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Prävention in der Transformation

(K)eine ungetrübte Fortschritts­geschichte

Nein, eine ungebrochene Fortschrittsgeschichte ist die Entwicklung der Arbeit und ihrer Bedingungen in den vergangenen sieben Jahrzehnten in Deutschland (oder anderen Gesellschaften des entwickelten Kapitalismus) nicht. Kein Zweifel, die heutigen Arbeitsbedingungen sind schon mit denen der Nachkriegszeit kaum mehr zu vergleichen. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz genießt heute einen deutlich höheren Stellenwert als in der westdeutschen Aufbauphase. Und auch in der betrieblichen Präventionspolitik hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges nach vorne bewegt. Mit dem vor mehr als zwanzig Jahren verabschiedeten „Arbeitsschutzgesetz“ wurde die Beurteilung und Beseitigung von Gesundheitsgefährdungen zum gesetzlichen Handlungsauftrag der Unternehmen. Zudem hat die Politik erst jüngst mit dem Präventionsgesetz, der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) und den bundeseinheitlichen trägerübergreifenden Rahmenempfehlungen neue Leitlinien für die Erbringer von Leistungen zur Gesundheitsförderung geschaffen. Schon heute erweitern viele Unternehmen ihre Angebote der Gesundheitsförderung und Krankenkassen, Rentenversicherung sowie die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung stärken ihre Präventionsanstrengungen. Und mit der Gemeinsamen Deutsche Arbeitsschutzstrategie von Bund, Ländern und gesetzlicher Unfallversicherung (GDA) oder der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) existieren institutionelle Netzwerke, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten in den Fokus nehmen.

Doch trotz der gestiegenen Aufmerksamkeit für den betrieblichen Gesundheitsschutz bleibt die Lage defizitär. Die Zahlen zu krankheitsbedingten Ausfalltagen und Frühverrentungen1 sind unverändert hoch; chronisch-degenerative Erkrankungen sind weiter auf dem Vormarsch und auch Probleme in Folge zu hoher physischer, vor allem Muskel-Skelett-Belastungen bleiben virulent. Gleichzeitig steigt die Relevanz psychischer Belastungen. Kurzum: Die Kluft zwischen dem Anspruch auf menschengerechte Arbeit und der betrieblichen Realität bleibt groß.

Das Leitbild menschengerechter ­Arbeitsgestaltung

Ansätze, diese Kluft zu schließen, hat es in der arbeitspolitischen Geschichte Deutschlands viele gegeben. Spätestens mit dem staatlich geförderten Aktions- und Forschungsprogramm „Humanisierung des Arbeitslebens“ der 1970er Jahre haben Anforderungen an menschengerechte Arbeitsgestaltung quasi regierungsoffiziell Einzug in die Fabrikhallen und Büros gehalten. Mit diesen zogen arbeitswissenschaftliche Bewertungskriterien für menschengerechte Arbeit ein: zu ihnen gehörten Schädigungslosigkeit, Ausführbarkeit, Zumutbarkeit, Persönlichkeitsförderlichkeit sowie Sozialverträglichkeit von Arbeit (Luczak u. Volpert 1997). Ziel menschengerechter Arbeitsgestaltung war und ist es, die Arbeit so weit wie möglich an die Bedürfnisse des Menschen anzupassen. Dieses ergonomische Leitbild blieb prägend für das deutsche und europäische Arbeitsschutzrecht und den daraus resultierenden Präventions- und Gestaltungsauftrag der Arbeitgeber.

