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Verantwortung im Betrieb

Zuordnung und Übernahme von Verantwortung im Betrieb

Einleitung

Im Folgenden wird auf der Grundlage einiger Beispiele der Begriff der Verantwortung (entsprechend Jonas 1979) konkretisiert und beschrieben, wie Verantwortung wirksam übertragen und so Entscheidungen bei unsicherer Informationslage ermöglicht werden können. Verantwortung wird als gesundheitlicher Belastungsfaktor eingeordnet. Abschließend werden auf der Basis der Definition von Verantwortung Lösungsansätze für die vorgestellten Fallbeispiele erarbeitet.

Fallbeispiele (Problemstellung)

1. Vertretung von Kollegen. Was darf ich, was muss ich tun?

Problemstellung: J, Expertin für Rechtsangelegenheiten im Unternehmen, ist gewissenhaft und gründlich. Ihrer Meinung nach bearbeiten ihre Kolleginnen und Kollegen Vorgänge nicht immer sorgfältig und zügig genug. Insbesondere in Vertretungszeiten übernimmt J zusätzlich zu den zugewiesenen Aufgaben auch solche, für die eigentlich ihre Kolleginnen und Kollegen zuständig sind. Sie arbeitet über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus und fühlt sich überlastet. Es kommt zu Konflikten im Kollegenkreis. J geht nur noch mit Bauchschmerzen zur Arbeit.

2. Kooperation zwischen zwei Abteilungen. Darf oder muss ich mich in die Abläufe der anderen Abteilung einmischen?

Problemstellung: Abteilung A (A) bearbeitet Einzelvorgänge, der Verfahrensablauf wird aber durch Abteilung B (B) erarbeitet. Unzuverlässigkeiten von B verzögern die Arbeit in A und verursachen erheblichen Mehraufwand. Auf die mehrfachen Anpassungsvorschläge des Abteilungsleiters von A (ALA) hat die Leitung von B (ALB) bisher nicht reagiert.

3. (Warum) müssen Verwaltungsvor­gänge so lange dauern?

Problemstellung: Der Produktionsbereich: „Wir müssen bei der Produktion schnell und flexibel reagieren können. Da kann es nicht sein, dass Verwaltungsvorgänge, die wir als Grundlage unserer Arbeit benötigen, aufgrund der vielen zu leistenden Unterschriften so lange dauern. Wer ist denn nun eigentlich verantwortlich?“

4. Wer ist im Team verantwortlich? Gibt es eine gemeinsame (Team-)Verantwortung?

Problemstellung: Am Wochenende soll der Kameramann K im Team von einer Demonstration in XY berichten. Die Redakteurin R wünscht vor Ort Bilder mitten aus dem „Schwarzen Block“. Damit ist K einem erheblichen Risiko von körperlicher Gewalt durch die Demonstranten ausgesetzt. Wer entscheidet darüber, welches Risiko eingegangen wird?

5. Verantwortung im Projekt

Problemstellung: Ein PC-Programm soll in Zukunft Beschaffungsvorgänge in Betriebsteilen transparenter und kontrollierbarer verwalten. Die kompetente und engagierte Sachbearbeiterin IT analysiert mit den dortigen Leitungen die Anforderungen an die Software und passt sie nötigenfalls an. Zudem macht sie die damit verbundene erhöhte Transparenz klar. Über ihre Vorgesetzten schlägt sie dem Lenkungskreis sachgerechte Optimierungen des Programms vor. Ihre Mitarbeit bei der Optimierung des Programms nehmen die Leitungen gerne an. Bei für sie unangenehmen Entscheidungen jedoch übergehen sie sie aber und erwirken über den Lenkungskreis inhaltlich nicht sachgerechte Veränderungen zu ihren Gunsten. Nach einem Jahr fällt IT mit Burnout aus und kehrt nicht mehr an diese Stelle zurück.

