Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Aktuelle arbeitsmedizinische Beobachtungen aus Praxis, Medien und Wissenschaft

Erwerbstätigkeit von Frauen in Deutschland

Women‘s Employment in Germany – Current Occupational Health Observations from Practice, Media and Science

Einleitung

Aus der Perspektive der arbeitsmedizinischen Praxis ist die Betrachtung des Merkmals Geschlecht in Kombination mit der Lebensverlaufsperspektive interessant. Wie kommt es, dass heutzutage in Deutschland Frauen und Männer noch immer traditionelle rollenkonforme Berufe ergreifen, unterschiedlich verdienen und Altersarmut weiblich ist?

Wie lassen sich gleichzeitiges Ineinanderwirken gesellschaftlicher und individueller Erfahrungen beziehungsweise Kategorien, bezogen auf Geschlecht, soziale Schicht, rechtliche Rahmenbedingungen, Arbeitsmarkt, Sexualität und Alter, also Intersektionalität im Hinblick auf die Arbeit verstehen? Sind wir nicht mitten in einer rasanten Veränderung des Verhältnisses aller Geschlechter und ihrer gleichzeitigen Ablehnung? Wo findet sich praktikables Hintergrundwissen für das Fachgebiet Arbeitsmedizin? Der folgende persönliche Meinungsbeitrag aus jahrelanger arbeitsmedizinischer Beobachtung von Praxis, Medien und Wissenschaft soll schlaglichtartig zum Reflektieren und Diskutieren einladen.

Geschichtlicher Hintergrund

Beim Blick zurück in die Geschichte der Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern in Deutschland mit eigenem herkunftsbezogenen Fokus auf die westlichen Bundesländer sind in diesem Zusammenhang folgende Aspekte interessant:

In einer früheren Arbeitsteilung waren Frauen für den häuslichen Bereich, Kinder, Küche zuständig. Sie hatten ihre Aufgaben, spezifisches Wissen und Anerkennung, allerdings überwiegend verbunden mit dem Preis der ökonomischen Abhängigkeit von Männern meist in Form der Ehe. Die Männer sicherten durch externe Erwerbsarbeit ihr Leben und im Regelfall das ihrer Frauen und Familien. Die Geschlechter konkurrierten nicht um die gleichen Aufgaben am Arbeitsmarkt.

Zwar wurde die Gleichberechtigung in der BRD 1949 durch die Sozialdemokratin Elisabeth Seibert im Grundgesetz verankert, doch die Tariflöhne von Frauen waren bis zu 40 % niedriger als die der Männer. In den 70er Jahren wurden neben „Gastarbeitern“ zahlreiche Arbeitsmigrantinnen angeworben, die oft in der Textil-, Bekleidungs-, Nahrungsmittel- und Genussindustrie, häufig auch in der Elektrotechnik und der Eisen-/Metallindustrie mit entsprechend gesundheitsgefährdender Gefahrstoffexposition tätig waren (Mattes 2019). Auch dank ihres Einsatzes in Protestaktionen und „wilden“ Streiks wurden Frauenlohn-/Leichtlohngruppen später – 1988 – als mittelbare Diskriminierung vom Bundesarbeitsgericht untersagt. Im Urteil wird festgestellt, dass unter körperlich schwerer Arbeit auch solche Arbeit verstanden wird, die stehende Tätigkeiten, eine taktgebundene, sich wiederholende Arbeit mit nervlichen Belastungen oder Lärmexposition beinhaltet beziehungsweise eine bestimmte Körperhaltung erfordert (DGB-Frauen 2013).

All dies lässt sich anschaulich bei Gün Tank „Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter“ nachlesen, in dem sie die Gastarbeiterinnen, die Deutschland mit aufgebaut und verändert haben, sichtbar macht und würdigt (s. „Weitere Infos“).