Aufbauend auf den arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen und von arbeitssoziologischen Forschungen begleitet, wurden in den 1980er Jahren diverse humanisierungspolitische Initiativen gestartet, die in eine allgemeine Restrukturierung der Arbeit integriert waren. So wurden „neue Produktionskonzepte“, die Reintegration von Arbeitsaufgaben sowie neue Partizipationsmodelle erprobt (s. dazu etwa Kern u. Schumann 1984). Sie sollten neue Räume für arbeitsinhaltliche Ansprüche und Selbstverwirklichung in der Arbeit schaffen und gleichzeitig den Wettbewerbs- und Produktivitätszwängen kapitalistischer Märkte Stand halten. Grundlage vieler Konzepte war ein angestrebter Ausgleich von Rationalisierungs- und Humanisierungsinteressen, der eine Brücke zwischen Kapital und Arbeit schlagen und eine kooperative Praxis der Arbeitsgestaltung ermöglichen sollte.

Arbeitsgestaltung unter Rationali­sierungsdruck

Bereits nach wenigen Jahren erwies sich dieser interessenpolitische Deal als fragil. Immer wieder verschafften sich externe Markt- und Verwertungszwänge gegenüber internen Humanisierungs- und Beteiligungsansprüchen Geltung. Die offizielle Wertschätzung für partizipative Arbeitsgestaltung blieb hoch, doch die Realität der Arbeitsbelastungen offenbart bis heute eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit:

  • Nach wie vor verharren die physischen Belastungen auf hohem Niveau. Ungünstige Umgebungsbedingungen wie Hitze, Kälte, Zugluft oder Lärm gehören immer noch für viele Beschäftigte zu ihrem Arbeitsalltag – mit entsprechenden Folgen für ihre Gesundheit. So ist die Lärmschwerhörigkeit die am häufigsten anerkannte Berufskrankheit. Dem ständigen Heben schwerer Lasten sind immer noch mehr als 20 % der Beschäftigten ausgesetzt (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2018). Bei einfachen und qualifizierten manuellen Produktionsberufen liegt die Zahl der Betroffen noch deutlich höher. Zudem müssen viele Beschäftigte in ungünstiger Körperhaltung arbeiten.2
  • Neben diesen „klassischen“ Belastungen lässt sich eine deutliche Zunahme der psychischen Belastungen verzeichnen. Dieser Befund wird etwa durch den Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin gestützt: Danach gaben rund 58 % der Befragten an, dass ihre Tätigkeit häufig die gleichzeitige Betreuung verschiedener Aufgaben verlangt. Multitasking liegt folglich auf Platz eins der psychischen Belastungen gefolgt von starkem Termin- und Leistungsdruck, ständig wiederkehrenden Arbeitsvorgängen sowie Störungen und Unterbrechungen bei der Arbeit.
  • Ein besonderer Problemdruck geht von der Entwicklung neuer Arbeitszeitregime aus: Überlange Arbeitszeiten, zu wenige Pausen und zu kurze Ruhezeiten – gesundheitsgefährdende Arbeitszeitmuster bestimmen in zunehmendem Maße den Arbeitsalltag vieler Beschäftigter. Mehr als 60 % der Befragten gaben in einer großen Erwerbstätigenbefragung an, über 40 Stunden pro Woche zu arbeiten, davon knapp 20 % sogar mehr als 48 Stunden (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2013). Zudem droht mit den neuen digitalen Techniken eine Verschärfung der Problemlage. So geht die Möglichkeit der technischen Erreichbarkeit oft mit Verfügbarkeitserwartungen außerhalb der üblichen Arbeitszeit einher. Erste Befunde zu den „Auswirkungen arbeitsbezogener erweiterter Erreichbarkeit“ weisen deutlich auf eine Beeinträchtigung des Privatlebens und eine Verkürzung der Regenerationszeiten hin (Pangert u. Schüppach 2013). Und durch die Verbreitung von Schicht- und Nachtarbeit werden sozial wertvolle Zeiten zu Arbeitszeiten und unergonomische Zeitrhythmen bestimmen die Arbeits- und Lebenssituation.
  • Vielschichtige Problemlagen dieser Art wurzeln häufig in dem hohen Rationalisierungsdruck, der auf den Betrieben lastet und sich in den letzten Jahrzehnten durch die prägende Rolle der Finanzmärkte weiter verstärkt hat. Auf den Kapitalmärkten erzielbare Renditen werden zu Benchmarks der betrieblichen Rentabilität, und der Shareholder-Value wird zur zentralen Steuerungsgröße der Unternehmensführung. Ob Personalbemessung, Arbeitsinhalte und Arbeitsablauf, Technikeinsatz oder Raumgestaltung – die Kosten- und Renditeziele werden als Fixgrößen gesetzt, humane Arbeitsgestaltung und Gesundheitsprävention bestenfalls abgeleitet. Interessenausgleiche zwischen Kapital und Arbeit geraten in diesem Finanzmarktkapitalismus zunehmend ins Hintertreffen.