Der Begriff der Verantwortung

Obwohl das Wort von der Verantwortung in Politik und Gesellschaft ebenso wie im betrieblichen Alltag allgegenwärtig ist, findet es sich – anders als die „Pflicht“ oder „Verpflichtung“ – kaum in den Gesetzen des Arbeitsrechts (eine der wenigen Ausnahmen: Arbeitsschutzgesetz, ArbSchG § 13). Auch die ethische Theorie schweigt bis Jonas (1979) weitgehend zu dem Phänomen „Verantwortung“. Weder in der Liste der klassischen weltlichen Kardinaltugenden noch in den verschiedenen Ergänzungen zu späterer Zeit, einschließlich der religiösen Kardinaltugenden, ist Verantwortung aufgeführt. Insofern empfiehlt sich eine erste Annäherung an den Begriff über den Wortsinn.

Wortsinn

Wer Verantwortung hat, gibt Antwort. Dabei hat die Antwort eine besondere Qualität: Die Vorsilbe „ver-“ in Verbindung mit Verben indiziert häufig die aktive Veränderung einer Situation. Sie kann einerseits die Wendung ins Negative oder Fehlerhafte bedeuten: beispielsweise „verspielen“, „versalzen“ oder „verlaufen“. Daneben hat „ver-„ einen ver-stärkenden, einen ver-bindenden Charakter: „verlieben“, „verschließen“ oder „vergolden“. Wer Verantwortung trägt, gibt also nicht unverbindlich Auskunft, sondern schafft einen Bezug zwischen sich als Person und seinem Tun (Holzamer 1988).

Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung

Jonas (1979) hat sich intensiv und grundlegend mit dem Begriff der Verantwortung auseinandergesetzt, besonders auf dem Gebiet der politischen und gesellschaftlichen Verantwortung. Hier sind seine Überlegungen aktueller denn je. Seine Gedanken werden im Folgenden auf den betrieblichen Kontext übertragen.

Macht. Jonas betont das Spannungsfeld von Macht und Pflicht (➥ Abb. 1). Faktische Macht ist eine entscheidende Voraussetzung für die Entstehung von Verantwortung. Sie bedeutet, dass die faktischen Möglichkeiten, also die Ressourcen, zur Verfügung stehen, um eine bestehende Situation zu gestalten. Diese Macht kann situativ zufallen, sie kann genuin im Verhältnis zum Verantwortungsobjekt sein (z.B. Eltern zum Kind).

Im Falle des Arbeitsverhältnisses verfügen Beschäftigte über Ressourcen (Ausbildung und Fähigkeiten), des Weiteren erhalten sie im konkreten Produktionsverhältnis vom Unternehmen mit der Übertragung der Arbeitsaufgabe auch die Mittel zur Umsetzung (materiell, personell) sowie funktionale Privilegien (Hoffmann-Riem 2010, S. 1249, 1253) und Befugnisse (Weisungsbefugnis, Handlungsbefugnis). Verantwortung bedingt also Autonomie sowie Rechte, die gewährt werden, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen und die damit verbundene Verantwortung wahrzunehmen. Ohne dass die erforderlichen Befugnisse übertragen und Ressourcen bereitgestellt werden, kann mithin Verantwortlichkeit für die Aufgabe schlechterdings nicht eingefordert werden.

Pflicht und Verantwortungsgefühl. Die von der Natur her instituierte Pflicht, unter Anwendung der gegebenen Macht auch tätig zu werden – also Verantwortung zu übernehmen und handelnd eine Situation zu beeinflussen – ist für Jonas unwiderruflich und unkündbar [weil die handelnde Person untrennbarer Teil der gegebenen Situation ist (Anm. der Verfasser)]. Die elterliche Verantwortung, aber auch die Verantwortung für die Natur und den Planeten zählen dazu. Sie entstehen aus dem eigenen Wertesystem (Verhältnis Eltern zum Kind, Vorsorge einer lebenswerten Zukunft) und nehmen die Macht über das Kind und die Natur allein durch den sittlichen Willen in die Pflicht („Die Sache wird meine, weil die Macht meine ist“ – Jonas 1979; S. 175).

