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Urteil des Bundessozialgerichts vom 06.05.2021 – B 2 U 15/19 R

Arbeitsunfall ohne körperliche Einwirkung

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat. Die 1987 geborene Klägerin kollabierte am 12.04.2010 an ihrem Arbeitsplatz auf einem Schreibtischstuhl sitzend. Der Notarzt reanimierte sie und wies sie in ein Krankenhaus ein, wo ihr ein Defibrillator implantiert wurde. Die Beklagte verneinte einen Arbeitsunfall, weil kein plötzliches äußeres Ereignis vorliege und es damit schon begrifflich an einem „Unfall“ fehle. Die Klägerin habe bei der üblichen Arbeit einen „Herzinfarkt“ erlitten und auf telefonische Nachfrage selbst angegeben, dass an diesem Tag keine Besonderheiten aufgetreten seien (Bescheid vom 22.09.2011).

Im April 2012 beantragte die Klägerin, diesen Bescheid zu überprüfen, weil sie keinen Herzinfarkt, sondern einen Herzstillstand erlitten habe. Es habe sich keinesfalls um eine normale berufliche Situation gehandelt, sondern vielmehr um einen sehr stressigen Tag. Nach Geschäftsschluss sei eine Kassendifferenz festgestellt worden. Die Filialleiterin sei krankheitsbedingt abwesend gewesen. Sie habe mit dem Kollegen, der die „offizielle Stellvertretung“ übernommen habe, gestritten, weil dieser dem Gebietsleiter eine Kassendifferenz melden wollte, die ein anderer Kollege verursacht habe. Sie habe diesen Kollegen in Schutz nehmen wollen und eine Meldung für entbehrlich gehalten. Nach der Auseinandersetzung sei sie an ihren Schreibtisch zurückgekehrt und dann kollabiert. Die Beklagte lehnte es mit Bescheid und Widerspruchsbescheid gleichwohl ab, den Verwaltungsakt vom 22.09.2011 zurückzunehmen.

Auch Klage und Berufung der Klägerin blieben erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) meinte, der „Herzstillstand“ der Klägerin sei kein Arbeitsunfall, weil kein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis vorliege. Es habe keine Extremsituation vorgelegen. Verbale Differenzen und das Verhalten von Menschen, über das man sich in hohem Grade aufregen könne, seien überall anzutreffen. Wie stark die Reaktion auf Herausforderungen sei, hänge von dem jeweiligen Temperament der betroffenen Person ab. Das Gespräch mit dem Vertreter der Filialleiterin, in dessen Verlauf unterschiedliche Standpunkte sachlich und in einem angemessenen Ton ausgetauscht worden seien, habe zwar „unschön, unharmonisch und frostig“ geendet. Dieser habe solche Gespräche jedoch als Alltagsgeschäft bezeichnet. Eine persönliche Haftung der Klägerin für den Kassenfehlbestand habe nicht zur Debatte gestanden. Zudem werde der „plötzliche Herztod“ gerade als ein kardialer Tod aus vollem Wohlbefinden definiert. Besondere Dispositionen, die den akuten Herztod unmittelbar verursachten, seien nicht bekannt. Bei einer Untersuchung von 955 akuten Todesfällen seien besondere psychische Belastungen nur in 1,7% der Fälle vorausgegangen. Unerheblich sei auch, dass die Beklagte im Ursprungsbescheid von einem Herzinfarkt statt von einem plötzlichen Herztod ausgegangen sei.

Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des §44 Abs. 1 SGB X und des §8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII. Ihr Gespräch mit dem Kollegen, der die Filialleiterin vertreten habe, habe optisch und akustisch auf sie eingewirkt und einen Herzstillstand als Gesundheitsschaden verursacht. Für ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis bedürfe es keines besonderen oder ungewöhnlichen Geschehens. Sie beantragte, das Ereignis vom 12. April 2010 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen. Wesentliche Faktoren für den Kollaps der Klägerin seien die „Torsade-de-Pointes-Tachykardien“ mit anfallsartigem Herzrasen als innerer Ursache sowie die Einnahme eines Allergiemedikaments gewesen. Es sei auch zweifelhaft, ob die psychische Einwirkung überhaupt geeignet gewesen sei, einen kardiologischen Gesundheitsschaden hervorzurufen.

