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Eine epidemiologische Fall-Kontroll-Studie

Hand-Arm-Vibrationsdosis und arbeitstechnische Voraussetzungen für die Berufskrankheit Nr. 2103

Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

Y. Sun1, F. Bochmann1

J. Dohlich2, W. Eckert3

B. Ernst1, C. Freitag1

U. Kaulbars1,4, U. Nigmann2

N. Raffler1, C. Samel1

C. van den Berg5

(eingegangen am 22.01.2024, angenommen am 03.04.2024)

Hand-arm vibration dose and work-related requirements for occupational disease no. 2103 – An epidemiological case-control study

Background: An epidemiological case-control study of dose-effect relationships between hand-arm vibration exposure and musculoskeletal disorders of occupational disease no. 2103 (BK 2103) was carried out in order to provide evidence-based recommendations for the recognition of BK 2103.

Methods: Male cases and controls were recruited and standardised personal interviews were conducted between 1 January 2010 and 30 November 2021. In addition to leisure activities and comorbidities, work histories regarding the use of hand-operated and hand-held technical tools that can induce hand-arm vibrations were recorded in detail. To quantify the individual vibration exposure, a database of industrial hygiene measurements of vibration values of over 700 technical power tools was established (vibration register). The vibration measurements recorded in the database allows quantification of the daily dose and lifetime dose of the vibration exposure. The dose-effect relationships between hand-arm vibration exposure and musculoskeletal disorders as defined by BK 2103 were quantified for the various dose models using conditional logistic regression analyses.

Results: In total, 209 cases and 614 controls were recruited. Compared to controls, cases suffered more frequently from gout, arm fractures, hip osteoarthritis, knee osteoarthritis, spinal osteoarthritis and trauma injuries or inflammatory conditions of the finger, elbow and shoulder joints. After adjusting for relevant confounders, the study analyses demonstrate consistent and statistically significant dose-effect relationships between hand-arm vibration exposure and musculoskeletal disorders as defined by BK 2103. A vibration dose of Dhv = 142.331 m2/s4 x day or Dhw = 38.724 m2/s4 x day is associated with a doubling of the risk of musculoskeletal disorders of the upper extremities as defined by BK 2103.

Conclusions: These dose values serve as a guide and could also be applied in an assessment of the work-related requirements for the recognition of BK 2103. Sensitivity analyses indicate that an exposure duration with a defined threshold daily dose is not suitable for guiding the recognition of BK 2103.

Keywords: hand-arm vibration – musculoskeletal disorders – dose-effect relationship – epidemiology – risk-doubling dose

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2024; 59: 322–330

doi:10.17147/asu-1-357446

Hand-Arm-Vibrationsdosis und arbeitstechnische Voraussetzungen für die Berufskrankheit Nr. 2103 – Eine epidemiologische Fall-Kontroll-Studie

Hintergrund: Zur Erarbeitung wissenschaftlich begründeter Orientierungswerte für das Feststellungsverfahren zur Berufskrankheit Nr. 2103 (BK 2103) wurde eine epidemiologische Fall-Kontroll-Studie zu Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen Hand-Arm-Vibrationsbelastungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen im Sinne der BK 2103 durchgeführt.

Methode: Im Zeitraum vom 01.01.2010 bis 30.11.2021 wurden männliche Fälle und Kontrollen rekrutiert. Dabei wurden standardisierte Fragebogen­erhebungen durchgeführt. Neben Freizeitaktivitäten und Komorbiditäten wurde Arbeitshistorie hinsichtlich der Nutzung handgeführter und handgehaltener technischer Werkzeuge, die Hand-Arm-Vibrationen verursachen können, detailliert erhoben. Zur Quantifizierung der individuellen Vibrationsbelastung wurde eine Datenbank (Vibrationskataster) aufgebaut, in der die Vibrationsmessungen von über 700 Geräten erfasst wurden. Die in der Datenbank erfassten Vibrationsmesswerte ermöglichen die Berechnung der Tagesdosis sowie der Lebenszeitdosis der Vibrationsbelastungen. Die Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen Vibrationsbelastungen und muskuloskelettalen Erkrankungen im Sinne der BK 2103 wurden für die verschiedenen Dosismodelle mittels konditionaler logistischer Regressionsanalyse ermittelt.

Ergebnisse: Insgesamt wurden 209 Fälle und 614 Kontrollen für die Studie rekrutiert. Im Vergleich zu den Kontrollen litten die Fälle häufiger an Gicht, Armfrakturen, Hüftarthrose, Kniearthrose, Wirbelsäulenarthrose sowie Traumata oder entzündlichen Erkrankungen der Finger-, Ellenbogen- und Schultergelenke. Nach Adjustierung von relevanten Konfoundern zeigen die Studienanalysen konsistente und statistisch signifikante Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen Hand-Arm-Vibrationsbelastungen und muskuloskelettalen Erkrankungen im Sinne der BK 2103. Eine Lebenszeitdosis von Dhv ≥ 142.331 m2/s4 x Tage beziehungsweise Dhw ≥ 38.724 m2/s4 x Tage führt zu einer Verdoppelung des Risikos für muskuloskelettale Erkrankungen im Sinne der BK 2103.

Schlussfolgerungen: Diese Dosiswerte geben eine Orientierung und könnten gegebenenfalls auch zur Beurteilung der arbeitstechnischen Voraussetzungen für das Feststellungsverfahren der BK 2103 herangezogen werden. Sensitivitätsanalysen zeigen, dass die Expositionsdauer mit einer festgelegten Tagesdosis als Schwellenwert nicht geeignet ist, um die BK 2103 zu bearbeiten.