Der natürlichen Verantwortung stellt Jonas die künstliche, durch Erteilung und Annahme eines Auftrags entstehende Verantwortung gegenüber, deren begrenzter Wirkungsbereich nach Inhalt und Zeit umschrieben ist. Hierzu gehört klassischerweise der Arbeitsvertrag. Für ihn wird die künstliche Verantwortung deshalb zu einem hohen Gut, weil ihr Gegenstand die „Wahrung der Treueverhältnisse überhaupt ist, auf denen die Gesellschaft und das Zusammenleben der Menschen beruht“ („pacta sunt servanda“). Daraus folgt aber auch, dass im betrieblichen Alltag Befugnisse und Ressourcen nicht zum Zweck der persönlichen Entfaltung oder zur Erhöhung der individuellen Freiheit übertragen werden. Ihre Gewährung hat vielmehr Rückbezug zu der jeweiligen Organisation, zu Personen oder zu Dingen und ist gleichsam treuhänderisch geprägt (Hoffmann-Riem 2010, S. 1249, 1253). Die aus der Übertragung einer Aufgabe resultierenden und mit ihr verbundenen Privilegien sind also funktional und begründen auf diese Weise Verantwortung: Die Befugnisse der Redaktionsleitung einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt dienen der Erfüllung des auf Meinungsbildung gerichteten Funktionsauftrags des Rundfunks. Ihre Einräumung durch den Arbeitsvertrag und ihre Absicherung durch die Gesetze zum Schutz der Meinungsfreiheit begründen Verantwortung. Die personelle Macht einer Abteilungsleitung ist in ihrer Aufgabe begründet, die ihr anvertrauten Beschäftigten zu führen und zum Unternehmenserfolg beizutragen.

Diese Verantwortung aus dem Arbeitsvertrag fällt nach Jonas nicht zu, sondern wird durch Erteilung und Annahme (Zuordnung und Übernahme) gewählt. Der Arbeitsvertrag verpflichtet das Unternehmen zur Leistung der versprochenen Vergütung. Dafür kann es aufgrund des Arbeitsvertrags selbst oder des dahinter stehenden Direktionsrechts (des Rechts, über die von Beschäftigten verkaufte Zeit zum Wohl des Betriebs zu verfügen) erwarten, dass die Beschäftigten diese Aufgabe entsprechend den Leistungs- und Qualitätsvorgaben verantwortungsbewusst übernehmen, dies aber wiederum unter der Voraussetzung, dass die zur Erfüllung der Aufgabe erforderlichen Ressourcen und Befugnisse bereitgestellt sind.

Die Erfüllung der Pflicht, die sich durch den Vertrag ergibt, wird aber nicht nur durch die möglichen äußeren Konsequenzen bei Nicht-Erfüllung (s. unten) bestimmt. Jonas (1979, S. 162 und 179) postuliert auch eine emotionale Bindung über den Appell an die oben genannte Wahrung des Treueverhältnisses. Dieser innere Appell erfährt eine Antwort: das Verantwortungsgefühl, das die eingeräumte Macht in seine Pflicht nimmt, sie beschränkt und auf die ihr zugrunde liegenden Zwecke ausrichtet. Der innere Appell ist der Loyalität eng verwandt. Er kann aber auch übermäßig werden. Schafft eine Person mit der Annahme der Aufgabe eine zusätzliche innere Erwartungshaltung an sich selbst, die gegenüber der Beauftragung überschießenden Gehalt hat, so fühlt sie sich in einem Umfang verantwortlich, der ihren objektiv gegebenen Pflichtenkreis überschreitet und für den sie auch nicht mit entsprechenden Ressourcen oder Befugnissen ausgestattet ist. Dann kann der Versuch zu handeln von Kolleginnen und Kollegen leicht als Kompetenzüberschreitung wahrgenommen werden. Zugleich drohen Überlastung, Frustration und die damit verbundenen psychischen Belastungen und Gesundheitsgefahren. Gute Führung besteht darin, derart überschießendes Verantwortungsgefühl zu erkennen und Aufgaben einerseits sowie empfundene Verantwortung andererseits in weitestgehende Übereinstimmung zu bringen.