Sachlicher Zusammenhang ungeklärt

Das Bundessozialgericht (BSG) erachtete die Revision der Klägerin im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG und Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht für begründet. Auf der Grundlage des angefochtenen Urteils lasse sich nicht beurteilen, ob der sachliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit als beschäftigte Bankkauffrau und dem Gespräch mit dem Stellvertreter der Filialleiterin gegeben sei und welche äußeren Einwirkungen gegebenenfalls welche Gesundheitsschäden (Herzstillstand, -infarkt oder -tod) kausal und rechtlich wesentlich hervorgerufen hätten.

Unfälle sind nach §8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setze daher voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang). Die Verrichtung muss zu einem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt haben (Unfallkausalität) und das Unfallereignis muss einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht (haftungsbegründende Kausalität) haben. Die Feststellungen des LSG reichten nicht aus, um abschließend zu beurteilen, ob die Klägerin infolge einer Verrichtung, die mit ihrer grundsätzlich versicherten Tätigkeit als beschäftigte Bankangestellte in einem sachlichen Zusammenhang stand, einen Unfall erlitten habe.

Es sei bereits unklar, ob das Gespräch mit dem Vertreter der Filialleiterin am 12.04.2010 überhaupt im Rahmen der grundsätzlich versicherten Tätigkeit der Klägerin als beschäftigte Bankkauffrau stattfand. Eine nach §2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versicherte Tätigkeit erfordere das Vorliegen einer Verrichtung, deren Ergebnis nicht der Beschäftigten selbst, sondern dem Unternehmer unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereiche. Eine Beschäftigung (§7 Abs. 1 SGB IV) werde ausgeübt, wenn die Verrichtung zumindest dazu ansetze und darauf gerichtet ist, entweder eine eigene objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis zu erfüllen oder die Betroffene eigene unternehmensbezogene Rechte aus der Beschäftigung ausübe. Auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts lasse sich schon nicht beurteilen, ob die Handlungstendenz der Klägerin während des Gesprächs mit dem Stellvertreter der Filialleiterin überhaupt darauf gerichtet war, eine versicherte Verrichtung im soeben aufgezeigten Sinne auszuüben. Insofern habe das LSG Anlass, Inhalt sowie die konkreten (Begleit-)Umstände des Gesprächs zu ermitteln und festzustellen.

Wahrnehmung unternehmens­bezogener Rechte?

Wie sich aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ergäbe, habe die Klägerin ihre Klage unter anderem damit begründet, sie habe den Zeugen, der als offizieller Vertreter der Filialleiterin fungiert habe, in dem (Streit-)Gespräch am 12.04.2010 auf einen zweifachen Verstoß gegen bankinterne „Bearbeitungsvorschriften“ hingewiesen, wonach eine Kassendifferenz der „nächsthöheren Stelle“ erst zu melden sei, wenn ein filialinternes Kontrollverfahren eine „echte Differenz“ in bestimmter Höhe ergeben habe und nicht nur ein „Bearbeitungsfehler“ vorliege. Dieses „bestimmte Meldeverfahren“ sei „im Unterschied zu früheren Kassendifferenzen … am fraglichen Tag … nicht eingehalten worden“. Sollte dies zutreffen, hätte die Klägerin – im fremdnützigen Interesse der Unternehmerin – ihre tatsächlich bestehende allgemeine Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis erfüllt, auf die Einhaltung regelkonformen Verhaltens (auch durch „Remonstration“) und die Wahrung der betrieblichen Ordnung hinzuwirken.

Sollte das Verfahren regelkonform gewesen und es „nur um Konsequenzen für den Kollegen gegangen“ sein, den die Klägerin altruistisch habe in Schutz nehmen wollen, hätte sie – vorbehaltlich spezieller Regelungen – keine eigene objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus ihrem Arbeitsverhältnis mit der Unternehmerin erfüllt. Denn für Beschäftigte bestehe grundsätzlich keine Rechtspflicht, sich bei Vorgesetzten oder der Unternehmerin für Arbeitskollegen einzusetzen. Sollte die Klägerin, wie sie im Klageverfahren behauptet hat, „auch persönlich und arbeitsrechtlich von der Kassendifferenz betroffen gewesen“ sein, „da eine Teamhaftung bestanden und eine Abmahnung gedroht habe“, hätte sie eigene unternehmensbezogene Rechte aus der Beschäftigung geltend gemacht, als sie den Vertreter der Filialleiterin zur Rede stellte.