Schlüsselwörter: Hand-Arm-Vibration – BK 2103 – epidemiologische Studie – Dosis-Wirkungs-Beziehung – Risikoverdopplungsdosis

Hintergrund

Hand-Arm-Vibrationen sind mechanische Schwingungen, die durch von Hand geführte oder gehaltene technische Werkzeuge, Geräte oder Maschinen hervorgerufen werden. Langjährige Belastungen durch Hand-Arm-Vibrationen können pathologische Veränderungen an den Gelenken und Knochen des Hand-Arm-Schulter-Systems oder Durchblutungsstörungen beziehungsweise Nervenschädigungen verursachen, die international als „Hand-Arm-Vibrationssyndrome (HAV-Syndrome)“ bezeichnet werden (Bovenzi 2006; Hagberg 2002; House et al. 2009; Youakim 2009). Zu den HAV-Syndromen gehören in Deutschland auch Erkrankungen, die den zwei Berufskrankheiten (BK) mit den Nummern 2103 (BK 2103) und 2104 (BK 2104) der Liste der anerkannten Berufskrankheiten zugeordnet werden können. Darunter bezieht sich die BK 2103 auf sechs Muskel-Skelett-Erkrankungen des Hand-Arm-Schulter-Systems (Merkblatt BK 2103).

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen empirische Beobachtungen, dass insbesondere bei Bergleuten, die mit handgehaltenen oder handgeführten Drucklufthämmern arbeiten, ein gehäuftes vorzeitiges Auftreten von degenerativen Gelenkerkrankungen des Hand-Arm-Systems auftritt (Dupuis et al. 1999). Diese berufsbedingten Erkrankungen wurden im Rahmen der zweiten Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) vom 11.02.1929 in die BK-Liste aufgenommen (Dupuis et al. 1999). Vibrationsbelastung als kausale Ursache für diese Berufskrankheit wurde erst mit der Veröffentlichung der vierten BKV vom 29.01.1943 genannt (Dupuis et al. 1999). Mit der siebten BKV beziehungsweise der Änderungsverordnung zur siebten BKV vom 08.12.1976 erhielt diese Berufskrankheit die aktuelle BK-Nr. 2103 (Dupuis et al. 1999).

Schwierigkeiten bei der Bearbeitung beziehungsweise Anerkennung der BK 2103 bereitet häufig die Beurteilung des Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen. Aufgrund fehlender epidemiologischer Untersuchungen zur Dosis-Wirkungs-Beziehung gibt es bisher keine evidenzbasierte Grundlage zur Beurteilung der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung der BK 2103. Als konservative Lösung dieses Problems wurde bisher die arbeitstechnische Voraussetzung für die BK-Bearbeitung an dem in der BKV festgelegten „Auslösewert Prävention“ orientiert. Dies entspricht einer Beurteilungsbeschleunigung von ahw(8) ≥ 2,5 m/s2 bei einer Mindesteinwirkungsdauer von zwei Jahren. Diese konservative Lösung hat ein grundlegendes methodisches Problem, da sie ohne Berücksichtigung eines Basisrisikos für muskuloskelettalen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung zu einer sehr hohen Fehlerquote bei der BK-Anerkennung führt (dies wird im folgenden Abschnitt genau erläutert). Genau aus diesem Grund hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg in einem Rechtsstreit zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2103 (L 10 U 3338/95 vom 13.03.1997) folgende Aussage getroffen (Dupuis et al. 1998):

„Es reicht nicht aus, dass ein Grenzwert, ab dem Gesundheitsschäden überhaupt erst auftreten können, überschritten ist; es muss dies vielmehr in einem Maße geschehen, […] das Maß an Gefährdung vorliegt, dass aus arbeitsmedizinischer und wissenschaftlicher Sicht Anlass gegeben hat, eine solche Regelung einzuführen und damit eine „generelle Wahrscheinlichkeit“ zu bejahen.“

Das Gerichtsurteil fordert daher eine evidenzbasierte Ableitung der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung der BK 2103, um die Fehlerquote bei der BK-Anerkennung möglichst gering zu halten. Aus epidemiologisch-methodischer Sicht ist die Ableitung der Risikoverdopplungsdosis hierfür die beste Empfehlung (Berufskrankheitenrecht 2016; Berufskrankheiten-Verordnung 2006).

Um den Kenntnisstand über den Zusammenhang zwischen Vibrationseinwirkungen auf das Hand-Arm-Schulter-System und den in der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) zur BK 2103 beschriebenen Muskel-Skelett-Erkrankungen zu verbessern und die Lücke im ärztlichen Merkblatt zur BK 2103 zur Frage der Langzeitdosis zu schließen, wurde eine multizentrische epidemiologische Fall-Kontroll-Studie durchgeführt.

Allgemein epidemiologische Grundlage zur BK- Anerkennung und Ansatz der Risikoverdopplungsdosis

Bei der BK-Frage wird vorausgesetzt, dass es einen Kausalzusammenhang zwischen einer Exposition und einer Erkrankung gibt. Gesundheitsschäden können auftreten, wenn die Exposition einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Dieser Schwellenwert wird in der Regel als „Auslösewert“ für die „Prävention“ verwendet, da sich Gesundheitsschäden vermeiden lassen, wenn dieser Schwellenwert eingehalten wird. Dieser Schwellenwert ist jedoch für die Klärung der BK-Frage nicht geeignet, obwohl er bisher als Orientierung für das Feststellungsverfahren zur BK 2103 herangezogen wurde (Dupuis et al. 1998). Um diese Problematik zu verdeutlichen, wurde ➥ Abb. 1 erstellt.

In Abb. 1 ist beispielhaft eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen einer Exposition und einem Erkrankungsrisiko dargestellt. Auf der x-Achse ist die Expositionsdosis aufgetragen, auf der y-Achse das relative Risiko (RR). Die Dosis-Wirkungs-Kurve zeigt, dass das Erkrankungsrisiko (RR) mit zunehmender Exposition stetig ansteigt, wobei der Kurvenverlauf im oberen Expositionsbereich aufgrund eines „healthy worker effect“ (Exposition = ca. 10) realistischerweise leicht abfällt und danach wieder ansteigt.