Konsequenzen. Die Zuweisung der Konsequenzen von Verantwortung schließlich erfolgt im Rückblick. Eine handelnde Person wird für ihre Handlung verantwortlich gemacht, sie hat Konsequenzen zu erwarten. Diese können positiv (immaterielle wie materielle Anerkennung) wie negativ (Kritik, arbeitsverträgliche Sanktionen, Wiedergutmachung und Strafe) ausfallen. An dieser Stelle ist von Interesse, dass nicht nur für aktives Tun eingestanden werden muss, sondern dass auch das Versäumnis zu handeln rechenschaftspflichtig sein kann. Dies wiederum setzt voraus, dass Macht und Möglichkeit zum Handeln gegeben waren. Denn Bedingung von Verantwortung ist kausale Macht (Jonas 1979).

Damit hat die Übernahme von Aufgaben für Beschäftigte dreierlei Folgen:

  • Haben sie die Macht etwas zu bewegen und sich zu einer Aufgabe verpflichtet, dann müssen sie die Verantwortung übernehmen. Die eingeräumten Befugnisse und Mittel müssen genutzt werden.
  • Vice versa können und müssen Beschäftigte eine ihnen angetragene Verantwortung ablehnen, wenn ihnen nicht die Mittel zum Handeln zur Verfügung stehen oder gestellt werden.
  • Bevor sich Beschäftigte in Verantwortung begeben, müssen sie über den Umfang ihrer Verpflichtung und damit der Reichweite ihrer Verantwortung Klarheit haben.
  • Das Unternehmen muss also bestrebt sein, Rollen zu klären, Aufgaben präzise zu beschreiben (einschließlich dessen, was nicht Bestandteil der Aufgabe ist), und festzulegen, welche Ressourcen und Befugnisse bereitstehen.

    Für die Beurteilung der oben genannten Fälle kann somit als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass sich das Bestehen und die Reichweite der Verantwortung aus der eingegangenen Verpflichtung beziehungsweise bestehenden Pflicht sowie den gegebenen Ressourcen und Befugnissen (Macht) ergibt.

    Entscheidungspflicht auf unsicherem Terrain

    Verantwortung zu tragen bedeutet entscheiden. Eine Entscheidung beeinflusst den Verlauf des Geschehens in eine bestimmte Richtung. Die Entscheidung kann sich im Nachhinein (bei Vorliegen weiterer Informationen) als richtig oder falsch darstellen. Konsequenzen werden von Entscheidungsträgern zu ertragen sein oder kommen ihnen zugute. Zu den Auswirkungen einer Entscheidung kann der oder die zur Entscheidung Berufene von Betroffenen befragt werden. Als verantwortliche Person muss sie also die Entscheidung auch im Wortsinn verantworten.

    Verantwortung zur Entscheidung ist regelmäßig mit einem aus Unsicherheit entstehenden Risiko verbunden. Gibt ein Routine-Algorithmus etwa in Form einer Checkliste die zum Durchführen einer Maßnahme erforderlichen Kontrollen und Aktionen und damit die Entscheidungen vor, so befinden sich die Beteiligten auf vergleichsweise sicherem Terrain; denn die Entscheidung ist gleichsam schon gefallen – sie muss nur realisiert werden. Die tatsächliche Verantwortung bezieht sich dann vor allem auf das zuverlässige Abarbeiten des vorgegebenen Algorithmus. Dies ist in seiner Bedeutung freilich nicht gering zu achten, man denke nur an die Vorflugkontrolle (Preflight-Check), die vor jedem Flug durchzuführen ist.

    In der betrieblichen Praxis zeigt sich jedoch, dass sowohl Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter als auch Fachleute und Führungskräfte oftmals Entscheidungen verzögern oder gar vermeiden, weil sie Angst davor haben, sich für Fehler rechtfertigen zu müssen. Eine Entscheidung unter Unsicherheit ist zu treffen, wenn die Notwendigkeit zu entscheiden weiter reicht als die Möglichkeit zu erkennen, wenn also

  • keine Gewissheit besteht, welche Wirkungen die Entscheidungsalternativen haben und diese Gewissheit auch nicht ausreichend schnell (aus Unterlagen, von Fachleuten/Vorgesetzten) beschafft werden kann und
  • dennoch die Notwendigkeit zur Entscheidung ansteht. Diese Notwendigkeit kann daraus erwachsen, dass
  • a) ohne die Entscheidung erhebliche Risiken für das Produkt oder beteiligte Personen entstehen („keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung“) oder

    b) die aus einer eventuellen Fehlentscheidung erwachsenden Risiken ausreichend gering sind, so dass es für die Produktivität sinnvoller ist, jetzt zu entscheiden als die Entscheidung zu verschieben.