Mündige Beschäftigte

Dasselbe würde gelten, wenn sie in dem Gespräch für andere, eigene Belange im weitesten Sinne eingetreten wäre, ihr der Kassenfehlbestand zum Bespiel indirekt-mittelbar als Mitglied eines Teams hätte angelastet werden können, auch wenn sie nach Ansicht der Beklagten „tatsächlich nicht die unmittelbare Verantwortung für den Kassenfehler … getragen“ habe. Sollte dagegen – wie der Vertreter der Filialleiterin als Zeuge ausgesagt hat – „eine persönliche Haftung seitens der Klägerin … nicht zur Debatte gestanden“ haben, sondern nur die Mankohaftung des Kollegen mit drohenden persönlichen oder arbeitsrechtlichen Konsequenzen allein für ihn, käme Versicherungsschutz unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung eigener unternehmensbezogener Rechte bei der Regelung innerbetrieblicher Belange beziehungsweise sozialer Angelegenheiten in Betracht. Denn im Arbeitsverhältnis dürfte in der Regel „jedermann“ (vgl. nur Art. 9 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz, GG) als mündiger Beschäftigter und mündige Beschäftigte berechtigt sein, auf vermeintliche Missstände hinzuweisen, mutmaßliche Fehlentwicklungen unternehmensintern zur Sprache zu bringen und sich ad hoc mit anderen zu solidarisieren, insbesondere, wenn es um Arbeitsbedingungen und den fairen Umgang mit Arbeitskolleginnen und -kollegen geht. Ein damit korrespondierendes Gebot an den Arbeitgeber, „die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihre Vertreter … auf den geeigneten Ebenen“ anzuhören, sei beispielsweise auch in Art. 27 Charta der Grundrechte der EU zumindest angelegt. Der Versicherungsschutz der Klägerin hänge somit nicht davon ab, ob sie zum Beispiel Mitglied des Betriebsrates oder Vertrauensperson schwerbehinderter Menschen sei.

Gegebenenfalls würde das LSG zu klären haben, ob die Klägerin nach den besonderen Umständen des Einzelfalls jedenfalls subjektiv davon ausgehen konnte, sie erfülle mit dem Eintreten für ihren Kollegen auch eine Verpflichtung aus dem Beschäftigungsverhältnis oder nehme unternehmensbezogene Rechte aus dem Rechtsverhältnis wahr.

Sinneswahrnehmung als äußeres Ereignis

Soweit das LSG „bereits das Vorliegen eines von außen auf den Körper der Klägerin einwirkenden Ereignisses“ verneint habe, weil keine „Extremsituation“ vorgelegen habe, sondern in dem Gespräch mit dem Vertreter der Filialleiterin „unterschiedliche Standpunkte … sachlich und in einem angemessenen Ton“ ausgetauscht worden seien, habe es einen „Unfall“ mit rechtlich unzutreffenden Erwägungen abgelehnt. Denn für den Unfallbegriff sei nicht konstitutiv, dass ein besonderes, ungewöhnliches oder gar „extremes“ Geschehen vorliege. Auch alltägliche Vorgänge könnten ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis sein.

Für die erforderliche Einwirkung von außen genüge es daher, dass die Klägerin die gesprochenen Worte mit den Hörzellen ihrer Ohren und die Gestik sowie Mimik ihres Gesprächspartners mit den Sehzellen ihrer Augen wahrnahm, so dass sich ihr physiologischer Körperzustand änderte. Insofern können bereits bloße Wahrnehmungen (Sehen, Hören, Schmecken, Ertasten, Riechen) äußere Ereignisse darstellen. Ein solches Ereignis läge hier in dem intensiven Gespräch zwischen der Klägerin und dem Stellvertreter der Filialleiterin, in dessen Verlauf unterschiedliche Standpunkte ausgetauscht wurden und das unschön, unharmonisch und frostig endete. Auch wenn das LSG festgestellt habe, dass dieses Gespräch sachlich und in einem angemessenen Ton geführt wurde, wirkte die Wahrnehmung der Äußerungen des stellvertretenden Filialleiters auf den Körper der Klägerin ein.