In der Abb. 1 sind drei Szenarien (A, B und C) dargestellt. Szenario A beschreibt eine Stichprobe von 24 Personen ohne Exposition. Davon sind sechs Personen erkrankt. Diese sechs Personen stellen ein Basisrisiko (25 %) dar. Das heißt, auch ohne Exposition gibt es erkrankte Personen (z. B. Muskel-Skelett-Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung). Steigende Exposition führt zu Szenario B, bei dem alle Personen die Expositionsdosis E1 erhalten. Bei dieser Exposition tritt aufgrund der beruflichen Exposition eine weitere erkrankte Person auf (s. Abb. 1). Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Person nicht erkranken würde, wenn die Expositionsdosis E1 nicht überschritten würde. Daher kann E1 als „Auslösewert“ für die „Prävention“ bezeichnet werden. E1 ist jedoch nicht geeignet, um die Frage nach dem Vorliegen einer BK zu beantworten. Denn wenn E1 für die Anerkennung einer BK herangezogen wird, müssen alle sieben Erkrankten entschädigt werden, obwohl nur eine Person durch die berufliche Exposition erkrankt ist. In diesem Fall ergibt sich eine Fehlerquote bei der BK-Anerkennung von etwa 86 %.

Aus methodischen Überlegungen ist der Schwellenwert für die Anerkennung einer BK so zu optimieren, dass die Fehlerquote bei der Anerkennung einer BK so gering wie möglich gehalten wird (≤ 50 %). Daraus ergibt sich das Szenario C, bei dem alle Personen die Expositionsdosis E2 erhalten. Bei dieser Exposition treten sechs Erkrankte aufgrund der beruflichen Exposition auf (s. Abb. 1). Wird E2 zur Anerkennung einer BK herangezogen, erhalten alle 12 Erkrankten eine Entschädigung (Fehlerquote 50 %). Da das RR für E2 genau 2 beträgt, wird E2 als „Risikoverdopplungsdosis“ bezeichnet. Theoretisch ist jeder andere Schwellenwert (für die BK-Bearbeitung) als die Risikoverdopplungsdosis mit einer höheren Fehlerquote
bei der BK-Erkennung verbunden. Aus diesem methodischen Grund wird die Risikoverdopplungsdosis häufig als Schwellenwert für die Anerkennung einer BK empfohlen (Berufskrankheitenrecht 2016; Berufskrankheiten-Verordnung 2006; Merkblatt BK 4114).

In der epidemiologischen Forschung wird häufig versucht, die Dosis-Wirkungs-Beziehung abzuleiten (sofern die Daten dies zulassen), um E1 (für die Prävention) und E2 (für die Anerkennung von BK) abschätzen zu können.

Methoden

Design und Studienpopulation

Es handelt sich um eine multizentrische epidemiologische Fall-Kontroll-Studie mit Beteiligung der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU), der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI), der Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) und des Instituts für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA). Das Design ist eine industriebasierte Fall-Kontroll-Studie, wobei die Basispopulation alle Beschäftigten, der bei den beteiligten Unfallversicherungsträgern versicherten Betriebe umfasst. Die Fälle und Kontrollen werden folgendermaßen definiert:

  • Fälle: Männliche neue Verdachtsmeldungen zur BK 2103 bei den beteiligten BGen. Um die Diagnosesicherheit zu gewährleisten, beschränkten sich die Fälle nur auf die von den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten (Haus-, Fachärztinnen/-ärzte oder Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner) gemeldeten Fälle.
  • Kontrolle: Zufallsstichproben aller meldepflichtigen Arbeitsunfälle von Männern, die in der Zeit vom 01.01.2010 bis zum 31.03.2019 bei den entsprechenden BGen neu erfasst wurden (1 : 3 gematcht nach Geburtsjahren und BGen).
  • Da es kaum Verdachtsfälle bei Frauen gibt, beschränkt sich die Studie nur auf Männer. In Anlehnung an das Merkblatt zur BK 2103 beziehen sich die Fälle auf die folgenden sechs Erkrankungsbilder:

  • Osteoarthrose (OA) an den Handgelenken,
  • OA an den Ellenbogengelenken,
  • OA an den Schultergelenken,
  • Mondbeinnekrose (Kienböck-Krankheit),
  • Ermüdungsbruch des Kahnbeins beziehungsweise Kahnbeinpseudoarthrose,
  • Osteochondrose an den Ellenbogen­gelenken.
  • Um die Diagnosesicherheit der Fälle zu überprüfen beziehungsweise zu verbessern, wurde eine Validierungsstudie bei allen Verdachtsfällen, die freiwillig an einer röntgenologischen Untersuchung teilnehmen wollten, durchgeführt. Die Diagnosesicherheit der Verdachtsfälle wurde auf Basis standardisierter Kriterien von dem niedergelassenen Orthopäden beziehungsweise Arbeitsmediziner überprüft. Personen mit einer Verdachtsdiagnose, die nicht den Erkrankungsbildern im Merkblatt zur BK 2103 entspricht, wurden von der Studie ausgeschlossen.

    Tabelle 1:  Deskriptive Beschreibung der StudienpopulationTable 1: Description of the study population

    Tabelle 1: Deskriptive Beschreibung der Studienpopulation
    Table 1: Description of the study population

    Standardisierte Datenerhebung

    Die standardisierte Datenerhebung erfolgte über ein persönliches Interview. Das Interview wurde von geschulten Aufsichtspersonen und Berufskrankheiten-Ermittelden der jeweiligen BGen durchgeführt. Die Daten wurden mit Hilfe einer Erhebungssoftware erfasst. Neben allgemeinen Angaben, Freizeit und Sport, Gelenkbeschwerden und Komorbiditäten wurde die individuelle Arbeitshistorie detailliert ermittelt. Dabei wurden alle im Berufsleben verwendeten Werkzeuge und Geräte, die Hand-Arm-Vibrationen hervorrufen können, umfassend erfasst (Gerätebezeichnung, Arbeitsmaterial und Vorgang, Häufigkeit und Dauer der Nutzung etc.).