    In der betrieblichen Praxis sind in Entscheidungssituationen häufig zwei Ausweichstrategien zu beobachten: Erstens wird versucht, nicht allein entscheiden zu müssen. Zur Absicherung werden Kolleginnen und Kollegen einbezogen, Gutachten in Auftrag gegeben, Arbeitsgruppen gegründet oder Gremien angerufen. Diese Strategie kostet Zeit und Geld, ist aber nur gerechtfertigt, wenn die realistische Aussicht besteht, dass die Qualität der Entscheidung dadurch verbessert wird und diese Verbesserung die Verzögerung und den Geldaufwand aufwiegt. Die andere – verwandte – Strategie besteht darin, nicht zu entscheiden. Die Wahrnehmung von Verantwortung beinhaltet aber vor allem, dass Entscheidungen getroffen werden – auch wenn eine Orientierung an erfolgreichem Vorgehen in der Vergangenheit nicht möglich ist, weil die Entscheidungssituation einmalig oder komplex ist. Nicht entscheiden hat zur Folge, dass die eingeräumten Befugnisse und Mittel nicht den Zielen dienen, zu denen sie eingeräumt worden sind. Sie werden so vom funktionalen Privileg zum persönlichen (Hoffmann-Riem 2010, S. 1249, 1259, 1261).

    Für Unternehmen kommt es daher zusätzlich zur Übertragung von Verantwortung und der damit verbundenen Befugnisse und Mittel auch darauf an, zur Übernahme von Verantwortung zu ermutigen und Entscheidungsfreude zu stärken. Dazu gehört ein konstruktiver Umgang mit Unsicherheit und Komplexität, eine gute Fehlerkultur und Reflexionsfähigkeit im Unternehmen (Weber 2018)

    Betriebsmedizinische Relevanz

    Den folgenden Ausführungen liegt eine Literaturrecherche in PubPsych und PubMed am 12.12.2019 unter den Stichworten „responsibility and work and stress“ zugrunde.

    Verantwortung als Belastungsfaktor

    Es ist unstrittig, dass psychische Fehlbeanspruchungen (vulgo: Dysstress) – in Besonderheit auch im Arbeitsbetrieb – einen Risikofaktor für verschiedene psychische wie somatische Erkrankungen darstellen (zur Übersicht s. auch Windemuth 2014 und Angerer 2014). Die Verantwortung wird als eine solche psychische Fehlbeanspruchung beschrieben (Falger 1992), allerdings auch häufig im Sinne von Hacker u. Richter (1980) in eine enge Beziehung zu den Begriffen der Autonomie und dem Tätigkeitsspielraum gesetzt und somit als Ressource angenommen. Ihre Auswirkungen auf die Gesundheit werden unterschiedlich beschrieben: teilweise als Ressource mit gesundheitsförderlicher Wirkung, teilweise als Fehlbeanspruchung (s. auch Bradtke 2016).

    Die Bedeutung der Entstehung von ­Verantwortung

    In den Standardmodellen der Arbeitspsychologie findet die Verantwortung bei der Arbeit Berücksichtigung, allerdings kaum der Akt der Zuordnung und Übernahme. Hacker u. Richter (1980), Hacker u. Sachse (2014) sowie Ulich (2005) weisen bei den Gestaltungsmerkmalen der Persönlichkeitsförderung im Unterpunkt der Autonomie darauf hin, dass durch sie die Übernahme von Verantwortung angeregt werden kann. Vielmehr ist es aber so, dass die Autonomie bei betrieblichen Tätigkeiten in der Regel selbst schon eine Verantwortung beinhaltet beziehungsweise Teil der Übergabe/Übernahme der Verantwortung ist. Das Job-Demand-Control-Support-Modell setzt in seinen Fragen erst bei schon übernommener Verantwortung an. Das Modell der Salutogenese nach Antonovsky (Bengel 2001) geht von einer zufallenden Verantwortung aus. Wichtig ist aber der Akt der bewussten und autarken Übernahme von Verantwortung. Mit der Übernahme der Verantwortung entsteht ein Pflichtbewusstsein/Pflichtgefühl mit inneren und äußeren Sanktionsdrohungen. Die Verantwortung im Betrieb beinhaltet daher nicht nur Freiheit als Ressource im Sinne von Autonomie, sondern sie wirkt auch als beanspruchender Faktor.