Seit den 70er Jahren wurden patriarchale Strukturen zunehmend kritisch betrachtet. Das Modell des männlichen Familienernährers und der Hausfrau, vor allem der Mutter im postnationalsozialistischen Wertesystem weichte auf, begleitet von einer zunehmenden Technisierung des Haushalts, die den Arbeitsaufwand körperlich und zeitlich deutlich verringerte. Hinzu kamen verbesserte Möglichkeiten der sexuellen Selbstbestimmung aufgrund von rechtlichen und medizinischen Fortschritten bezogen auf die reproduktive Gesundheit mit Auswirkungen auf die Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben. Frauen bildeten sich extern fort, wurden ökonomisch unabhängiger, neue Familienmodelle entwickelten sich – und damit konkurrierten Frauen und Männern in der Erwerbsarbeit um die gleichen Jobs (Bischof-Köhler 2022).

Im Familienrecht waren bis in die 70er Jahre die Geschlechterrollen gesetzlich festgelegt. Auch nach der Eherechtsreform 1977 stand der Schutz der auf Erwerbstätigkeit verzichtenden Hausfrau und Mutter im Vordergrund. Dieses Arrangement war darauf angelegt, dass Frauen und Männer in lebenslanger Ehe verbunden bleiben (BMFSFJ 2013). Im Rechtssystem der DDR war es dagegen ein „historisch neuer Familientyp“ (Coester 1983), mit dem bereits 1949 das Gleichberechtigungsprinzip umfassend rechtlich verankert wurde und den weiblichen Lebensverlauf am Leitbild der „werktätigen Mutter“ ausrichtete.

Nach wie vor besteht weltweit ein unterschiedlich ausgeprägtes Gender-Pay-Gap zuungunsten von Frauen. Nach Odet Galor und Koautoren (2022) ist dieses geschlechtsspezifische Lohngefälle auf verschiedene Faktoren zurückzuführen:

  • die höhere Zahl von Männern in leitenden Positionen und in besser bezahlten Branchen
  • die negativen Auswirkungen der Elternzeit auf den beruflichen Aufstieg von Frauen und auf den Stundenlohn
  • unverhohlene Formen der Diskriminierung.
  • Arbeitsmarkt

    Horizontale Segregation

    Als horizontale Segregation des Arbeitsmarktes wird die ungleiche Verteilung von Frauen und Männern auf verschiedene Berufe/Berufsbereiche beschrieben.

    Das Berufswahlverhalten von Frauen und Männer hat sich in den letzten Jahrzehnten wenig verändert (➥ Abb. 1).

    Diese Unterschiede in der Berufswahl erklären einen großen Teil des Gender-Pay-Gap. Frauen wählen Berufe, die mit niedrigen Löhnen und geringen Aufstiegschancen verbunden sind. Hinzu kommt ein Selbst­selektionseffekt: Die Karrierechancen sinken,
    je höher der Frauenanteil im ausgeübten Beruf ist (➥ Abb. 2).

    Abb. 2:  Den höchsten Frauenanteil haben vor allem Berufe im Erziehungs- und Gesundheitswesen (Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2021; mod. nach Hammermann 2022)

    Abb. 2: Den höchsten Frauenanteil haben vor allem Berufe im Erziehungs- und Gesundheitswesen (Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2021; mod. nach Hammermann 2022)

    Vertikale Segregation

    Als vertikale Segregation des Arbeitsmarkts wird die ungleiche Verteilung der Geschlechter auf unterschiedliche berufliche Hierarchieebenen bezeichnet, die zum Teil auf unterschiedliche Chancen für den beruflichen Aufstieg zurückzuführen ist (➥ Abb. 3).

    Frauen in den neuen Bundesländern sind insgesamt stärker in leitenden Positionen vertreten. In größeren Betrieben sinkt der Anteil von Frauen in Leitungspositionen. Sehr deutlich ist die vertikale Segregation bei Teilzeitbeschäftigten.

    SAHGE-Berufe

    Diese Bezeichnung bildet eine neue gemeinsame Klammer, um Sorgeberufe auch begrifflich sichtbar zu machen (Meier-Gräwe 2018) und nennt Berufe, die in Deutschland größtenteils von Frauen ausgeübt werden:

    SA: Soziale Arbeit

    H: Haushaltsnahe Dienstleistungen

    G: Gesundheit, Pflege

    E: Erziehung

    Laut Bischof-Köhler sprechen phylogenetische Argumente für eine stärkere fürsorgliche Disposition beim weiblichen Geschlecht durch eine jahrtausendelange Rollenübernahme. Allerdings ist auch bei Männern über sozial-kognitive Mechanismen eine tieferreichende Verankerung der Fürsorgebereitschaft anzunehmen (Bischof-Köhler 2022).