    Aufbau eines Vibrationskatasters und Expositionsermittlung

    Neben der detaillierten retrospektiven Erfassung individueller Arbeitshistorien und verwendeter Geräte über das gesamte Berufsleben wurde ein Vibrationskataster aufgebaut, in dem die Vibrationsmessdaten der verschiedenen Geräte erfasst wurden.

    Das Vibrationskataster ist eine Vibrationsdatenbank, die seit den 1980er Jahren vom IFA entwickelt und im Verlauf der Jahre beziehungsweise im Rahmen dieser Studie ständig erweitert wurde. Diese Datenbank enthält mehr als 700 technische Werkzeuge und Geräte. Die Schwingungskennwerte dieser Geräte wurden standardisiert nach den Mess- und Bewertungsverfahren der VDI 2057-2 ermittelt. Die Belastungswerte basieren mehrheitlich auf betrieblichen Messungen, die unter den vorgefundenen Arbeits- und Betriebsbedingungen ermittelt wurden und typisch für die Verwendung der Geräte sind. Dabei wurden gebrauchte und funktionsfähige Geräte von den Betrieben zur Verfügung gestellt. Nur in Fällen, in denen keine vergleichbaren Messwerte von vergleichbaren Geräten zur Verfügung standen, wurden Messergebnisse von Labormessung oder simulierten Belastungen herangezogen. Hierbei wurden neben Hersteller und Typ des Geräts die genauen Arbeitsvorgänge und -materialien berücksichtigt. Zu den Schwingungskennwerten wurde eine Reihe von technischen Daten der Geräte wie Baujahr, Gewicht, Leistung, Drehzahl, Antriebsart etc. soweit möglich in das Vibrationskataster aufgenommen. Durch eine Verbindung des Vibrationskatasters mit den verwendeten Geräten des Studienkollektivs wurden die Vibrationsbelastungen für jede in die Studie einbezogene Person ermittelt. Die individuelle Vibrationsbelastung wurde für die Tagesdosis beziehungsweise die Lebenszeitdosis wie folgt quantifiziert:

    Berechnung der Tagesdosis (VDI 2057):

    ahv(8): Vibrationstagesdosis aller drei Messrichtungen

    ahw(8): Vibrationstagesdosis in Unterarmrichtung

    T0: Tägliche Arbeitszeit (8 Stunden)

    Ti: Tägliche Arbeitszeit mit Gerät i

    ahvi: Schwingungsgesamtwert aller drei Messrichtungen des Geräts i

    ahwi: Schwingungswert des Geräts i in Unterarmrichtung

    n: Anzahl Geräte

    Berechnung der Lebenszeitdosis:

    Dhv = Vibrationslebenszeitdosis aller drei Messrichtungen

    Dhw = Vibrationslebenszeitdosis in Unterarmrichtung

    ahvi(8) = Vibrationstagesdosis aller drei Messrichtungen am Tag i

    ahwi(8) = Vibrationstagesdosis in Unterarmrichtung am Tag i

    di = Anzahl Tage mit der Vibrationstagesdosis von ahvi(8) (ahwi(8))

    Statistische Auswertungen

    Als statistische Verfahren wurden neben der deskriptiven Beschreibung des Studienkollektivs (Häufigkeit, Mittelwert, Standardabweichung [SD], Median und Wertebereiche) induktive Statistik und multivariable Regressionsanalysen durchgeführt. Die Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen Hand-Arm-Vibrationsbelastungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen im Sinne der BK 2103 wurden mittels konditionaler logistischer Regressionen ermittelt. Dabei wurden folgende mögliche Störfaktoren (Konfounder) berücksichtigt: Body-Mass-Index (BMI), Gicht, Rheuma, Armfrakturen, Traumata beziehungsweise entzündliche Gelenkerkrankungen an den Hand-, Ellenbogen- und Schultergelenken und generalisierte Form von OA.

    Um die relevanten Konfounder im Modell effizient zu berücksichtigen, wurde zuerst eine schrittweise Rückwärtsprüfung vorgenommen – das heißt, die potenziellen Störfaktoren werden schrittweise vom Vollmodell ausgenommen. Wenn sich die Effektschätzer der Exposition (OR) durch den Ausschluss eines Störfaktors um 10 % veränderten, wurden diese Störfaktoren als relevante Konfounder im Modell berücksichtigt.

    Alle Analysen wurden mit dem Softwarepakt SAS 9.4 durchgeführt.

    Ergebnisse

    Die Rekrutierung von Fällen und Kontrollen sowie eine deskriptive Beschreibung des Studienkollektivs wurden bereits an anderer Stelle publiziert (Sun et al. 2023). Zusammenfassend wurden 209 Fälle und 613 Kontrollen für die Studie rekrutiert. Die Teilnahmequote liegt bei den Fällen bei 66 % und bei den Kontrollen bei 20 %. Erwartungsgemäß wiesen die Fälle und Kontrollen die gleiche Altersverteilung mit einem durchschnittlichen Alter von ca. 52 Jahren (22–84 Jahre) auf. Die Validierungsstudie zur diagnostischen Sicherheit der Fälle zeigt, dass etwa 7,7% der in die Studie aufgenommenen Fälle falsch diagnostiziert wurden, obwohl alle Fälle muskuloskelettale Symptome aufwiesen. Es gab keine Unterschiede zwischen den Fällen und den Kontrollen in Bezug auf das Alter, den BMI und die Nationalität. Allerdings waren muskuloskelettale Komorbiditäten bei den Fällen deutlich häufiger als bei den Kontrollen (➥ Tabelle 1). Im Vergleich zu den Kontrollen leiden die Personen häufiger an Gicht, Armfraktur, Hüfte-OA, Knie-OA, Wirbelsäulen-OA sowie Traumata und entzündlichen Erkrankungen der Finger-, Ellenbogen- und Schultergelenke.

