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Ein Blick hinter die Szene des praktischen Arbeitsschutzes aus Sicht der Psychosozialen Beratungsstelle für Beschäftigte

„Through the looking glass“

Die Startsequenz

Die RWTH Aachen University hat 2018 beschlossen, das am Lehr- und Forschungsinstitut für Betriebliche Gesundheitspsychologie der Uniklinik RWTH Aachen entwickelte Verfahren „PsyGesund“ zur Erhebung psychischer Belastungen einzusetzen. Zur Vorbereitung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung an der RWTH wurde zunächst auf Vorschlag des betrieblichen Gesundheitsmanagements der Hochschule und später durch Rektoratsbeschluss einen interdisziplinären Arbeitskreis zur Erhebung psychischer Belastung mit der Konzeption und Durchführung des gesamten Prozesses der Gefährdungsbeurteilung beauftragt. Der Arbeitskreis setzt sich zusammen aus:

  • Prorektorat für Personal und wissenschaftlichen Nachwuchs,
  • Dezernat für Personalentwicklung und Talentmanagement,
  • Betriebliches Gesundheitsmanagement,
  • Lehr- und Forschungsgebiet für betriebliche Gesundheitspsychologie (UKA),
  • Psychosoziale Beratungsstelle für Beschäftigte,
  • Arbeitssicherheit,
  • hochschulärztliche Einrichtung,
  • Betriebliches Eingliederungsmanagement und
  • Personalräte der wissenschaftlich und nicht-wissenschaftlich Beschäftigten.
  • Die Koordination des Steuerkreises obliegt dem betrieblichen Gesundheitsmanagement im Dezernat für Personalentwicklung und Talentmanagement.

    Was sich zu Beginn recht einfach liest, muss sich in der Realität zunächst einmal finden. Sicher: Alle haben ein Verständnis dafür, dass es besser ist diese Aufgabe gemeinsam anzugehen. Je mehr Beteiligte dahinterstehen und daran arbeiten, umso höher ist der erwartete Outcome. So viel Fachlichkeit muss sich doch bündeln lassen, damit ein gemeinsames Konzept entstehen kann. Die Teilnehmenden kannten sich bereits aus anderen Arbeitskontexten, das heißt, sowohl die Professionen als auch die jeweiligen Fachaufträge waren durchaus bekannt. Auch die Player zur Erstellung dieses Konzepts hatten bereits in der Vergangenheit konstruktiv und produktiv zusammengearbeitet.

    Diese Erfahrung der Zusammenarbeit (und dies darf hier nicht unterschätzt werden) half, sich zügig auf Verantwortlichkeiten, Schnittstellen und Herangehensweisen zu einigen. Es lag bereits ein Maß der Vertrautheit der unterschiedlichen internen Stakeholder vor, das in eine zügige Umsetzungsstrategie mündete. Natürlich gab es Detailabsprachen, die noch zu klären waren sowie Überlappungen, Widersprüchlichkeiten – kurzum: die Teilenehmenden mussten sich im Kleinen noch einmal finden und absprechen. Auch in der gesamten Arbeitsgruppe galt es, ein gemeinsames Verständnis von psychischer Belastung und Gesundheit herzustellen. Psychische Belastung und Gesundheit ist mit Schlagworten wie „Stress“ und „Burnout“ medial hochpräsent und wird oft mit psychischer Erkrankung gleichgesetzt. Das Thema wird gesellschaftlich emotional diskutiert und der Umgang mit psychischen Erkrankungen ist häufig immer noch mit einem hohen Maß an Tabuisierung verbunden. Dabei bezeichnet psychische Belastung im Arbeitsschutz lediglich die Ausprägung bestimmter äußerer Arbeitsmerkmale, die auf das Erleben und Verhalten der Beschäftigten einwirken – zunächst einmal losgelöst von der individuellen Reaktion auf diese Belastungen.