    Fehlbeanspruchung durch ­Verantwortung

    Nicht die Belastung selbst, sondern das Gefühl der Belastung, also die Beanspruchung entscheidet darüber, ob eine äußere Einwirkung als Bürde oder im Sinne einer Herausforderung empfunden wird (Scholl 2018). Dies gilt auch für die Verantwortung (Gerich 2017). Der der Macht zugehörige Teil der Verantwortung wirkt dementsprechend auch positiv, ressourcenfördernd im Sinne des Kohärenzsinnes (Schmitt et al. 2015; Ohta et al. 2015; Corrêa u. Ferreira 2011; Hüttges 2010) nach dem Salutogenese-Modell von Antonovsky. Das Gefühl hingegen, den Verpflichtungen, die man mit der Verantwortungsübernahme eingegangen ist, nachkommen zu müssen, dies aber möglicherweise nicht zu können, ihr nicht gewachsen zu sein und auch keine Unterstützung zu erhalten, wirkt als Fehlbeanspruchung und stressfördernd (Corrêa u. Ferreira 2011; Hüttges 2010; Baumgartner et al. 2018; Scholl et al. 2018; Niedhammer et al. 1998; Meng et al. 2008; Hornberger 2006; Hintsa et al. 2013). Den Verpflichtungen kann man in zweierlei, nämlich in quantitativer und in qualitativer Hinsicht nicht gewachsen sein.

    Quantitativ: Es entsteht das Gefühl, dass zu viele Pflichten aufgebürdet sind. Klassischerweise lässt sich dies an Gender-Vergleichen ablesen (Lundberg et al. 1994; Lundberg u. Frankenhaeuser 1999; Portela et al. 2013). Der Zusammenhang zwischen der erhöhten Stressbelastung bei Frauen und der beruflichen Belastung lässt sich erst durch die Berücksichtigung der zusätzlichen Verantwortungsübernahme im familiären Bereich nachweisen.

    Die Flexibilisierung der Arbeit (zeitlich, örtlich) erleichtert zwar auf der einen Seite die Möglichkeit, berufliche und private Verantwortlichkeiten in ihrer Gewichtung und zeitlichen Zuordnung überein zu bringen. Auf der anderen Seite wird dadurch der Person mehr, nämlich zusätzliche Unternehmensverantwortung übergeben, es besteht aber die Neigung, die Zuordnung der Verantwortung nur als Übergabe von Produktionsverantwortung zu begreifen. Die unternehmerische Sorge für die Gesunderhaltung der Person selbst gerät so ins Hintertreffen (Baumgartner et al. 2018; Deci et al. 2016; Pravettoni et al. 2007). Es wird eher Workaholics (Lichtenstein et al. 2019) als den Personen, die zur „Arbeit nach Vorschrift“ tendieren, also der Übernahme von Verantwortung negativ gegenüberstehen (Muller-Smith 1997), die Möglichkeit der Flexibilisierung der Arbeit eröffnet. Diese Workaholics sind aber auch diejenigen, die noch zu Hause (resp. in der eigentlich freien Zeit) die Arbeitsprobleme nicht beiseite legen können und damit einer erhöhten Fehlbeanspruchung ausgesetzt sind (Pravettoni et al. 2007). Aktualität erhält dieser Aspekt dadurch, dass im Rahmen der Corona-Pandemie Home Office vermehrt nötig wird.