    Die Arbeitshistorien des Studienkollektivs umfassten insgesamt 5115 Expositionsabschnitte (➥ Tabelle 2). Ein Expositionsabschnitt ist eine Exposition gegenüber einem bestimmten Gerät unter bestimmen Arbeitsbedingungen (Zeit, Arbeitsvorgang und Material). Die Beschäftigungsdauer war bei den Fällen (durchschnittlich 25 Jahre) und den Kontrollen (durchschnittlich 24 Jahre) fast gleich. Allerdings waren die kumulativen Arbeitsstunden mit Hand-Arm-Vibrationen bei den Fällen um ca. 30 % höher als bei den Kontrollen (s. Tabelle 2). Dies führt dazu, dass sowohl die Vibrationstagesdosen (ahv(8) und ahw(8)) als auch die Vibrationslebenszeitdosen (Dhv und Dhw) bei den Fällen deutlich höher (um ca. 23–51 %) sind als bei den Kontrollen (s. Tabelle 2). Dies gilt auch für die Expositionsdauer mit einer Tagesdosis von ahw(8) > 2,5 m/s2 als Schwellenwert für das aktuelle BK-Feststellungsverfahren.

    Tabelle 2:  Hand-Arm-Vibrationsbelastungen bei den Fällen und KontrollenTable 2: Hand-arm-vibration exposure among the cases and controls

    Tabelle 2: Hand-Arm-Vibrationsbelastungen bei den Fällen und Kontrollen
    Table 2: Hand-arm-vibration exposure among the cases and controls
    Tabelle 3:  Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen kumulativen Vibrationsbelastungen (Dhv, Dhv-Werte sowie Anzahl Tage mit ahw(8) > 2,5 m/s2) und Muskel-Skelett-Erkrankungen im Sinne der BK 2103Table 3: Dose-response-relationship between cumulative vibration exposure (Dhv, Dhv values and number of days with ahw(8) > 2,5 m/s2) and musculoskeletal disorders as defined by occupational disease Nr. 2103

    Tabelle 3: Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen kumulativen Vibrationsbelastungen (Dhv, Dhv-Werte sowie Anzahl Tage mit ahw(8) > 2,5 m/s2) und Muskel-Skelett-Erkrankungen im Sinne der BK 2103
    Table 3: Dose-response-relationship between cumulative vibration exposure (Dhv, Dhv values and number of days with ahw(8) > 2,5 m/s2) and musculoskeletal disorders as defined by occupational disease Nr. 2103

    Die Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen Hand-Arm-Vibra­tionsbelastungen und muskuloskelettalen Erkrankungen im Sinne der BK 2103 sind in ➥ Tabelle 3 jeweils für die Lebenszeitdosen Dhv, Dhw und die Expositionsdauer (mit einer Tagesdosis von ahw(8) > 2,5 m/s2
    als Schwellenwert) dargestellt. Nach Adjustierung von relevanten Konfoundern zeigen die Regressionsanalysen konsistente und statistisch signifikante Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen Hand-Arm-Vibrationsbelastungen und muskuloskelettalen Erkrankungen im Sinne der BK 2103.

    Aus den ermittelten Dosis-Wirkungs-Beziehungen wurden für verschiedene Dosiswerte (Dhv, Dhw und Expositionsdauer mit ahw(8) > 2,5 m/s2) glatte Dosis-Wirkungs-Kurven abgeleitet. Entsprechend der exponentiellen Funktion des logistischen Regressionsmodells wurde angenommen, dass die Dosis-Wirkungs-Beziehungen der fünf Expositionskategorien log-lineare Verläufe darstellen (s. Tabelle 3). Zur Quantifizierung der statistischen Parameter dieser Verläufe wurden die Medianwerte jeder Expositionskategorie verwendet, wobei die letzte Expositionskategorie in den Berechnungen nicht berücksichtigt wurde. Die Wertebereiche der letzten Expositionskategorie waren zu groß und stellten in der Regel einen Ausreißer dar. Die abgeleiteten Dosis-Wirkungs-Kurven für die verschiedenen Dosismodelle sind in ➥ Abb. 2 dargestellt. Die Varianzerklärung der abgeschätzten log-linearen Korrelation zwischen der Expositionsdosis und OR betrug R2 = 0,8953, 0,9405 und 0,9920 jeweils für Dhv, Dhw und die Expositionsdauer mit ahw(8) > 2,5 m/s2.

    Auf der Grundlage der Dosis-Wirkungs-Kurven wurden die Vibrationsdosen abgeschätzt, die zu einer Erhöhung des Risikos für muskuloskelettale Erkrankungen im Sinne der BK 2103 um 10 %, 30 % und zu einer Risikoverdopplung führen (s. Tabelle 4). Die abgeschätzte Risikoverdopplungsdosis beträgt für Dhv, Dhw und die Expositionsdauer (mit einer Tagesdosis von ahw(8) > 2,5 m/s2 als Schwellenwert) jeweils 142.331 m2/s4 x Tage, 38.724 m2/s4 x Tage und 1596 Tage. Um besser zu verstehen, was diese Dosiswerte in der Praxis bedeuten, wird folgendes Beispiel gegeben. Angenommen, ein Arbeitnehmer benutzt an einem achtstündigen Arbeitstag eine Stunde lang einen Bohrhammer (ahv = 12 m/s2  entspricht ahw = 10 m/s2) und eine Stunde lang eine Fräse (ahv = 7 m/s² entspricht ahw = 5 m/s2). Er erhält dann eine Vibrations­tagesdosis von

    Um die geschätzte Risikoverdopplungsdosis von Dhw = 38.724 m2/s4 zu erreichen, muss der Person mit dieser Vibrationstagesdosis 38.724/3,952 = 2482 Tage (11,3 Jahre) arbeiten.