    Abb. 3:  Vertikale Segregation des Arbeitsmarktes (Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2010; mod. nach Servicestelle der Initiative Klischeefrei 2021)

    Abb. 3: Vertikale Segregation des Arbeitsmarktes (Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2010; mod. nach Servicestelle der Initiative Klischeefrei 2021)

    Lebensverlaufsperspektive

    Im ersten 2013 veröffentlichten Gleichstellungsbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) „Neue Wege – Gleiche Chancen“ wird die Lebensverlaufsperspektive als Instrument zur Beschreibung von Erwerbsverläufen ausführlich vorgestellt. Wie in diesem Bericht ausgearbeitet, „unterbrechen Frauen immer noch häufiger und länger ihre Erwerbstätigkeit aus familiären Gründen als Männer und steigen weniger häufig in Führungspositionen auf, was allenfalls in Teilen durch unterschiedliche Präferenzen zu erklären ist. Vielmehr werden die unterschiedlichen Erwerbsverläufe von Frauen und Männern durch institutionelle Regelungen (Recht), durch die fehlende Verfügbarkeit sozialer Dienstleistungen (Zeitverwendung), durch Strukturen des Arbeitsmarktes, aber auch durch traditionelle Rollenbilder und Stereotype [...] geprägt“ (BMFSFJ 2013).

    Gender-Pay-Gap

    Überall in Europa verdienen Frauen weniger als Männer, in Deutschland beträgt die Entgeltlücke zurzeit 18 %. Neben der Segregation sind die Ursachen längere familienbedingte Erwerbsunterbrechungen und der anschließende Wiedereinstieg in Teilzeit und Minijobs: 47 % der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen arbeiten in Teilzeit, knapp 62 % der Minijobs werden von Frauen übernommen (BMFSFJ 2022). Minijobs haben keine Brückenfunktion in den ersten Arbeitsmarkt, durch sie werden minimale Rentenansprüche erworben und Altersarmut programmiert (➥ Abb. 4).

    Abb. 4:  Knotenpunkte und Phasen im Erwerbslebensverlauf (mod. nach BMFSFJ 2013)

    Abb. 4: Knotenpunkte und Phasen im Erwerbslebensverlauf (mod. nach BMFSFJ 2013)

    Erwerbs- und Sorgemodell

    Nach dem großen Erfolg des Ersten Gleichstellungsberichts wurde der Fokus des Zweiten Gleichstellungsberichts auf die Ausgestaltung der Lebensverlaufsperspektive durch das Erwerbs- und Sorgemodell gelegt. Angeregt durch Beispiele vor allem aus den skandinavischen Ländern wurden verschiedene Modelle von Erwerbs- und Sorgearbeit untersucht (Meier-Gräwe 2018, s. ➥ Abb. 5).

    Die Perspektiven für die Zukunft der Geschlechtergerechtigkeit und des wirtschaftlichen Erfolgs können nicht klar genug ausgesprochen werden. Sie wurden von Uta Meier-Gräwe auf der 3. Frauengesundheitskonferenz der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und des Bundesministeriums für Gesundheit (BGM) in Hannover 2018 prägnant und deutlich formuliert:

  • Eigenständige wirtschaftliche Sicherung von Frauen durch gleichberechtigte Integration in die Erwerbsarbeit
  • Eigenständige wirtschaftliche Sicherung von Frauen durch soziale Absicherung für unbezahlte Sorgearbeit
  • Eigenständige wirtschaftliche Sicherung von Frauen im Alter
  • Partnerschaftliche Geschlechterverhältnisse und Auflösung von Geschlechter­stereotypen, das heißt Vereinbarkeit von gutem Leben, Sorge- und -Erwerbsarbeit für alle Berufsgruppen
  • Aufwertung von Teilzeitarbeit mit dem Ziel der Gleichstellung von Voll- und Teilzeitarbeit
  • Abkehr von einer Orientierung an Familienernährer-, Zuverdienst- und Doppelvollzeitmodellen zugunsten des Erwerbs- und Sorgemodells (entspricht dem Earner-Carer-Modell von Nancy Fraser).
  • Jutta Allmendinger, Soziologin und langjährige Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, propagiert seit vielen Jahren ein Modell der kurzen Vollzeit von 28 bis 32 Stunden für Frauen und Männer und verweist unter anderem auf positive Erfahrungen in Skandinavien. Die Verkürzung der Arbeitszeit für Männer und Frauen ist seit Jahren ein Hauptanliegen der IG Metall; seit 2019 haben die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie ein tarifliches Recht auf verkürzte Vollzeit für einen Zeitraum von 6 bis 24 Monaten (IG Metall Juli 2018). Ina Praetorius und Uta Meier-Gräwe (2023) schlagen vor, unbezahlte Care-Arbeit im Bruttosozialprodukt abzubilden. In Zukunft müssten aus Sicht der Autorinnen Care-Leistungen über Digitalisierungsgewinne und Produktionsfortschritte mitfinanziert werden.

    Abb. 5:  Verschiedene Arrangements von Erwerbs- und Sorgearbeit in Paarbeziehungen (mod. nach Meier-Gräwe 2018)

    Abb. 5: Verschiedene Arrangements von Erwerbs- und Sorgearbeit in Paarbeziehungen (mod. nach Meier-Gräwe 2018)

    Kinderbetreuung

    Von der Politik, von den Erzieherinnen und Erziehern, von vielen Menschen werden Anstrengungen unternommen, berufstätigen Eltern und Alleinerziehenden gute Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder anzubieten. Am 1. März 2022 waren 35,5 % der unter Dreijährigen in Deutschland in Kindergärten betreut, von den Drei- bis Sechsjährigen beziehungsweise bis zum Schuleintritt waren es 92 % (Statistisches Bundesamt 2022). Nach wie vor übersteigt der Betreuungsbedarf das Angebot in allen Altersgruppen und noch ist nicht klar, wie der Rechtsanspruch auf eine Ganztagesbetreuung der Schulkinder ab 2026 umgesetzt werden kann.

    Fürsorge und Verantwortlichkeit im Detail

    Doris Bischof-Köhler (2022) widmet sich wissenschaftsbasiert der Frage, ob die Präferenz von Frauen, beziehungsorientierte Berufe zu wählen, vorwiegend Folge einer Jahrhunderte eingeübten Sozialisation ist oder ob geschlechtstypische Neigungen eine wesentliche Rolle spielen. Aus ihrer Sicht haben Letztere eine erheblich längere, Jahrmillionen alte Entstehungsgeschichte und lassen sich mit den Stichworten Fürsorglichkeit, Pflege, persönliche Beziehung, Verantwortung für das Wohlergehen und die seelische Verfassung anderer kennzeichnen.

    Bei Männern hat sich das Bild der „Brutpflegemotivation“ in den letzten Jahren verändert und wird intensiv erforscht. Neue Untersuchungen zeigen hormonelle Unterschiede bei Männern in Abhängigkeit von ihrer Rolle als Vater. Väter von Neugeborenen hatten einen signifikant niedrigeren Testosteronspiegel, wenn sie das Bedürfnis empfanden, das Baby zu halten, auf hungriges Schreien zu reagieren und die Windel zu wechseln (Bischof-Köhler 2022).

    Zusammenfassend verfügen beide Geschlechter über den Mechanismus der sozia­len Kognition, nämlich Empathie und Perspektivenübernahme (Bischof-Köhler 2022). Dies zeigte sich auch während der COVID-19-Pandemie. Zu Beginn waren alle Elternteile stark zu Hause engagiert, doch je länger die Pandemie dauerte, desto stärker zeigten sich die alten Muster: Frauen reduzierten ihre Arbeitszeiten und Einkommen zugunsten von Sorgearbeit von Kindern und Eltern. 45 % der Eltern wünschen sich eine partnerschaftliche Aufteilung bei der Kinderbetreuung, in der Realität übernehmen etwa 17 % der Eltern in gleichen Teilen die Kinderbetreuung bezogen auf Väter mit Kindern unter 10 Jahren (Allensbach 2021).

