoß gegen § 200 Abs. 2 Halbs. 1 SGB VII alleine folge allerdings noch kein Beweisverwertungsverbot. Nicht jeder Verstoß gegen materielles oder formelles Recht bei der Beweiserhebung führe automatisch zu einem Verwertungsverbot. In bestimmten Fällen müssten rechtswidrig ermittelte, gespeicherte oder weitergegebene Daten genutzt werden, um gleich- oder höherrangige Rechtsgüter zu schützen. Bei der Frage, ob ein Beweisgewinnungsverbot zu einem Beweisverwertungsverbot führt, sind die widerstreitenden Interessen unter- und gegeneinander abzuwägen. Die Intensität des Verfahrensverstoßes falle dabei ebenso ins Gewicht wie die Überlegung, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden darf.

Die Verwertung ist grundsätzlich verboten, wenn die verletzte Norm den Betroffenen vor Grundrechtseingriffen schützt. Der Senat habe insoweit bereits entschieden, dass das Auswahlrecht des § 200 Abs. 2 Halbs. 1 SGB VII rein verwaltungsverfahrensrechtlicher Natur sei. Es diene zwar mittelbar auch der besseren Transparenz der Entscheidungsfindung des Trägers und des Datenflusses für den Versicherten. Das Auswahlrecht bezwecke ausschließlich, im jeweiligen Verwaltungsverfahren einen inhaltlich richtigen und für den Versicherten akzeptablen verfahrensabschließenden Verwaltungsakt vorzubereiten. Es vermittele verglichen zum Widerspruchsrecht nach § 200 Abs. 2 Halbs. 2
SGB VII dem Versicherten eine erheblich schwächere Rechtsposition, weil er sich zwar zu den vorgeschlagenen Gutachtern äußern und gegebenenfalls einen Gegenvorschlag machen kann, der Unfallversicherungsträger dem aber nicht folgen müsse. Deshalb könne der gegebenenfalls vorliegende Verfahrensfehler der faktischen Nichtbegutachtung durch den gemäß § 200 Abs. 2 Halbs. 1 SGB VII benannten Gutachter als solcher alleine auch nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führen.

Verletzung der informellen Selbst­bestimmung?

Das LSG werde aber weiter zu ermitteln und zu prüfen haben, ob ein Beweisverwertungsverbot des Verwaltungsgutachtens daraus abzuleiten ist, dass in der Mitarbeit des Dr. B. bei der Gutachtenerstellung ein Verstoß gegen datenschützende Normen und damit eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung oder des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) zu sehen sei. Zwar habe die Klägerin keine Verletzung der Belehrungspflicht über das Widerspruchsrecht gemäß § 200 Abs. 2 Halbs. 2 SGB VII i.V.m. § 76 Abs. 2 SGB X gerügt, das der Konkretisierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung diene. Jedoch könne sowohl in der Weitergabe von personenbezogenen Daten durch die Beklagte über Prof. Dr. E. an Dr. B. als auch durch die Weitergabe von durch Dr. B. erhobene Daten an Prof. Dr. E. ein Verstoß gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht schützende Normen liegen.

Hinsichtlich der Weitergabe von personenbezogenen Daten der Klägerin an Dr. B. werde das LSG zunächst zu ermitteln haben, ob und gegebenenfalls welche personenbezogenen Daten Dr. B. durch den ernannten Gutachter Prof. Dr. E. zur Verfügung gestellt wurden. Sodann wird das LSG die konkreten rechtlichen Beziehungen zwischen der Beklagten und Prof. Dr. E. sowie Dr. B. etwa im Hinblick auf bestehende Weisungsrechte zu prüfen haben. Hierbei wird zu beachten sein, dass es sich bei personenbezogenen Daten, die zuvor von der Beklagten verarbeitet wurden, um Sozialdaten gemäß § 67 SGB X i.V.m. §35 SGB I handelt. Die Übertragung auf Prof. Dr. E., bedeute eine Übermittlung, die eines gesonderten Legitimationstatbestandes bedurfte, sofern dieser nicht der Beklagten als verantwortlicher Stelle zum Beispiel als deren Auftragsdatenverarbeiter zuzurechnen sei.

Delegation als Auftragsdaten­verarbeitung?

Als nächstes wäre zu klären, in welcher datenschutzrechtlichen Stellung zu Prof. Dr. E. der – nicht seitens der Beklagten als Gutachter ernannte – Dr. B. stand. Personenbezogene Daten verlieren – auch wenn sie an eine nicht in § 35 SGB I genannte Stelle übermittelt werden – gemäß § 78 SGB X ihre Eigenschaft als Sozialdaten nicht oder genießen zumindest den gleichen Schutz. Sofern Prof. Dr. E. nicht der Beklagten als verantwortlicher Stelle zuzurechnen ist und der die Untersuchung durchführende Dr. B. als Auftragsdatenverarbeiter des dann im Hinblick auf die Gutachtenerstellung als verantwortliche Stelle handelnden Prof. Dr. E. anzusehen wäre – beispielsweise weil die Erstellung von Gutachten zu den arbeitsvertraglichen Pflichten gegenüber dem Unfallkrankenhaus zähle und entsprechende Weisungsbefugnisse des Prof. Dr. E. als Chefarzt gegenüber ihm bestünden oder sich diese kraft betrieblicher Übung auch bei an den Chefarzt gerichteten Gutachtensaufträgen ergäben –, wäre für die Weitergabe der personenbezogenen Daten keine Übermittlungsbefugnis erforderlich. Es würde sich dann nur um eine Datennutzung und keine Übermittlung i.S. des § 67 Abs. 6 Nr. 3 SGB X i.d.F. vom 06.08.1998 gehandelt haben. Andernfalls wäre die Weiterübermittlung der Daten nur mit einer grundsätzlich der Schriftform bedürfenden Einwilligung der Klägerin gemäß § 67b Abs. 2 SGB X i.d.F. vom 09.12.2004 (BGBl I 3242) rechtlich zulässig gewesen.