Notwendige Feststellungen

Das LSG habe insofern festgestellt, dass sie bei dem Gespräch psychisch erregt reagierte. Allerdings fehlten weitere Feststellungen zu dem genauen Inhalt und den sonstigen Umständen des Gesprächs. Sie würden nicht dadurch ersetzt, dass das LSG auf die Unfallschilderung der Klägerin und den Inhalt der Verwaltungsakte Bezug genommen, die Ausführungen des Sozialgerichts (SG) zur Vernehmung des Vertreters der Filialleiterin als Zeugen wiedergegeben und auf dessen protokollierte Aussagen verwiesen habe. Denn Feststellungen, die das BSG nach §163 Halbsatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) binden, erforderten eine eigene Entscheidung des Tatrichters, dass er die entscheidungserheblichen Tatsachen als wahr ansieht. Nach §128 Abs. 1 Satz 1 SGG entscheide das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, von welchem Sachverhalt bei der rechtlichen Beurteilung auszugehen ist; das Ergebnis dieses Entscheidungsprozesses und die für die Überzeugungsbildung maßgebenden Gründe seien im Urteil anzugeben (Satz 2).

Es genüge deshalb nicht, wenn die Darstellung der Beteiligten oder die Aussagen von Zeugen inhaltlich oder sogar wörtlich referiert werden oder auf Aktenbestandteile beziehungsweise Sitzungsniederschriften verwiesen werde. Entscheidend sei vielmehr, dass das Gericht die Aussagen bewerte und mitteile, welche Angaben es für wahr hält und deshalb seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde lege. Die §128 Abs. 1 SGG inhaltlich entsprechende Regelung in §286 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) bringe dies deutlicher zum Ausdruck, wenn es dort heiße, das Gericht habe nach freier Überzeugung „zu entscheiden“, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr „zu erachten“ sei. Das Gericht müsse sich ein Beweisergebnis „zu eigen machen“, das heißt, es müsse „eigene Feststellungen treffen“. Demgegenüber sei es dem Revisionsgericht grundsätzlich verwehrt, Beweisergebnisse und sonstige Umstände selbst zu würdigen und auf dieser Grundlage Tatumstände festzustellen.

Weiterhin fehlten Feststellungen dazu, welche Gesundheitsschäden bei der Klägerin entstanden sind. Das LSG habe lediglich festgestellt, dass sie auf ihrem Stuhl sitzend kollabiert sei. Welche Gesundheitsstörung dem zugrunde lag und welcher Gesundheitsschaden eingetreten ist, bleibt unklar. Das LSG benennt einerseits eine „Herzrhythmusstörung“ und einen „Herzstillstand“, diskutiert aber andererseits auch einen „plötzlichen Herztod“. Ohne Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen könne ihre Ursache jedoch nicht beurteilt werden. Das LSG wird daher – gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe – präzise ermitteln und prüfen müssen, ob und welche Gesundheitsstörungen bei der Klägerin im Zusammenhang mit dem Gespräch aufgetreten sind. Ebenso wird das LSG noch festzustellen haben, ob das Gespräch als einwirkendes Ereignis diesen noch konkret festzustellenden Gesundheitsschaden im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne objektiv (1. Stufe) und rechtlich wesentlich (2. Stufe) verursacht habe.

Wahrnehmungen schadens­ursächlich?

Ob die Wahrnehmungen der Klägerin während des Gesprächs mit dem Vorgesetzten auf der 1. Stufe einen Gesundheitsschaden hinreichend wahrscheinlich hervorgerufen haben, wird das LSG mithilfe medizinischer Sachverständiger ermitteln müssen, die dabei den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zugrunde zu legen haben. Ob die versicherte Einwirkung eine Ursache für den Gesundheitsschaden war, sei eine rein tatsächliche Frage. Stehe fest, dass das Streitgespräch mit dem Vertreter der Filialleiterin eine (äußere) Ursache des Kollaps im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne war, werde das LSG weiter zu erforschen haben, ob daneben – wie die Beklagte behauptet – kardiale Dispositionen, langjährige Vorerkrankungen (anfallartiges Herzrasen durch Tachykardien, generelle Kollapsneigung, etwaige Verengung der Herzkranzgefäße) beziehungsweise die Nebenwirkungen eines tags zuvor angeblich erstmals eingenommenen Medikaments zur Behandlung einer Allergieerkrankung als weitere (Mit-)Ursachen wirksam geworden seien. Auch insoweit würde sich das LSG der Hilfe medizinischen Sachverstandes bedienen müssen. Keinesfalls verdränge die bloße Möglichkeit der Mitverursachung durch eine nicht versicherte Ursache die festgestellte Ursächlichkeit der versicherten Tätigkeit, weil hypothetische Ereignisse als Ursachen ausscheiden. Insoweit ist zu beachten, dass für die Feststellung eines Arbeitsunfalls der volle Beweis für das Vorliegen sowohl einer versicherten als auch einer nicht versicherten Ursache geführt sein muss und lediglich für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs eine hinreichende Wahrscheinlichkeit genüge.

Schutzbereich der Unfallversicherung

Stehe fest, dass neben der versicherten auch eine konkurrierende, nicht versicherte Ursache das Unfallereignis objektiv kausal (mit-)bewirkt habe, sei auf der 2. Stufe juristisch zu entscheiden, welche der Ursachen rechtserheblich nach der Theorie der wesentlichen Bedingung gewesen seien. Selbst wenn eine versicherte Verrichtung als Ursache für einen Gesundheitsschaden feststehe, müsse auf der 2. Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der 1. Stufe festgestellten weiteren mitwirkenden nicht versicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr sein. Bei dieser reinen Rechtsfrage nach der „Wesentlichkeit“ der versicherten Verrichtung für den Erfolg der Einwirkung müsse entschieden werden, ob sich durch die Verrichtung ein Risiko verwirklicht habe, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll. Dabei werde das LSG zu beachten haben, dass der Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich auch Gesundheitsschäden erfasst, die durch psychische Einwirkungen verursacht werden.

Andere nicht versicherte Mitursachen könnten die rechtliche Zurechnung ausschließen. Das sei der Fall, wenn die nicht versicherten (Mit-)Ursachen das Unfallgeschehen derart geprägt haben, dass sie die versicherte Ursache verdrängen, weil sie überragende Bedeutung haben, so dass der Schaden „im Wesentlichen“ rechtlich nicht mehr dem Schutzbereich des jeweiligen Versicherungstatbestandes unterfalle. Die versicherten und die auf der ersten Zurechnungsstufe festgestellten nicht versicherten Ursachen und ihre Mitwirkungsanteile seien in einer rechtlichen Gesamtbeurteilung anhand des zuvor festgestellten Schutzzwecks des Versicherungstatbestands zu bewerten. Diese rein rechtliche Bewertung obliege zunächst dem LSG als Berufungsgericht und könne derzeit wegen der fehlenden entsprechenden Feststellungen nicht durch das Revisionsgericht erfolgen.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

doi:10.17147/asu-1-211453

Kernaussagen

  • Der Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung erfasst grundsätzlich auch Gesundheitsschäden, die durch psychische Einwirkungen verursacht werden.
  • Bloße Wahrnehmungen (Sehen, Hören, Schmecken, Ertasten, Riechen), die den physiologischen Körperzustand ändern, stellen äußere Ereignisse dar.
  • Ein Gespräch, auf das die versicherte Person psychisch reagiert, ist ein äußeres ­Ereignis.
  • Für den Unfallbegriff bedarf es keines ungewöhnlichen oder extremen Geschehens.
  • Auch alltägliche Routinevorgänge können äußere Ereignisse bilden.
  • Es ist unternehmensbezogene Tätigkeit, wenn Versicherte sich für den fairen Umgang mit Kollegen einsetzen.
  • Kontakt

    Reinhard Holtstraeter
    Rechtsanwalt; Lorichsstraße 17; 22307 Hamburg

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