    Zum besseren Verständnis der abgeschätzten Dosiswerte in ➥ Tabelle 4 wurde ➥ Abb. 3 erstellt.

    Da die Expositionsdauer (mit einer Tagesdosis von ahw(8) > 2,5 m/s2 als Schwellenwert für das aktuelle BK-Feststellungsverfahren) keine Vibrationsdosis darstellt, stellt sich die Frage, ob diese Kenngröße für die Dosis-Wirkungs-Ableitung, insbesondere für die Quantifizierung einer Risikoverdopplungsdosis, geeignet ist. Zur methodischen Absicherung wurde eine Sensitivitätsanalyse durchgeführt. Dabei wurden verschiedene Schwellentagesdosen verwendet, um die Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen Expositionsdauer und muskuloskelettalen Erkrankungen im Sinne der BK 2103 abzuleiten (➥ Tabelle 5). Die Sensitivitätsanalyse zeigt, dass es kaum Unterschiede bei der Verwendung verschiedener Schwellentagesdosen in der Dosis-Wirkungs-Ableitung gibt. Dies gilt auch für die Quantifizierung der Risikoverdopplungsdosis (s. Tabelle 5). Die Sensitivitätsanalyse deutet darauf hin, dass die Expositionsdauer (mit einer festgelegten Tagesdosis als Schwellen) für die Quantifizierung der Risikoverdopplungsdosis beziehungsweise im BK-Feststellungsverfahren nicht geeignet ist.

    Abb. 2: Dosis-Wirkungsverläufe für Dhv- und Dhw-Werte sowie für die Dauer der Vibrationstages­dosis von ahw(8) > 2,5 m/s2
    Abb. 2: Estimated exposure-response curves for Dhv, Dhw values and exposure duration with ahw(8) > 2,5 m/s2
    Tabelle 4:  Erwartete Risikoerhöhungen für Muskel-Skelett-Erkrankungen im Sinne der BK 2103 in Abhängigkeit von verschiedenen Vibrations­dosiswertenTable 4: Expected excess risk of musculoskeletal disorders as defined by occu­pational disease No. 2103 by cumulative hand-arm-vibration exposure

    Tabelle 4: Erwartete Risikoerhöhungen für Muskel-Skelett-Erkrankungen im Sinne der BK 2103 in Abhängigkeit von verschiedenen Vibrations­dosiswerten
    Table 4: Expected excess risk of musculoskeletal disorders as defined by occu­pational disease No. 2103 by cumulative hand-arm-vibration exposure
    Tabelle 5:  Sensitivitätsanalyse zur Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen Expositionsdauer und Erkrankungen im Sinne der BK 2103Table 5: Sensitivity analysis for dose-response estimation between exposure duration and musculoskeletal disorders as defined by occupational disease Nr. 2103

    Tabelle 5: Sensitivitätsanalyse zur Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen Expositionsdauer und Erkrankungen im Sinne der BK 2103
    Table 5: Sensitivity analysis for dose-response estimation between exposure duration and musculoskeletal disorders as defined by occupational disease Nr. 2103

    Diskussion

    In dieser Studie wurde erstmals die Dosis-Wirkungs-Beziehung beziehungsweise Risikoverdopplungsdosis für muskuloskelettalen Erkrankungen im Sinne der BK 2103 quantitativ abgeleitet. Mit einer
    Stichprobengröße von 823 Personen ist diese Studie eine der weltweit größten epidemiologischen Studien zu den gesundheitlichen Auswirkungen arbeitsbedingter Hand-Arm-Vibrationen (Nilsson 2017).

    Die Entwicklung einer muskuloskelettalen Erkrankung verläuft in der Regel chronisch und schleichend über Jahrzehnte. Dies gilt insbesondere für die degenerative Gelenk­erkrankungen, die bei der BK 2103 stark vertreten sind. Ihre Diagnose erfordert eine radiologische Bestätigung. Dies macht eine epidemiologische Längsschnittstudie (z. B. eine Kohortenstudie) extrem zeit- und kostenaufwendig. Eine industriebasierte Fall-Kontroll-Studie bietet daher eine gute Alternative zu einem Kohorten-Design. Im Vergleich zu einem bevölkerungsbasierten Design hat ein industriebasiertes Design generell eine validere und repräsentativere Aussage über arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken. Da sich die Fälle in der Studie auf neu erkrankte Personen beziehen, handelt es sich bei der Studie um eine Inzidenz­studie.

    Die Fälle in dieser Studie bezogen sich auf Personen mit Verdacht auf eine Erkrankung durch Erschütterung bei der Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen (BK 2103). Nach dieser Definition beziehen sich die Fälle nur auf Erkrankte, die bereits gegenüber Hand-Arm-Vibrationen ausgesetzt waren. Um eine systemische Verzerrung (Überschätzung des Effekts) der Studienergebnisse zu vermeiden, wurden nur Kontrollpersonen rekrutiert, die ebenfalls bereits gegenüber Hand-Arm-Vibrationen exponiert waren. Die Auswahl der Fälle erfolgte aus den Verdachtsanzeigen auf eine BK 2103 unabhängig von der Höhe der Exposition. Die vergleichbare Beschäftigungsdauer (Median: 26,3 Jahre bei Fällen, 25,5 Jahre bei Kontrollen) sowie die vergleichbare Streuung der Vibrationstagesdosen (ahv(8)-Werte: 0,22–29,35 bei Fällen, 0,26–34,43 bei Kontrollen) bei den Fällen und Kontrollen zeigen, dass es unwahrscheinlich ist, dass die Definition von Fällen und Kontrollen in dieser Studie zu einer systemischen Verzerrung der Studienergebnisse führt.