An diesen Maßstäben werde das LSG ebenso die Zulässigkeit der Weitergabe der von Dr. B. bei der Klägerin erhobenen Befundtatsachen an Prof. Dr. E. messen müssen.

Verstoß gegen die ärztliche ­Schweigepflicht?

Sodann werde das LSG einen etwaigen Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht durch die beteiligten Ärzte als weitere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützende Schranke für die Offenbarung von Daten prüfen müssen. Selbst wenn man Dr. B. als berufsmäßig tätigen Gehilfen des Chefarztes Prof. Dr. E. ansieht und er dementsprechend befugter Mitwisser im Rahmen der Gutachtenerstellungen durch Prof. Dr. E. war, ist zu ermitteln, ob der Klägerin bewusst war, dass die Untersuchung nicht vom ernannten Gutachter durchgeführt wurde, wobei auch zu berücksichtigen sein wird, dass die Klägerin nach den Feststellungen des LSG durch Dr. B. bereits zuvor behandelt worden war.

Daher wird zu prüfen sein, ob und inwieweit in der freiwilligen Teilnahme an der Untersuchung eine konkludente Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht des Dr. B.
gegenüber dem eigentlich ernannten Gutachter Prof. Dr. E. zu sehen ist. Hierbei könnte auch zu beachten sein, dass nach Ziffer 4.10 der Leitlinie „Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung“ (AWMF-Registernummer: 094/001) – die der Senat insoweit als Formulierung eines allgemeinen wissenschaftlichen Standards betrachtet – der Gutachter „das ausdrückliche Einverständnis des zu begutachtenden Patienten dazu einholen“ muss, „dass sich die Schweigepflichtentbindung im Rahmen des Gutachtens auch auf die im Behandlungsverhältnis erhaltenen Informationen beziehungsweise erhobenen Befunde erstreckt“, wenn – wie hier – „ausnahmsweise ein behandelnder Arzt mit der Begutachtung beauftragt“ wird.

Rollenkonflikte der Sachverständigen?

Schließlich wird das LSG, sofern es einen Verstoß gegen die soeben genannten Normen feststellen sollte, prüfen müssen, ob diese der Beklagten unmittelbar zurechenbar sind oder ob auch Verletzungen durch beauftragte Sachverständige, die ihrerseits nichthoheitlich und auch nicht als Beliehene handeln, zu Beweisverwertungsverboten führen.

Hierbei wird zu berücksichtigen sein, dass sowohl Prof. Dr. E. als auch Dr. B. Beschäftigte des Unfallkrankenhauses B. sind, dessen Mehrheitsgesellschafter der „BG Kliniken-Klinikverbund der gesetzlichen Unfallversicherung gGmbH“ ist, an der die Beklagte ihrerseits als Gesellschafterin beteiligt ist. Als Beschäftigte des Unfallkrankenhauses B. stehen sie in einer gewissen Nähe zur Beklagten als Gesellschafterin dieses Krankenhauses. Folglich könnte auch zu erörtern sein, welche Auswirkungen dieser Rollenkonflikt (abhängig Beschäftigter, behandelnder Arzt, neutraler Gutachter in einer Person) auf den Beweiswert des Verwaltungsgutachtens und die dort dokumentierten Befunde habe.

Das LSG werde dabei als weiteren Rollenkonflikt zu thematisieren haben, warum Dr. B. die Begutachtung überhaupt durchgeführt und nicht abgelehnt hat, obwohl er die Klägerin zuvor bereits behandelt hatte. Auch insofern könnte den in der Leitlinie „Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung“ (AWMF-Registernummer: 094/001) enthaltenen Regeln der ärztlichen Kunst Bedeutung zukommen, ohne dass deren Normqualität im Einzelnen zu prüfen wäre. Nach Ziffer 4.1 der genannten Leitlinie soll der Gutachter „stets prüfen, ob ihm der Wechsel aus dem vom Fürsorgeprinzip getragenen Behandlungsauftrag in die strikte gutachterliche Neutralität möglich ist, und im Zweifel den Auftrag mit Hinweis auf diese Konfliktsituation ablehnen.“

Schlussbemerkung

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Versicherte zukünftig bei Begutachtungen im Auftrag von Berufsgenossenschaften ein nicht beschränkbares Recht auf persönliche Vorstellung beim benannten Gutachter haben, um ihre Beschwerden mitzuteilen und dem Gutachter einen persönlichen Eindruck zu vermitteln. Ob und inwieweit eine Einschränkung dieses Rechtes zur Unverwertbarkeit des Gutachtens führt, lässt sich nach diesen Entscheidungen noch nicht überblicken. Man darf auf die anstehende Entscheidung des LSG gespannt sein. Eines ist indes schon heute klar: Verstößt ein angestellter Gutachter zukünftig gegen das Delegationsverbot werden der berufsgenossenschaftlichen Verwaltung und gegebenenfalls dem Gericht umfangreiche Ermittlungen auferlegt sein, die eine exakte Analyse der Aufbau- und Ablauforganisation seines Beschäftigungsunternehmens einschließlich einer konkreten Datenflussanalyse im Einzelfall beinhalten müssen.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Kontakt:

Reinhard Holtstraeter
Rechtsanwalt, Lorichsstraße 17, 22307 Hamburg

Foto: privat

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