    Digitalisierung von oben oder ­Humanisierung von unten?

    Während bekannte Arbeitsbelastungen weiter bestehen, werden bereits neue Herausforderungen sichtbar. Die Transformation der Arbeit in Folge von Digitalisierung und Automatisierung wird keinesfalls in Selbstlauf zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen führen. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Bereits heute wird deutlich, dass die Digitalisierung vielfach als „Rationalisierung von oben“ in die Betriebe einzieht und Arbeitsbedingungen sowie Sozialstandards unter Druck setzt. Sollen humane Arbeitsgestaltung und Gesundheitsprävention nicht unter die Räder geraten, bedarf es machtvoller Anstrengungen der Arbeitsschutzakteure. Vor allem im Setting Betrieb müssen primärpräventive, gesundheitsförderliche Kontexte geschaffen werden, die einer prospektiven Gesundheitspolitik den Weg bereiten:

  • Aus der Perspektive menschengerechter Arbeitsgestaltung müssen verhältnispräventive Maßnahmen eine deutliche Aufwertung gegenüber rein verhaltenspräventiven erfahren. Unverzichtbar ist dabei die systematischere und umfänglichere Anwendung der Gefährdungsbeurteilung als dem Kerninstrument gesundheitspolitischer Interventionen im Betrieb. Dies darf jedoch weniger denn je in Form punktueller Arbeitsschutz-Reparaturen geschehen. In Zeiten permanenter Restrukturierung sowie komplexer arbeitsorganisatorischer und technischer Veränderungsprozessen muss die Ermittlung und Beurteilung von Gefährdungen prospektiv angelegt sein. Fragen menschengerechter Arbeitsgestaltung müssen von Beginn an einen integralen Bestandteil des Reorganisationsprozesses darstellen, um gesundheitsgefährdende Belastungskonstellationen erst gar nicht entstehen zu lassen (Fergen 2019).
  • Für die Umsetzung eines solchen Ansatzes bedarf es der Verbreitung von Kenntnissen über Standards der Arbeitsgestaltung und guter betrieblicher Präventionspolitik. Gemeint sind Anforderungen sowie Mindest- und Höchstwerte, die beim Einrichten von Arbeitsstätten, Arbeitsprozessen und Arbeitsplätzen zu beachten sind. Die IG Metall unterstützt daher die Forderung nach einem Kompendium arbeitswissenschaftlicher und arbeitsmedizinischer Erkenntnisse. Es könnte über die Bereitstellung zentraler Informationen strukturierend auf den betrieblichen Arbeitsgestaltungsprozess einwirken. Ein solches Kompendium muss gleichwohl von einem einheitlichen und kohärenten Verständnis der Gefährdungsbeurteilung gerahmt werden. Der bestehende Flickenteppich von unverbindlichen Empfehlungen ist nicht in der Lage, den betrieblichen Akteuren ein solches, präzises und überschaubares Verständnis zu vermitteln. Das verantwortliche Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist hier in der Pflicht einen Prozess unter Beteiligung aller Akteure einzuleiten, an dessen Ende eine klare Struktur und ein einheitliches Regelwerk stehen muss.
  • Auch im Bereich der psychischen Belastungen besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Die Relevanz psychischer Belastungen dürfte im Zuge der Digitalisierung der Arbeit steigen. Umso dringlicher ist es, die Regelungslücke im Feld der psychischen Belastungen mithilfe einer „Verordnung zum Schutz von Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit“, kurz: eine Anti-Stress-Verordnung, zu schließen. Hier ist vor allem der Gesetz- als Verordnungsgeber gefordert.
  • Gleichwohl sind alle Präventionsakteure gemeinsam gefordert, in den Betrieben gesundheitsförderliche Settings zu schaffen. Sie müssen auch und gerade unter den Bedingungen permanenter Restrukturierung und voranschreitender Digitalisierung einen präventiven und prospektiven Gesundheitsschutz ermöglichen und befördern. Das wird nur gelingen, wenn durch eine „Präventionsbewegung von unten“ ein entsprechendes Bewusstsein unter Unternehmen, Aufsichtsbehörden und betrieblichen Interessenvertretungen erzeugt werden kann. Hier sind neue Formen der Kooperation aller Verantwortlichen zu entwickeln, vor allem aber neue Formen der Motivation und Partizipation der Beschäftigten, denen als Experten ihrer Arbeitsbedingungen ein Rollenwechsel vom Adressat zum aktiven Subjekt betrieblicher Arbeitsschutzpolitik zugestanden und eröffnet werden sollte.
  • Für eine neue Kultur der Prävention