    Qualitativ: Obwohl nach dem subjektiven Eindruck die notwendigen individuellen Fähigkeiten, die Zeit, die betrieblichen Ressourcen oder die Handlungsfreiheit fehlen, der Verantwortung gerecht zu werden, wurde eine Verantwortung übertragen (und fälschlicherweise auch angenommen). Es entsteht das Gefühl der Pseudoautonomie (Baumgartner et al. 2018), das einhellig als psychische Fehlbeanspruchung angesehen wird (Hüttges 2010; Baumgartner et al. 2018; Niedhammer et al. 1998; Shigemi et al. 1997). Wird dann eine tatsächliche Handlungsfreiheit ermöglicht, so vermindert dies das Gefühl der Belastung (Parker et al. 2014).

    Die Bedeutung individueller Faktoren

    Schließlich sind auch individuelle Faktoren wie das in der Sozialisierung erworbene Pflichtbewusstsein zu beachten. Die emotionale Verbundenheit mit der Tätigkeit (insbesondere, wenn auch keineswegs ausschließlich, in Tätigkeiten mit hoher Qualifikation bzw. in sozial ausgerichteten Tätigkeiten) fördert die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, verleitet aber auch zu deren unkritischer Übernahme. Es fehlt die objektive Distanz zur Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Organisatio­nelle Unterstützung (Ansprechpartner, Versicherung der betrieblichen Unterstützung, aber auch hierarchische Begrenzung der Verantwortung) wie auch individuelle Anstrengungen (Resilienztraining, Bereitschaft zur Analyse der eigenen Grenzen wie auch der Annahme von Unterstützung) sind hier gefragt (Rounds u. Zevon 1986; Castelli Dransart et al. 2015; Hurtienne 2018).

    Beurteilung der Fallbeispiele unter dem Aspekt der Verantwortung

    1. Vertretung von Kollegen. Was darf ich, was muss ich tun?

    Beurteilung: J hat die Macht, a) die aktuellen und b) die liegengebliebenen Vorgänge zu bearbeiten und fertigzustellen sowie c) zumindest passager Veränderungen des Produktionsablaufs einzuführen.

    Sie hat explizit nur die Pflicht zu a). Aus Loyalität zum Unternehmen bearbeitet sie auch b) und c). Die Pflicht zu b) und c) liegt allerdings vor allem bei den vertretenen Kolleginnen und Kollegen.

    Eine Verantwortung besteht allein für a); der muss sie nachkommen. Für b) sollte zumindest das unausgesprochene Einverständnis des eigentlichen Stelleninhabers anzunehmen sein beziehungsweise ein Auftrag des Vorgesetzten vorliegen. c) reicht zeitlich über die Vertretung hinaus. Verantwortung von J besteht nicht. Vorgesetztenaufgabe ist es, eine solche psychisch belastenden Situation zu vermeiden, aber das (Mit-)Denken über die eigene Funktion hinaus auch nicht zu verhindern.

    2. Kooperation zwischen zwei Ab­teilungen. Darf oder muss ich mich
    in die Abläufe der anderen Abteilung einmischen?

    Beurteilung: ALA hat nicht die Macht, per Weisungsbefugnis in die Abläufe von B einzugreifen. ALA hat aber die Pflicht, durch Optimierung der Arbeitsabläufe für Beschäftigte und Produkt zu sorgen. Auch ALB hat die Pflicht, an A ein optimiertes Produkt abzuliefern. ALA kann seiner Verantwortung nur durch a) Verständigung mit der ALB oder b) Vorsprache bei den nächst höheren gemeinsamen Vorgesetzten gerecht werden. Diese tun zudem gut daran, die Kommunikation über Verantwortung zur Verbesserung der Produktion zu fördern.

    3. (Warum) müssen Verwaltungs-­
    vor­gänge so lange dauern?

    Beurteilung: Per Unterschrift wird Verantwortung übernommen und dokumentiert. Über die Ausbildung, die Handlungsbefugnis/den Verfügungsrahmen hat die/der Sachbearbeiterin/Sachbearbeiter (SB) die Macht zur Produktion eines Verwaltungsvorgangs. SB hat per Arbeitsvertrag auch die Pflicht, die Vorgänge zu bearbeiten. Er/sie trägt die Verantwortung dafür, dass „am Ende des Tages“ das fertige Produkt vorliegt. Routinevorgänge („sicheres Terrain“) hat SB fertigzustellen und verantwortlich zu unterschreiben. Es braucht – außer bei ausdrücklich gewollter Verantwortungsteilung (Vieraugenprinzip) – keine weitere Unterschrift. Bei nicht sicher durch Befugnisse/Kenntnisse abgedeckten Besonderheiten ist SB verantwortlich für die Weiterführung des Vorgangs (etwa durch Nachfrage bei Fachvorgesetzten).

    4. Wer ist im Team verantwortlich? Gibt es eine gemeinsame (Team-)Verantwortung?

    Beurteilung: K hat die Macht über das Produkt, das ohne ihn nicht erstellt werden kann. Vertraglich hat er die Pflicht zur Produktion. Er hat also auch die Verantwortung für die Kameraaufnahme.

    Die Pflicht der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung liegt bei R. Steht K dann in einer aktuellen Gefährdungslage alleine, so kann und muss K eventuell unter Unsicherheit (wie wird sich die Lage entwickeln?) verantwortlich die Entscheidung treffen, die Produktion zu beenden,

    Die Entscheidung muss nur vor dem Informationsstand zum konkreten Zeitpunkt verteidigt werden, nicht danach, wie sich die Lage tatsächlich entwickelt.

    5. Verantwortung im Projekt

    Beurteilung: IT hat keine Macht , die (auftragsgemäßen) Vereinbarungen mit den Betriebsleitungen und die von ihr gemachten Vorgaben zu realisieren. Sie kann damit der Verantwortung für den ihr als Expertin verpflichtend übertragenen Auftrag nicht nachkommen.

    Eine funktionale Lösung wäre die Anpassung der Befugnisse von IT durch Einrichtung einer Stabsstelle im Rahmen des Projekts.

    Fazit

    Im Betrieb ist auf eine auf klare Übertragung und Übernahme von Verantwortung zu achten. Dazu müssen Rahmenbedingungen in Form von Ressourcen und Befugnissen geschaffen werden, die die Ausübung von Verantwortung wirksam ermöglichen. Zugleich müssen Klarheit und Einvernehmen über den Umfang der Verpflichtung geschaffen werden. Zuletzt ist dem Missbrauch von Befugnissen und Ressourcen durch geeignete Maßnahmen vorzubeugen.

    Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

    Literatur

    Baumgartner M, Krause A, Lehner P, Mustafić M: Flexibel arbeiten und dabei gesund bleiben. Flexibilität und Selbstorganisation sind im Trend. Doch echte Autonomie benötigt Freiräume. Psychoscope 2018; 39: 18–21.

    Hoffmann-Riem W: Über Privilegien und Verantwortung. In: Hoffmann-Riem W (Hrsg.): Offene Rechtswissenschaft. Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, S. 1249ff.

    Holzamer K: Verantwortung – Wesen und Grundlage ihrer Verwirklichung. In: Zwischen Pflicht und Neigung. Mainz: Verlag?? 1988.

    Jonas H: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt: ­Suhrkamp, 1979.

    Pravettoni G, Cropley M, Leotta SN, Bagnara S: The differential role of mental rumination among industrial and knowledge workers. Ergonomics 2007; 50: 1931–1940.

    Scholl A, De Wit F, Ellemers N, Fetterman A, Sassenberg K, Scheepers D: The burden of power: construing power as responsibility (rather than as opportunity) alters threat-challenge responses. Personality & Social Psychology Bulletin 2018; 44: 1024–1038.

    Eine ausführliche Literaturliste mit weiterführenden Quellen kann auf der ASU-Homepage beim Beitrag eingesehen werden (www.asu-arbeitsmedizin.com).

    Weitere Infos

    Hüttges A: Eigenverantwortung und Verhandlungsautonomie für innovatives und gesundes Arbeitshandeln. Dresden: ­Technische Universität, Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften, 2010
    http://nbn-resolving.de/urn:nb..cosa-61897

    Kontakt

    Priv.-Doz. Dr. med. Detlev Jung
    Leiter Betriebsärztliche ­Abteilung, ZDF55100 Mainz

    Gregor Wichert
    Leiter der Hauptabteilung Personal; Stellvertretender Verwaltungsdirektor, ZDF; 55100 Mainz

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