    Intersektionalität

    Basierend auf den Erfahrungen aus der eigenen arbeitsmedizinischen Praxis beantworten Frauen die Frage nach ihrer Berufsbiografie im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge – besonders nach einer familienbedingten Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit – häufig unspezifisch. Sie berichten, dass sie an der Kasse gearbeitet haben, in einem Reinigungsdienst oder als Haushaltshilfe und dass sie verschiedene Minijobs hatten. Auch wenn die Frauen einen oder zwei erlernte Berufe haben, werden diese oft nicht spontan erwähnt und müssen erfragt werden.

    Männer präsentieren sich hier häufig selbstbewusster. Sie zählen ihre Berufe und Qualifikationen auf, setzen ihre Fähigkeiten in Szene und kommunizieren in der Regel mit höherer Selbsteinschätzung.

    Arbeiten 4.0

    Mit dem Grünbuch Arbeit 4.0 „Herausforderung für die arbeitsmedizinische Versorgung der Zukunft“ der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) begann 2015 ein Dialogprozess zur Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Die Debatte darüber wurde 2016 im Weißbuch Arbeiten 4.0 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zusammengestellt. Der Arbeitsschutz 4.0 sucht die Anpassung an den digitalen Wandel im Rahmen der 4. industriellen Revolution.

    Der Dritte Gleichstellungsbericht „Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten“ aus dem Jahr 2021 entwickelt die Geschlechterfragen zeitgemäß weiter. In der Kurzfassung finden sich im Cartoonstil kluge und witzige Zusammenstellungen, die überraschend einfach komplizierte Botschaften mitteilen.

    ➥ Abb. 6 und ➥ Abb. 7 zeigen zwei Beispiele aus der Zusammenfassung des Gutachtens, die auch das nach COVID-19 heiß umkämpfte Thema Homeoffice beinhalten.

    Abb. 6:  Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit (aus Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2021, S. 44; © Ka Schmitz)

    Abb. 6: Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit (aus Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2021, S. 44; © Ka Schmitz)
    Abb. 7:  Geschlechtsbezogene digitale Gewalt (aus Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2021, S. 51; © Ka Schmitz)

    Abb. 7: Geschlechtsbezogene digitale Gewalt (aus Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2021, S. 51; © Ka Schmitz)

    Arbeits- und Gesundheitsschutz

    Im Jahr 2003 erschien ein ausführlicher Bericht über geschlechtsspezifische Fragen im Zusammenhang mit Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit in Europa (OSHA). Lange vor den in Deutschland üblichen Gefährdungsbeurteilungen werden hier Beispiele für Gefahren und Risiken in Tätigkeitsbereichen mit überwiegendem Frauenanteil beschrieben und auf den Punkt gebracht. Das Buch „ Geschlechterspezifische Aspekte der Sicherheit und des Gesundheitsschutz bei der Arbeit“ mit seinen beiden FACTS 42 „Geschlechtsspezifische Fragen im Zusammenhang mit Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit“ und FACT 43 „Die Berücksichtigung des Geschlechteraspektes bei der Risikoanalyse“ sind nach wie vor beeindruckend. Tabelle 1 stellt ein nachempfundenes schematisches Beispiel für den Bereich Reinigung dar.

    Berufskrankheit– ja oder nein?

    Die Berliner Beratungsstelle Berufskrankheiten unter Karin Wüst hat das Thema „Gleichberechtigung von Frauen in Berufskrankheitenverfahren?“ auf die Agenda gebracht. Die Verdachtsmeldung und Anerkennung von Berufskrankheiten differieren erheblich unter den Geschlechtern.

    Anerkannte Berufskrankheiten im Jahr 2019:

  • Männer 23.650 (67,1 %)
  • Frauen 11.614 (32,9 %)
  • Die Liste der BK-Erkrankungen (80 derzeit) berücksichtigt eher männerdominierte Berufe und deren Belastung und Beanspruchung: So sind zum Beispiel im Merkblatt zur BK Nr. 2112 „Gonarthrose“ als Beispiel für gefährdete Berufe Fliesen-, Boden-, Teppich- und Parkettleger, Maler, Schweißer, Gärtner und andere genannt.