    Die ersten Schritte hin zur Befragung

    Die Erhebung psychischer Belastungen sollte nicht simultan über alle Hochschuleinrichtungen, sondern stufenweise über einen Zeitraum von vier Jahren durchgeführt werden. Daraus ergaben sich wesentliche Vorteile (Pauli u. Lang 2022):

  • Für jede Organisationseinheit standen ausreichend personelle und zeitliche Ressourcen zur Verfügung, um einen zeitnahen Prozessfortschritt von der Belastungserhebung zur konkreten Maßnahmenableitung voranzutreiben.
  • Erfahrungen aus vorangegangenen Erhebungen konnten an darauffolgenden Organisationseinheiten im Sinne von „Best-Practice“-Beispielen eingebracht werden.
  • Organisationseinheiten und Beschäftigte konnten gezielt angesprochen und eng begleitet werden, wodurch eine hohe Beteiligungsquote erreicht werden sollte.
  • Die Nachfrage nach hauseigenen Weiterbildungs-, Service- und Beratungsleistungen RWTH-interner Dienstleistungen wurde verteilt, um Auslastungsspitzen zu vermeiden und den ungestörten Ablauf des Alltagsgeschäfts der
    betreffenden Anlaufstellen zu gewährleisten.
  • Eine Universität mit fast 10.000 Beschäftigten zu befragen, bedarf einer guten Abstimmung und Planung, um festzulegen, in welcher Reihenfolge und in welcher Kombination die einzelnen Einrichtungen, Institute, Fakultäten abgearbeitet werden. Im Vorfeld der Befragung wurde diskutiert, wie möglichst viele Beschäftigte für die Online-Befragung gewonnen werden können. Dazu wurden unterschiedliche Infoformate entwickelt, von Live-Veranstaltungen über Flyer bis hin zu Erklärvideos, die die Beschäftigten motivieren sollten, an der Online-Befragung teilzunehmen. An zentralen Stellen wurden Vorgesetzte sowie Professorinnen und Professoren über das Erhebungsinstrument informiert.

    Im Hintergrund lief der Prozess der koordinierten Auswertung und Weiterverarbeitung der Ergebnisse. Rückmeldeprozesse wurden festgelegt, Standardformulare entwickelt und ein Maßnahmenkatalog zur Handreichung im Vorfeld erstellt, der einem kontinuierlichen Ergänzungs- und Verbesserungsprozess unterlag. Hier bestand die Möglichkeit, sich bei Bedarf sowohl interne als auch externe Prozessunterstützung zu holen.

    Die Befragung und ihre Ergebnisse

    Die Ergebnisse der Befragung wurden durch das Lehr- und Forschungsinstitut für Betriebliche Gesundheitspsychologie an die jeweiligen Verantwortlichen kommuniziert. An dieser Rückmeldung nahmen auch Beschäftigte aus anderen Fachbereichen der Hochschule teil (psychosoziale Beratungsstelle, betriebliches Gesundheitsmanagement, jeweilige Personalvertretungen). Zur Ergebnisrückmeldung wurde jeder Führungskraft ein sogenannter Maßnahmenkatalog übergeben und erläutert. Dabei handelt es sich um eine umfangreiche Sammlung potenzieller Maßnahmen des Arbeitsschutzes, die spezifischen Merkmalsbereichen psychischer Belastung zugeordnet sind. Bei der Ableitung von Maßnahmen können Führungskräfte den Maßnahmenkatalog nutzen und entweder direkt Maßnahmenvorschläge übernehmen oder – in Anlehnung an Vorschläge aus dem Maßnahmenkatalog – eigene Maßnahmenkonzepte ableiten. Der bisherige Rücklauf der Maßnahmendokumentation zeigt jedoch, dass dieser Prozess voraussetzungsreich ist und bei zukünftigen Erhebungen gegebenenfalls weiterer Anleitung und Unterstützung bedarf (Pauli u. Lang 2022).

    Um die Anonymität der Beschäftigten zu gewährleisten, erfolgte die Auswertung der Online-Befragung erst, wenn mindestens 10 Personen einer Tätigkeitsgruppe geantwortet hatten. Sollte die Anzahl der Beschäftigten in einzelnen Tätigkeitsgruppen für einen Lehrstuhl kleiner als 10 Personen sein, wurden Tätigkeitsgruppen zusammengefasst (beispielsweise wissenschaftlich Beschäftigte im akademischen Mittelbau und Promovierende) und/oder zusätzlich auf der nächsthöheren Organisationsebene (Fachbereich, Fakultät) zusammengefasst ausgewertet. Bei kleineren Organisationseinheiten mit weniger als 15 Beschäftigten in einer Tätigkeitsgruppe wurde die Belastungserhebung mithilfe moderierter Workshops durchgeführt. Die moderierten Workshops mit Beschäftigten fanden unter Ausschluss der Führungskräfte statt.

