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Lehrkräfte als Risikogruppe: Wichtig ist eine individuelle arbeitsmedizinische Beratung

Das Institut für Lehrergesundheit (IfL) an der Universitätsmedizin in Mainz berät Schulen und Lehrkräfte in betriebsmedizinischen und arbeitsschutztechnischen Angelegenheiten. Der Leiter des IfL, Univ.-Prof. Dr. Stephan Letzel, gibt in seinem Interview am 10.08.2020 nachfolgend Auskunft zu den wichtigsten Fragen zum Thema:

 

Das Institut für Lehrergesundheit in Mainz berät Lehrer*innen und pädagogische Fachkräfte im Schuldienst in Rheinland-Pfalz. Sie bieten u.a. auch arbeitsmedizinische Beratungen und die Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilungen an. Wie groß ist die Sorge bei den Lehrkräften, sich mit dem Corona-Virus zu infizieren?

Erlauben Sie mir bitte zunächst einen allgemeinen Hinweis: Das Infektionsgeschehen in der Pandemie ist starken zeitlichen und örtlichen Schwankungen unterworfen, so dass sich die gemachten Aussagen in diesem Interview nur auf den aktuellen Stand Anfang August 2020 beziehen können.

Nun zu Ihrer Frage: Ähnlich wie in der Allgemeinbevölkerung besteht aktuell auch bei den Lehrkräften eine große Sorge, sich mit dem Corona-Virus zu Infizieren. Hiervon sind besonders Lehrkräfte betroffen, die unter einer chronischen Erkrankung leiden und zu den besonders schutzbedürftigen Personen zählen. Zusätzlich führen die geplanten bzw. schon erfolgten Schulöffnungen im Regelbetrieb mit Präsenzunterricht nach den Sommerferien in den einzelnen Bundesländern zu kontroversen Diskussionen. Auch ist es für die Lehrkräfte nicht immer plausibel, dass zum Teil die Hygienepläne sowie die weiteren rechtlichen Vorgaben in den einzelnen Bundesländern voneinander abweichen und in relativ kurzen Zeitspannen angepasst bzw. überarbeitet werden. Beispielhaft sei hier das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Unterricht, das z.B. zum Schulstart Anfang August in Nordrhein-Westfalen vorgeschrieben wurde, in anderen Bundesländern jedoch zeitgleich nicht vorgesehen war. Dies trägt nicht unbedingt zur Beruhigung der Lehrkräfte bei.

 

Wie hoch schätzen Sie das Infektionsrisiko an Schulen nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse tatsächlich ein?

Eine generelle Aussage zum Infektionsrisiko an Schulen ist nicht möglich. Dieses ist zum einen vom regionalen Infektionsgeschehen abhängig, das glücklicherweise in vielen Regionen in Deutschland aktuell relativ niedrig ist, und wird zum anderen von den individuellen beruflichen Tätigkeiten an der speziellen Schule und der Einhaltung der entsprechenden Hygieneregeln bestimmt. Unabhängig weisen aktuelle Beobachtungen darauf hin, dass insbesondere jüngere Schulkinder keine relevante Rolle in der Weitergabe einer Corona-Infektion spielen.

 

Wird auch in Ihrer Sprechstunde am Institut für Lehrergesundheit verstärkt der Wunsch nach einer Freistellung vom Präsenzunterricht geäußert?   In welchen Fällen empfehlen Sie eine Freistellung?
 
Altersabhängig liegt die Anzahl der Personen mit chronischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung deutlich über 10%. Am Institut für Lehrergesundheit (IfL) in Mainz bieten wir derzeit eine spezielle Videosprechstunde für Lehrkräfte in Rheinland-Pfalz, die sich zu den besonders schutzbedürftigen Personen zählen, an. Unsere Ärztinnen/Ärzte erheben bei den ratsuchenden Lehrkräften eine individuelle Anamnese, bewerten die vorgelegten ärztlichen Befunde, berücksichtigen die individuellen beruflichen Tätigkeiten sowie das regionale Infektionsgeschehen. In einer Fallkonferenz wird dann im Ärzteteam des IfL jeder Fall vorgestellt und eine individuelle Empfehlung ausgesprochen. Die fachliche Empfehlung orientiert sich dabei an der arbeitsmedizinischen Empfehlung „Umgang mit aufgrund der SARS-CoV-2-Epidemie besonders schutzbedürftigen Beschäftigten“ des Ausschusses für Arbeitsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Das Verfahren ist relativ aufwendig, da wir täglich eine Vielzahl von Lehrkräften individuell beraten, wird aber so den Einzelfällen am ehesten gerecht. Wichtig ist, dass wir keine ärztliche Atteste überprüfen, sondern eine individuelle arbeitsmedizinische Beratung des Einzelfalles vornehmen. 

 

Wie sieht es aus, wenn eine Lehrkraft selbst nicht zu einer Risikogruppe gehört, jedoch der Partner bzw. die Partnerin im gemeinsamen Haushalt?

Der Arbeitsschutz orientiert sich an der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers für seine Beschäftigten am Arbeitsplatz. Darüberhinausgehende Maßnahmen, z.B. zum Schutz von Angehörigen kann in der Regel nicht zu Lasten der Arbeitgeber erfolgen. Hier ist die Solidargemeinschaft gefordert. Ein Beispiel hierfür wäre die Möglichkeit des Fernbleibens eines Elternteils für jedes Kind für 10 Arbeitstage pro Jahr und Elternteil für die Betreuung kranker Kinder im eignen Haushalt. Das entsprechende Krankengeld wird von der Krankenkasse übernommen. Dies gilt selbstverständlich auch, wenn das Kind an Corona erkrankt ist. Für die Betreuung bzw. zum Schutz von Risikogruppen im eignen Haushalt während der Corona-Pandemie werden aktuell weiterführende Regelungen diskutiert. Unabhängig davon sind die Lehrkräfte selbst gefordert alle Hygienevorgaben am Arbeitsplatz und im Privatleben strikt einzuhalten, um Risiken für ihre Angehörigen zu vermeiden.

 

Derzeit können Lehrer*innen sich bei Ihrem Hausarzt krankschreiben bzw. wie künftig in fast allen Bundesländern gefordert, ein Attest ausstellen lassen. Sollte eine Freistellung vom Präsenzunterricht aufgrund eines erhöhten Infektionsrisikos nicht anhand einer individuellen Gefährdungsbeurteilung durch Betriebsärzt*innen erfolgen?

Sie haben vollkommen Recht, wie ich schon bei der Frage 3 darauf hingewiesen habe, kann eine fundierte Risikobewertung des Einzelfalles nur unter Berücksichtigung der individuellen beruflichen Tätigkeiten und des Infektionsgeschehens erfolgen. Es geht dabei auch nicht darum generell die Tätigkeit als Lehrkraft zu bewerten, sondern zu klären, welche speziellen Tätigkeiten die Lehrkraft aktuell ausüben kann ohne ein erhöhtes Risiko einzugehen. Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären: Eine Schulleitung mit einer relevanten chronischen Erkrankung, die primär organisatorische Aufgaben wahrnimmt und diese so gestalten kann, dass hierbei alle sinnvollen hygienischen Maßnahmen, insbesondere Abstandsgebot, gute Raumlüftung, Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung sowie entsprechende Händehygiene (Desinfektion und Waschen) eingehalten werden, kann diese Tätigkeiten ggf. aus arbeitsmedizinischer Sicht gut ausüben, man würde jedoch ggf. empfehlen vom Präsenzunterricht abzusehen.

 

Kann ein Hausarzt überhaupt eine vollständige und abschließende individuelle Risikoeinschätzung vornehmen?