    Wie alle anderen arbeitsepidemiologischen Studien weist auch diese Studie einige Einschränkungen auf. Eine Einschränkung ist die geringe Rücklaufquote bei den Kontrollen. Etwa 80 % der potenziellen Kontrollpersonen haben nicht auf unsere Kontaktschreiben reagiert (im Vergleich zu 34 % bei den Fällen). Diese geringe Rücklaufquote spiegelt das allgemeine Desinteresse der Beschäftigten an einem Forschungsprojekt wider. Obwohl das Autorenteam glaubt, dass dieses Desinteresse nicht mit der Exposition gegenüber Hand-Arm-Vibrationen zusammenhängt, kann dies nicht bewiesen werden. Eine Non-Responder-Analyse (in Bezug auf die Vibrationsexposition) kann aufgrund fehlender Daten nicht durchgeführt werden. Eine weitere Einschränkung bezieht sich auf die falsche Diagnose der Fälle. Die Verdachtsanzeigen auf eine BK 2103 wurden ausschließlich von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten gestellt. Dennoch konnten in der Validierungsstudie ca. 7,7 % Fehldiagnosen festgestellt werden, obwohl alle Verdachtsanzeigen muskuloskelettale Symptome aufwiesen. Es ist davon auszugehen, dass die Fehldiagnosen unabhängig von der Exposition gestellt wurden und somit nicht von einem systemischen Bias ausgegangen werden kann. Dennoch kann ein minimaler Einfluss der Fehldiagnosen auf die geschätzten Dosis-Wirkungs-Beziehungen nicht ausgeschlossen werden.

    Die Kontrollgruppe wurde in dieser Studie als Zufallsstichprobe aus den meldepflichtigen Arbeitsunfällen rekrutiert. Da es unwahrscheinlich ist, dass das Unfallgeschehen mit Vibrationsbelastungen assoziiert ist (Sun et al. 2023), stellen die rekrutierten Kontrollen eine repräsentative Stichprobe des Arbeitskollektivs (in Bezug auf die Exposition) dar.

    Die Expositionsermittlung erfolgte in dieser Studie durch ein standardisiertes Interview. Das Interview wurde entsprechend einer konventionellen BK-Ermittlung von erfahrenen Aufsichtspersonen und BK-Ermittelnden durchgeführt. Die Aufsichtspersonen und BK-Ermittelnden haben in der Regel ein gutes Wissen über die Arbeitsverläufe und das Einsatzmaterial in den entsprechenden Firmen. Dieses Wissen ist entscheidend für die präzise Formulierung der Zielfragen und die Beurteilung der Plausibilität der Antworten während der persönlichen Interviews. Dadurch wird das Risiko von Erinnerungsverzerrungen minimiert. Da die Expositionszeiten über längere Zeiträume geschätzt wurden, ist ein „Recall-Bias“, der üblicherweise in einer retrospektiven Datenerhebung unvermeidbar ist, vorhanden. Allerdings kann davon ausgegangen werde, dass aufgrund der Expertise der Aufsichtspersonen beziehungsweise BK-Ermittelnden dieser „Recall-Bias“ wesentlich geringer war als in den meisten arbeitsepidemiologischen Studien. Darüber hinaus sind die Aufsichtspersonen und BK-Ermittelnden auch für die korrekte Zuordnung der eingesetzten Geräte in der Arbeitshistorie und im Vibrationskataster verantwortlich. Dies ist für die Expositionsermittlung von entscheidender Bedeutung, da gleiche Geräte bei der Bearbeitung unterschiedlicher Arbeitsmaterialien unterschiedliche Vibrationen verursachen können.

    Die personenbezogenen Vibrationswerte in dieser Studie basieren fast ausschließlich auf standardisierten Vibrationsmessungen unter realen Arbeitsbedingungen (Sun et al. 2023). Dabei wurden die Einflüsse zahlreicher technischer Randbedingungen (z. B. gleiche Geräte bei unterschiedlichen Arbeitsverläufen, Einsatzmaterial usw.) bei den Vibrationsmessungen berücksichtigt. Für die Vibrationsmessungen wurden überwiegend gebrauchte Geräte verwendet. Obwohl die Abnutzung der Geräte einen Einfluss auf die gemessenen Schwingungswerte hat, geht das Autorenteam nicht davon aus, dass es systematische Unterschiede zwischen den Fällen und den Kontrollen hinsichtlich des Verschleißes der Geräte gibt. Daher hat dieses Problem keinen Einfluss auf die geschätzten Dosis-Wirkungs-Beziehungen. In dieser Studie wurden daher die Schwingungswerte eines Geräts für die Fälle und Kontrollen konstant gehalten (ohne Berücksichtigung des Verschleißzustands). Nur ca. 0,01 % der individuellen Vibrationsdaten beruhten auf Expertenschätzungen. Die Expositionsermittlung in dieser Studie erreicht damit im Vergleich zu den bisher publizierten Studien den höchsten Qualitätsstandard (Kauppinen 1994; Nilsson 2017).