    Nicht genannt sind Erzieherinnen, die am Arbeitsplatz besonders bei der Betreuung der unter Dreijährigen knien, hocken, kriechen und in den arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen häufig über Knie- und Rückenschmerzen klagen.

    Ähnlich ist es bei der BK Lärm Nr. 2301. Tätigkeiten in Gesundheits- oder Sozialberufen, in der Schule und in Kitas sind nicht gelistet. Teilweise ist die Studienlage in frauen­dominierten Berufen schlecht (Wüst 2021) beziehungsweise unzureichend, wie Ute Latza (2022) den Gender Bias am Beispiel sedentärer Arbeit in ihrem Vortrag Frauen­gesundheit, Regionalgruppe Dortmund DÄB 2022, thematisierte.

    Ihr Fazit des Gender Bias in der Arbeitswelt ist aus meiner Sicht präzise formuliert und wird hier stichwortartig wiedergegeben. Es werden vorrangig Männer betreffende Risiken im Sinn des Androzentrismus bearbeitet. Die arbeitsbedingten Belastungen in Frauenberufen werden oft unterschätzt, es gibt eine Vernachlässigung unbezahlter Sorge-/Pflegearbeit sowie doppelte Bewertungsmaßstäbe:

  • Geschlechterstereotype statt gesellschaftlicher Realitäten
  • Frauen und Männer sind keine homogenen Gruppen
  • soziale Ungleichheit wird ausgeblendet (Latza 2022).
  • Fazit

    Aus persönlicher Erfahrung in der arbeitsmedizinischen Beratung soll betont werden, wie leitend individuelle Motivation, Bedürfnisregulierung und geschlechtsspezifische Stereotype für die Berufswahl von Frauen sind. Es ist wichtig, sich anhand der Lebensverlaufsperspektive darüber klar zu werden, wie die eigene Berufswahl und Familienbildung – oder auch die Entscheidung für ein Leben ohne Beruf und/oder ohne Familie – schon früh und vor allem lebenslang wirksam sind. Gesellschaftliche Forderungen zur realen Gleichstellung von Frauen betreffen das Rechtssystem – zum Beispiel Stichwort Gender-Pay-Gap, Institutionen zur Care-Arbeit mit dem Angebot passender sozialer Dienstleistungen und die Strukturen des Arbeitsmarkts.

    Danksagung: Mein Dank gilt Ute Latza für das kollegiale Feedback und Corinna Wiemer für die grafische Unterstützung.

    Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

    Literatur

    doi:10.17147/asu-1-273028

    Bischof-Köhler D: Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede. 5. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer, 2022; S. 366–398.

    BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Weissbuch Arbeiten 4.0. Berlin: BMAS, 2017.

    BMFSJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Neue Wege – Gleiche Chancen; Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. In: Erster Gleichstellungsbericht. 4. Aufl. Berlin: BMFSJ, 2013, S. 58.

    BMFSJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Allensbacher Archiv IfD-Umfrage 8251. Väterreport update 2021; 8.

    BMFSJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Lohngerechtigkeit. Berlin: BMFSJ, 2022 (https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-und-arbeitswe…).

    Burghardt P: Gretchen Whitmer, US-Demokratin, Doppelsiegerin von Michigan. Süddeutsche Zeitung vom 15. November 2022; 263: 4.

    Coester M: Das Kindeswohl als Rechtsbegriff. Die richterliche Entscheidung über die elterliche Sorge beim Zerfall der Familiengemeinschaft. In: Caemmerer E, Jeschek H (Hrsg.): Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Band 114. Metzner: Frankfurt am Main, 1983; S. 12ff.

    DGAUM – Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V.: Arbeiten 4.0: Herausforderung für die arbeitsmedizinische Versorgung in der Zukunft (www.dgaum.de/fileadmin/pdf/Stellungnahmen_und_Positionspapiere/2017/DGA…).

    Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA): Geschlechterspezifische Aspekte der Sicherheit und des Gesundheitsschutz bei der Arbeit - eine zusammenfassende Darstellung. Bilbao: EU-OSHA 2006.

    Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz(EU-OSHA): Geschlechtsspezifische Fragen im Zusammenhang mit Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit. FACT 42, 43; 2003.

    Frauen im deutschen Gewerkschaftsbund (DGB-Frauen): Gleiches Geld für gleichwertige Arbeit. Berlin: Deutscher Gewerkschaftsbund Bundesvorstand, 10.10.2013 (https://frauen.dgb.de/++co++54aeb962-31c0-11e3-8336-00188b4dc422 – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023)

    Galor O, Jendricke B, Wollermann T: The Journey of Humanity – Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende. Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit. 2. Aufl. München: dtv Verlagsgesellschaft, 2022; S. 123–317.

    Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung: Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten. Das Gutachten für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung in Kürze. 2. Aufl. Berlin, 2021; S. 44.

    Hammermann A: Typische Männer- und Frauenberufe in Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft (iwd), 10.05.2022 (https://www.iwd.de/artikel/berufswahl-typisch-mann-typisch-frau-380726/ – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023).

    IG Metall Vorstand, FB Tarifpolitik, FB Kampagnen Juli 2018: Die Zeit nehme ich mir! (https://www.igmetall.de  – zuletzt abgerufen am 08.03.2023).

    Kammleiter N: Sag mal nein. In: Süddeutsche Zeitung, 01.09.2022 (https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/wissen/psychologie-arbeits… – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023).

    Kreye A: Der Jazz hat ein Frauenproblem. In: Süddeutsche Zeitung, 18.11.2022 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/terri-lyne-carrington-new-standards-… – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023).

    Latza U: Die Perspektiven der Arbeitsmedizin auf Frauengesundheit im Allgemeinen und Ärztinnen im Besonderen. Vortrag Regionalgruppe Dortmund DÄB vom 04.10.2022.

    Mattes M: „Gastarbeiterinnen" in der Bundesrepublik Deutschland in Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), 08.04.2019. (https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/289051/gas… – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023).

    Meier-Gräwe U: Frauen und Arbeit - die nächsten Schritte zu mehr Gesundheit. Ein Überblick. 3. Frauengesundheitskonferenz 2018, Vortrag Charts 26/27 (https://www.frauengesundheitsportal.de/fileadmin/user_upload/Frauengesu… – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023).

    Obertreis S: Fragen Sie öfter, bitten Sie um mehr. In: Frankfurter Allgemeine, 16.01.2023 (https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/karriere-kurs-fragen-si… – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023).

    Praetorius I, Meier-Gräwe U: UmCare – wie Sorgearbeit die Wirtschaft revoltiert. Ostfildern: Patmos, 2023.

    Servicestelle der Initiative Klischeefrei: Vertikale Segregation des Arbeitsmarkts in Klischeefrei Initiative zur Berufs- und Studienwahl, Juni 2021 (https://www.klischee-frei.de/de/klischeefrei-faktenblatt-vertikale-segr… – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023).

    Sigmund Freud Privatstiftung: Zitate. Wien: Sigmund Freud Museum (https://www.freud-museum.at/de/zitate – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023).

    Statistisches Bundesamt: Kindertragesbetreuung in Deutschland 21. Oktober 2022 (https://www.destatis.de).

    Tank G: Ein Leben im Akkord. In: Süddeutsche Zeitung, 29.11.2022 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/guen-tank-die-optimistinnen-kritik-g… – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023).

    Wüst K: Gleichberechtigung von Frauen im Berufskrankheitenverfahren? In: Arbeitsschutz digital, 16.06.2021 (https://arbeitsschutzdigital.de/ce/gleichberechtigung-von-frauen-im-ber… – zuletzt abgerufen am: 19.01.2023).