    Weiterhin hatten die jeweiligen Einrichtungen die Möglichkeit, die Ergebnisse durch die Durchführung von qualitativen Workshops noch einmal konkreter zu bestimmen. Hier wurden mit den Beschäftigten in drei- bis vierstündigen Workshops die Ergebnisse erneut konkretisiert und im zweiten Gang Zielperspektiven sowie die dafür erforderlichen Maßnahmen erarbeitet und der jeweiligen Führungskraft als Vorschlag zur Verfügung gestellt.

    Schwerpunkt in diesen Workshops war unter anderem, die individuellen Beanspruchungen durch die Belastungen zum Thema machen zu können. Die Diskussionen zu den jeweiligen Themen waren oft emotional gefärbt. Diese subjektiven Empfindungen/Äußerungen, die oftmals Ausdruck individueller Beanspruchungsreaktionen darstellten, in objektive Zustände überzuleiten, war das erste Ziel dieser Workshops. Die sich aus den geschilderten Situationen beziehungsweise Belastungen ergebenden Emotionen erst einmal zuzulassen und dann in der weiteren Diskussion wieder auf objektivierbare Verhältnisse zurückzukommen, damit sich das Team auf den Prozess einer möglichen Veränderung der Verhältnisse einlassen kann, waren oft die ersten Schritte.

    Die Ergebnisse wurden anschließend den Vorgesetzten mitgeteilt, die dann eine Entscheidung darüber treffen konnten, wie sie damit umgehen wollen.

    Das Heute

    Die Befragungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung stehen zurzeit (April 2022) kurz vor dem Abschluss. Neben der Tatsache, dass die Beteiligten von dem Erhebungsinstrument überzeugt sind, hat sich im Laufe des Prozesses immer wieder die Form der Zusammenarbeit neu justiert, auch wenn immer wieder Klärungen nötig waren, was Verantwortlichkeiten, Veränderungen und Optimierung betraf. Alles in allem gab es keine unüberwindlichen Hürden, was sicherlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass die Beteiligten sehr offen und konstruktiv mit den Themen umgegangen sind und die Probleme und Lösungsvorschläge ernst genommen haben.

    Fazit

    Wer bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung lediglich die Erfüllung der gesetzlichen Pflicht sieht, wird damit scheitern. Wer allerdings die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung als Instrument sieht, mit dem ein Unternehmen sich in vielen Bereichen entwickeln und verbessern kann, gewinnt auf zwei Ebenen: erstens gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten, die sich nachweislich auf die Motivation, die Arbeitszufriedenheit und die Leistungsfähigkeit auswirken, was sich zweitens im Umkehrschluss positiv auf den Erfolg des Unternehmens auswirkt.

    Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Literatur

    Pauli R, Lang J: Erhebung psychischer Belastung im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung 2018–2022. Ergebnisbericht RWTH Aachen, 2022, unveröffentlicht.

    doi:10.17147/asu-1-198093

    Weitere Infos

    Online-Erhebungsinstrument zur Erfassung psychischer ­Belastung im Rahmen der ­Gefährdungsbeurteilung
    www.psygesund.info

    Kernaussagen

  • In einem multiprofessionellen Team gilt es hinsichtlich der Befragung zur psychischen ­Gefährdungsbeurteilung, erst ein gemeinsames Verständnis von psychischer Belastung und Gesundheit herzustellen.
  • Beschäftigte können selbst realistische Ziele und Maßnahmen formulieren, die zu einer ­Verbesserung von Arbeitsbedingungen führen können – die Entscheidung obliegt jedoch der Führungskraft.
  • Die Organisation, Planung und Durchführung einer Befragung zur psychischen Gefährdungsbeurteilung muss mit „Seele“ gefüllt sein. Ein „Abarbeiten“ der gesetzlichen Vorschrift ­verspricht keinen nachhaltigen Erfolg.
  • Kontakt

    Jörg Seigies M.A.
    RWTH Aachen University; Psychosoziale Beratungsstelle für Beschäftigte; Kackertstraße 9; 52072 Aachen

    Foto: Peter Winandy

    Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

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