    Das im Rahmen dieser Studie entwickelte Vibrationskataster diente nicht nur als Datengrundlage für die Expositionsermittlung der Studie. Darüber hinaus stehen die Daten des Katasters auch für die Gefährdungsbeurteilungen, BK-Ermittlungen und die Beratung von Betrieben in Fragen der Prävention zur Verfügung. Diese Daten erlauben zum ersten Mal die epidemiologischen Evidenzen, die im Rahmen eines Projekts gewonnen wurden, ohne Verzerrungen direkt in die Praxis zu übertragen. Das bedeutet, dass die Ermittlung der Vibrationsbelastung in der Studie und später in der BK-Praxis beziehungsweise Prävention völlig identisch ist. Im Gegensatz dazu werden in den meisten epidemiologischen Studien andere Methoden zur Expositionsermittlung verwendet als in der BK-Praxis. Diese sind oft nicht miteinander kompatibel.

    Schlussfolgerungen

    Wie bereits dargestellt, hat diese Studie einen großen Stichprobenumfang und eine hohe epidemiologisch methodische Qualität. Zusammenfassend können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden:

  • Es konnten konsistente und statistisch signifikante Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen Hand-Arm-Vibrationsbelastungen und muskuloskelettalen Erkrankungen im Sinne der BK 2103 für die verschiedenen Dosismodelle ermittelt werden.
  • Eine Lebenszeitdosis von Dhv ≥ 142.331 m2/s4 x Tage beziehungsweise Dhw ≥ 38724 m2/s4 x Tage führt zu einer Verdoppelung des Risikos für muskuloskelettale Erkrankungen im Sinne der BK 2103. Diese Dosiswerte könnten als arbeitstechnische Voraussetzungen für das Feststellungsverfahren der BK 2103 herangezogen werden.
  • Bei Einhaltung des derzeitigen Expositionsgrenzwerts (ahv(8) < 5 m/s2) könnte eine Risikoverdopplung frühestens nach einer Expositionsdauer von ca. 26 Jahre eintreten. Allerdings zeigt die Studie, dass 86 % der Fälle und 73 % der Kontrollen den aktuellen Expositionsgrenzwert nicht einhalten können (mit einer Expositionsdauer von mindestens einem Jahr). Dies stellt eine Herausforderung für die zukünftige Arbeitsschutz dar.
  • Sensitivitätsanalysen deuten darauf hin, dass die Expositionsdauer mit einer festgelegten Schwellentagesdosis für die Bearbeitung der BK 2103 nicht geeignet ist.
  • Interessenkonflikt: Die Autorinnen und Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

    Ethikvotum: Es handelt sich um eine Beobachtungsstudie (nicht-interventionell) mit anonymisierten Daten. Eine schriftliche Einwilligung der betroffenen Personen zur Teilnahme an der Studie liegt bereits vor. Es wird kein Biomaterial der Betroffenen untersucht. Daher benötigte die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung keine ethische Genehmigung für diese Studie.

    Beitrag der Autoren zum Manuskript: YS: Konzeption und Design; JD, WE, BE, CF, UK, UN, NR, CV: Datenerhebung; YS, UK: Datenbereinigung; YS, CS: Datenauswertungen; YS, FB, UK, CS, CV: Erstellung des Manuskripts.

    Literatur

    Berufskrankheitenrecht 2016: Probleme – Herausforderungen – Lösungen. DGUV 2016. https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/3171 (abgerufen am 16.03.2024).

    Berufskrankheiten-Verordnung. Bundesarbeitsblatt 12-2006, S. 149. Bonn: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2006.

    Bovenzi M: Health risks from occupational exposures to mechanical vibration. Med Lav 2006; 97: 535–541.

    Dupuis H, Hartung E, Konietzko J: Arbeitstechnische Voraussetzungen für die Berufskrankheit Nr. 2103. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 1998; 33: 490–496.

    Dupuis H, Hartung E: Vibrationsbedingte Erkrankungen des Knochen- und Gelenksystems (BK 2103). In: Konietzko J, Dupuis H (Hrsg.): Handbuch der Arbeitsmedizin. Landsberg am Lech: ecomed Medizin, 1999.

    Hagberg M: Clinical assessment of musculoskeletal disorders in workers exposed to hand-arm vibration. Int Arch Occup Environ Health 2002; 75: 97–105.

    House R, Wills M, Liss G, Switzer-McIntyre S, Manno M, Lina Lander L: Upper extremity disability in workers with hand-arm vibration syndrome. Occup Med 2009; 59: 167–173.

    Kauppinen TP: Assessment of exposure in occupational epidemiology. Scand J Work Environ Health 1994; 20: 19–29.

    Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2103: „Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen“. https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Beruf… (abgerufen am 01.02.2023).

    Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 4114: „Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis, die einer Verursachungswahrscheinlichkeit von mindestens 50 Prozent nach der Anlage 2 entspricht“. https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Beruf… (abgerufen am 16.03.2024).

    Nilsson T, Wahlström J, Burström L: Hand-arm vibration and the risk of vascular and neurological diseases – A systematic review and meta-analysis. PLoS One 2017; 13: 12.

    Sun Y, Bochmann F, Dohlich J et al.: Exposure-response relationship between work-related hand-arm-vibration exposure and musculoskeletal disorders of the upper extremities: The German Hand-Arm-Vibration Study. JOSE 2024; 30: 304–311.

    VDI 2057 Blatt 2: Einwirkung mechanischer Schwingungen auf den Menschen – Hand-Arm-Schwingungen. https://www.vdi.de/richtlinien/details/vdi-2057-blatt-2-einwirkung-mech… (abgerufen am 01.02.2023).

    Youakim S: Hand-arm vibration syndrome. BCMJ 2009; 51: 10.

    KONTAKT

    Dr. Yi Sun
    Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung
    Alte Heerstraße 111
    53757 Sankt Augustin
    yi.sun@dguv.de

    Abb. 3: Erwartetes, um 10 % bzw. 30 % erhöhtes Risiko sowie Risikoverdopplung von Muskel-Skelett-Erkrankungen im Sinne der BK 2103
    Abb. 3: Expected 10%, 30% and doubling increased risk of musculoskeletal disorders as defined by occupational disease No. 2103