    Eine solche Präventionsbewegung setzt eine entsprechende Handlungsbereitschaft jedes Arbeitsschutzakteurs voraus. Es bedarf aber auch einer gemeinsamen Orientierung, einer neuen Kultur der Prävention, die einen arbeits- und präventionspolitischen Kulturwandel einzuleiten und die Praxen der Akteure zu strukturieren vermag. Eine humane Arbeitswelt zu schaffen, war, ist und bleibt gemeinsamer Arbeitsauftrag für alle, die im Arbeitsschutz in der gegenwärtigen Periode der Transformation der Arbeit Verantwortung tragen. Erfolgreich werden die Anstrengungen nur sein können, wenn das heute übliche Nebeneinander in koordinierte präventionspolitischen Aktivitäten transformiert wird. Die Gewerkschaften haben sich immer und werden sich auch in Zukunft als Teil dieser Präventionsallianzen begreifen. Das Kooperationsangebot an eine engagierte Arbeitsmedizin steht.

    Literatur

    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) Grundauswertung BiBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2012. Dortmund, Berlin, Dresden: BAuA, 2013.

    Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (Suga) – Berichtsjahr 2017. Unfallverhütungsbericht Arbeit. Dortmund, Berlin Dresden, 2018.

    Fergen A: Menschengerechte Arbeitsgestaltung: Stand und Perspektiven. In: Schröder L, Urban H-J (Hrsg.): Gute Arbeit Ausgabe 2019. Transformation der Arbeit – Ein Blick zurück nach vorn. Frankfurt/M.: Bund-Verlag, 2019.

    Kern H, Schumann M: Ende der Arbeitsteilung? ­Rationalisierung in der industriellen Produktion. München: C.H. Beck, 1984.

    Knieps F, Pfaff H (Hrsg.): Langzeiterkrankungen. Zahlen, Daten, Fakten. BKK-Gesundheitsreport 2015, S. 28 ff.

    Luczak H, W. Volpert (Hrsg.): Handbuch Arbeits­wissenschaft. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1997.

    Pangert B, Schüppach H: Die Auswirkungen arbeitsbezogener erweiterter Erreichbarkeit auf Life-Domain-Balance und Gesundheit. Dortmund, Berlin, Dresden: BAuA, 2013.

    Weitere Infos

    Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz: Die europäische Unternehmenserhebung über neue und aufkommende Risiken (ESENER)

    https://osha.europa.eu/de/surveys-and-statistics-osh/esener?set_languag…. ­(Zugriff: 1.8.2016)

    Autor
    Priv.-Doz. Dr. Hans-Jürgen Urban
    Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall
    sowie
    Privatdozent für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
    Foto: IG Metall