Grundlage für eine gezielte und differenzierte Risikoeinschätzung ist die Kenntniss über den speziellen Arbeitsplatz und die jeweiligen beruflichen Tätigkeiten sowie den individuellen Gesundheitszustand. Hieraus kann dann eine individuelle Risikobeurteilung abgeleitet werden. Verfügt der Hausarzt über die hierzu erforderlichen arbeitsmedizinischen Kenntnisse, kann er eine qualifizierte Bewertung vornehmen. In der Regel ist dies jedoch nicht der Fall, so dass man nur dringend empfehlen kann, den zuständigen Betriebsarzt bzw. Betriebsärztin bei der Risikoeinschätzung einzubinden.

 

Wäre eine klare und einheitliche Zuständigkeit der Betriebsärzt*innen, die auf Grundlage einer vom Arbeitsschutzgesetz geforderten Gefährdungsbeurteilung handeln, nicht sogar von Vorteil für alle Beteiligten?

Wie bereits geschildert ist die Beurteilung des Einzelfalles u.a. auf der Grundlage der Gefährdungsbeurteilung für die meisten Fälle das einzig zielführende und ärztlich vertretbare Vorgehen. Unabhängig davon gibt es natürlich auch schwerste Erkrankungsfälle bei den aktuell – unabhängig von der Pandemie – aus ärztlicher Sicht ein Einsatz an der Schule nicht zu empfehlen ist. Hier wäre eine Krankschreibung durch den Hausarzt und/oder die Dienstfähigkeit zu prüfen. Leider sehen wir in der Arbeitsmedizin immer wieder Fälle, bei denen kurativ tätige Ärzte/Ärztinnen Beschäftigten „gut gemeinte“ Atteste ausstellen, die ohne Kenntnis der Gefährdungsbeurteilung, ungerechtfertigt den Arbeitsplatz gefährden.

 

Was würden Sie den verantwortlichen Kultusministerien empfehlen, wie Sie das Thema spätestens nach Aufnahme des (geplanten) Regelbetriebes angehen sollten?

Aus meiner Sicht agieren die verantwortlichen Kultus- bzw. Bildungsministerinnen und -minister mit sehr großer Verantwortung und Sensibilität auf die Corona-Pandemie. Ihre politische Aufgabe ist es, auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnisse sowie der regionalen Infektionslage, zwischen dem pädagogischen Auftrag der Schulen und dem Erkrankungsrisiko im Schulbereich abzuwägen und dann klare, jedoch auch gut nachvollziehbare und umsetzbare Vorgaben für den Schulbetrieb zu machen. Dies ist bis jetzt sehr gut gelungen, Schulen haben sich im Gegensatz zu anderen Einrichtungen bis heute nicht als relevante Hotspots einer Corona-Infektion herausgestellt. Die Kultusministerkonferenz aller Bundesländer versucht durch regelmäßige Diskussionsrunden das Vorgehen an Schulen zu harmonisieren. Wenn es dann trotzdem zu unterschiedlichen Umsetzungen in den einzelnen Bundesländern kommt, ist dies zum Teil dem regionalen Infektionsgeschehen und der jeweiligen politischen Verantwortung zuzuschreiben. Selbstverständlich werden die politischen Entscheidungen durch die Anhörung von Experten unterstützt. Aus Sicht des Arbeitsschutzes sollten die entsprechenden Hygienepläne und Infektionsschutzmaßnahmen möglichst einfach und klar formuliert werden. Eine erfolgreiche Umsetzung an den Schulen gelingt sicherlich deutlich besser, wenn die entsprechenden Vorgaben und Empfehlungen nicht in zu hoher Frequenz geändert werden, was jedoch bei dem aktuell sich rasch verändernden wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Corona und der Dynamik des Infektionsgeschehens durchaus schwierig ist.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Informationen zum Institut für Lehrergesundheit an der Universitätsmedizin in Mainz   finden Sie unter folgendem Link https://www.unimedizin-mainz.de/ifl/startseite.html

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