    Weitere Infos

    Mattes M: „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik Deutschland in Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), 2019
    https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/289051/gas…

    Tank G: Ein Leben im Akkord in Süddeutsche Zeitung, 29.11.2022
    https://www.sueddeutsche.de/kultur/guen-tank-die-optimistinnen-kritik-g…

    Wüst K: Gleichberechtigung von Frauen im Berufskrankheitenverfahren? Arbeitsschutz digital, 2021
    https://arbeitsschutzdigital.de/ce/gleichberechtigung-von-frauen-im-ber…

    Tabelle 1:  Risikoanalyse am Beispiel Reinigung (eigene Darstellung)

    Tabelle 1: Risikoanalyse am Beispiel Reinigung (eigene Darstellung)

    Kernaussagen

  • Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist eine der zentralen Herausforderungen, um das Leben zukunftsfähig und gerecht zu gestalten.
  • Dafür müssen alle Menschen auf dem gesamten Lebensweg die gleichen Chancen erhalten – persönlich, beruflich und familiär.
  • Die Arbeitsmedizin kann einen bedeutenden Beitrag für den Erhalt und die Förderung von Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit leisten.
  • Dabei sollte auch im Hinblick auf den digitalen Wandel der Arbeitswelt der Fokus auf ­Frauengesundheit und soziale Gerechtigkeit gestärkt werden.
  • Exkurs

    Wie geht ein „Nein“ in einer konstruktiven Auseinandersetzung?

    Erfahrungsgemäß fällt vielen Frauen berufliches „Nein“-Sagen schwer. Vier Wissenschaftlerinnen aus den USA und Australien haben sich auf ein „Jahr des Nein“ geeinigt und 100-mal innerhalb eines Jahres Nein zu Projekten, Vorträgen oder anderen beruflichen Anfragen gesagt. Nach Einschätzung der Rechtswissenschaftlerin Rebecca Nelson sind Frauen kulturell geprägt, anderen entgegenzukommen. Damit können Forderungen schwerer abgewehrt werden, da es als wünschenswert angesehen wird, allen ständig so viel wie möglich zu helfen. Nach ihrer Erfahrung wird der emotionale Aspekt des Neinsagens oft unterschätzt. Sie empfiehlt, bewusst „Nein“ zu sagen und das „Nein“ immer wieder zu üben – auch mit Standardformulierungen. So kann bei den Projekten, bei denen „Ja“ gesagt wird, auch gute Arbeit geleistet werden und es gibt Platz im Leben für andere Dinge als Arbeit (Kammleiter 2022).

    Ähnliches berichtet Zoe Chance, die den beliebtesten BWL-Kurs an der Universität Yale hält. Dabei geht es um Kompetenzerwerb für Erfolg im Beruf. Da es Frauen oft schwerer fällt als Männern „Nein“ zu sagen, muss folgende Aufgabe übernommen werden: 24 Stunden sollen die Studierenden zu jeder Person, die sie um etwas bittet, mindestens einmal „Nein“ sagen. Dabei lernen die Studierenden, dass sie alle überleben, das „Nein“ oft nicht persönlich gemeint ist und dazu führt, dass die Studierenden selbst nach Dingen fragen können, ohne bedürftig zu wirken oder ihr Gegenüber unter Druck zu setzen. Nur wenn man das kann, gewinnt man an Durchsetzungskraft, so Zoe Chance an der Yale School of Management (Obertreis 2023).

    Die Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington kämpft mit ihrem Institut of Jazz and Gender Justice für einen „Jazz ohne Patriarchat“. Im „Real Book“, einem der Standardwerke des Jazz, gibt es eine einzige Komposition einer Frau – „Willow weep for me“ von Ann Ronell – in einer Sammlung von vier Bänden mit je 400 Stücken. Das möchte sie ändern und verlegt ihre Notenblattsammlung unter „New Standards – 101 Lead Sheets by Women Composers“.

    Sie beschreibt, warum nur etwa 5 % der Frauen vom Jazz leben können und gewährt Einblick in ihr Inneres. Wenn sie mit Männern spiele, ertappe sie sich heute noch bei nagenden Zweifeln, nicht gut genug, nicht laut genug, nicht cool genug zu sein. Dies sei ihr erst aufgefallen, als sie mit der Pianistin Geri Allen und der Bassistin Esperanza Spalding im Trio auf Tour ging und die Zweifel plötzlich weg waren (Kreye 2022).

    Kontakt

    Dr. Christine Kallenberg
    Ärztin für Arbeitsmedizin, CDMP; Bauernreihe 62; 21709 Burweg

    Foto: Lauterwasser/Überlingen

    Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen