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„Einheitliche Regelungen in der Deutschen Rentenversicherung sind extrem wichtig“

Frau Dr. Glaser-Möller, seit wann sind Sie bei der DRV Nord in Lübeck beschäftigt?

Die damalige Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein suchte 1995 eine Epidemiologin/einen Epidemiologen oder eine Ärztin/einen Arzt mit Fachkennkenntnissen und Erfahrungen im Bereich des Public Health, um ihr Rehabilitationsangebot bedarfsgerecht weiterzuentwickeln. Ich hatte zuvor in Frankreich im Bereich Prävention/Sozialpädiatrie in einer Beratungsstelle für Mütter und Kinder gearbeitet. Solche Einrichtungen bieten ein umfassendes Konzept der medizinischen Betreuung rund um die Familie an, das insbesondere Vorsorgeuntersuchungen für werdende Mütter und Kinder, Therapien wie Logopädie oder Psychotherapie für die Kinder, aber auch Gesundheitserziehung beinhaltet.

Nach meinem Umzug nach Deutschland war ich zunächst bei der Gesundheitsbehörde im Krebsregister und im Bereich der Gesundheitsberichterstattung tätig.

1995 habe ich in der noch kleinen Stabsstelle der Landesversicherungsanstalt RSS (Reha Strategie und Steuerung) begonnen. Jetzt umfasst diese Stabsstelle auch den Bereich Reha-Grundsatz sowie die ärztliche Betreuung der Rehakliniken und zählt ungefähr 25 Mitarbeitende.

Als Leiterin der Stabsstelle Reha-Strategie, -Grundsatz und -Steuerung haben Sie wesentlich dazu beigetragen, dass die Rehabilitationsstrategie der DRV Nord weiterentwickelt wurde und innovative Ansätze zur Anwendung kamen. Welche Projekte erinnern Sie besonders?

Mir waren vor allem zwei Ziele wichtig: ein rechtzeitiger Zugang zur Reha bei Reha-Bedarf und eine höhere Nachhaltigkeit des Reha-Ergebnisses durch ambulante Nachsorgeangebote. Ich habe mich in diesem Zusammenhang sehr bemüht, ein möglichst flächendeckendes Angebot an Nachsorge­angeboten zu organisieren. Wir haben uns am Anfang am Programm der DRV Brauschweig-Hannover orientiert, das insbesondere physiotherapeutische Praxen einbezieht. Ohne großen Aufwand konnte so ein dichtes Netz an Nachsorgeangeboten erschlossen werden. Mittlerweile gibt es ein breites Angebot an verschiedenen Nachsorgeleistungen nach einem RV-weit einheitlichen Konzept.

Die deutsche Rentenversicherung Nord fördert Forschungsvorhaben mit Reha-Bezug für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen als Zielgruppe. Welche Projekte waren Ihnen wichtig?

Ich habe eine Vielzahl von geförderten Projekten begleitet, beispielsweise den wissenschaftlich evaluierten Aufbau der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR). Die DRV Nord hat sich sehr früh bemüht im Bereich Orthopädie und Psychosomatik MBOR-Konzepte von Reha-Kliniken zuzulassen. Die Bereitstellung dieses neuen Therapieangebots wurde wissenschaftlich begleitet: Wird in der Routine das Anforderungsprofil an der MBOR eingehalten und der Bedarf an MBOR sicher erkannt? Wie entwickelt sich die Wirksamkeit unter Routinebedingungen im Vergleich zu den Forschungsprojekten, bei denen in einem randomisierten Design die Wirksamkeit der MBOR nachgewiesen wurde? Professor Bethge vom Institut Sozialmedizin und Epidemiologie, Sektion Rehabilitation und Arbeit, in Lübeck konnte in Forschungsprojekten zeigen, dass auch in der Routine die Anforderungen an die MBOR in der Regel weiter eingehalten werden und eine hohe Wirksamkeit erzielen, beispielsweise im Rahmen eines Forschungsprojekts in der Mühlenberg Klinik der DRV Nord in Bad Malente

Wichtig war für mich auch die Kooperation mit verschiedenen Verbänden wie beispielsweise dem VDBW. Durch das direkte Einbeziehen der Betriebsärztinnen und -ärzte kann der Reha-Bedarf frühzeitig und sicher erkannt werden. In der Regel sind die Antragsunterlagen der betriebsärztlichen Kolleginnen und Kollegen so aussagekräftig, dass unsere Prüfverfahren deutlich verkürzt werden. Auch die modellhaft erprobte Kooperation von Personalverantwortlichen der Firmen mit Reha-Kliniken kann helfen, die Akzeptanz in der Belegschaft für die Reha zu erhöhen und die Rehabilitation zielgerichteter und effektiver zu gestalten.

In einem weiteren Forschungsprojekt bereits vor dem Inkrafttreten des Flexirentengesetzes wurde eine interdisziplinäre Nachsorge für adipöse Kinder und Jugendliche nach einer Rehabilitation durch die Fachklinik Sylt gemeinsam mit verschiedenen ambulanten Adipositasschulungszentren und der Konsensusgruppe Adipositasschulung im Rahmen eines durch die DRV Nord geförderten Forschungsprojektes entwickelt und erprobt. Die Ergebnisse waren so ermutigend, dass, nachdem das Gesetz verabschiedet wurde, das Angebot in die Regelversorgung eingeführt wurde. Inzwischen haben wir eine gute Versorgung in Hamburg und Schleswig-Holstein. Auch andere Bundesländer bieten diese umfangreiche Nachsorgeform an.

Das Bundesteilhabegesetz fördert Modellvorhaben zur Stärkung der Rehabilitation. Sie haben sich sehr für das Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ engagiert. Welche Teilprojekte liegen Ihnen derzeit besonders am Herzen?

Die drei rehapro-Modellvorhaben der DRV Nord sind sehr unterschiedlich und gleich spannend. Sie tragen alle dazu bei, die Reha-Strategie der DRV Nord umzusetzen beziehungsweise weiterzuentwickeln, beispielsweise das Projekt IPS ZIP „IPS-Coaching – Zurück ins Berufsleben“. Die Betreuung von psychiatrisch erkrankten Menschen ist schwierig und häufig von Rückschlagen geprägt. Untersuchungen von Erwachsenen, die sich in klinischer psychiatrischer Behandlung befinden, weisen darauf hin, dass bei dem überwiegenden Teil Arbeit ein wichtiges Behandlungsziel und wesentlicher Bestandteil individueller Genesung ist, aber nur ein geringer Anteil der Betroffenen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig ist. Bei beruflichen Wiedereingliederungsprogrammen, die auf dem traditionellen „First-train-then-place“-Ansatz basieren, erfolgt zunächst ein Arbeitstraining in einem beschützten Rahmen, bevor die Platzierung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angestrebt wird (engl. „pre-vocational training“).

Das „First-place-then-train“-Prinzip, das im Projekt IPS ZIB angewandt wird, folgt dagegen einem anderen Vorgehen: Rehabilitierende werden rasch auf einem Arbeitsplatz des ersten Arbeitsmarkts platziert und dann in der Tätigkeit mit einer möglichst langen Unterstützung durch einen spezialisierten Job-Coach trainiert. Hauptziel ist, psychisch kranke Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in Krankenhausbehandlung durch eine evidenzbasierte Intervention zur Teilhabe am Arbeitsleben (Individual Placement and Support, IPS) zu erreichen und zu unterstützen, so dass eine nachhaltige berufliche Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Nach meinem Kenntnisstand ist dieser Ansatz in Deutschland kaum erprobt worden.

Das Projekt wird gemeinsam mit der DRV Westfalen durchgeführt. Mehrere größere Kliniken in Mecklenburg-Vorpommern und Bielefeld nehmen an dem Projekt teil. In Mecklenburg-Vorpommern übernimmt das Berufsförderungswerk Stralsund GmbH das Coaching. Das operative Management und die Evaluation werden von der Universität Greifswald (Prof. Dr. Steinhart) vorgenommen.

Sie haben mit vielen verschiedenen Rentenversicherungsträgern zusammengearbeitet. Vernetzung untereinander war Ihnen immer wichtig. Wie sah ihre Zusammenarbeit mit der DRV BUND, anderen Regional Trägern und dem BMAS aus?

Einheitliche Regelungen in der Deutschen Rentenversicherung sind extrem wichtig. Die Zusammenarbeit mit den weiteren RV-Trägern im Rahmen der so genannten Gremienarbeit hat eine große Bedeutung. Für das Förderprogramm rehapro gibt es eine Koordinierungsgruppe „KOREPRO“ mit Beteiligung aller RV-Träger. Zunächst gab es häufige Treffen, teilweise über mehrere Tage. Die Zusammenarbeit war stets intensiv und konstruktiv. Durch die Corona-Pandemie waren nur online Treffen möglich, Absprachen fanden aber auch weiterhin statt. Ich wünsche mir sehr, dass trotz Pandemie die geförderten Modellvorhaben mit Erfolg durchgeführt werden und zu einer Optimierung der rehabilitativen Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen führen.

Seit vielen Jahren prägen Sie das Sozialmedizinische Kolloquium in Lübeck, das einmal im Quartal stattfindet, zuletzt gemeinsam mit Prof. Dr. Matthias Bethge. An welche Veranstaltungen erinnern Sie sich besonders?

Das sozialmedizinische Kolloquium wurde von Dr. J. Cellarius, ehemaliger Leiter des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) der LVA Schleswig-Holstein, und Prof. H. Raspe, ehemaliger Direktor des Instituts für Sozialmedizin der Universität Lübeck, ins Leben gerufen. Es war zunächst als ein Ort der Austauschmöglichkeit und Diskussion der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen verschiedener Sozialleistungsträger gedacht, um den Blick über den eigenen Tellerrand hinweg zu ermöglichen.

Am 1. September 2021 hat bereits die 143. Veranstaltung stattgefunden. Ich bin seit mehr als 10 Jahren in der Organisation des Kolloquiums tätig und erinnere mich an viele interessante Vorträge. Beispielhaft sei Prof. Dr. M. de Zwaan, MHH, mit dem Thema „Aktuelle Therapieansätze von Patient*innen mit Essstörungen“ oder Prof. Dr. Schneider, Rostock, mit seinem Vortrag „Medikalisierung sozialer Probleme“ genannt. Auch Dipl.-Psych. S. Tuna, Göttingen, hat mit seinem Vortrag über „Besonderheiten in der Rehabilitation von Menschen mit Migrationshintergrund“ wichtige Impulse für die Rehabilitation gegeben.

Eigentlich waren viele Themen wichtig, es fällt mir schwer, eine Auswahl zu treffen.

Viele Kolleginnen und Kollegen schätzen Sie als immer engagierte, kompetente und mit großer Freude tätige Kollegin. Am 1.9.2021 gehen Sie in den Ruhestand. Ihre Tatkraft wird von vielen vermisst werden. Was haben Sie für Pläne? Werden Sie weiterhin Projekte begleiten?

Ich war von 2000–2015 Geschäftsführerin des vffr (Verein zur Förderung der Rehabilitationsforschung in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein e.V.). Der Verein wurde 1994 gegründet und unterstützt regionale Forschungsvorhaben zur beruflichen und medizinischen Rehabilitation. Da würde ich mich gerne weiterhin ehrenamtlich einbringen.

Mir schwebt auch vor, über einige interessante Entwicklungen in der Rehabilitation in regionalen Fachzeitschriften zu berichten.

Welche Wünsche haben Sie für Ihren neuen Lebensabschnitt? Worauf freuen Sie sich?

Ich freue mich sehr darauf, freie Zeit zu haben. Mit anderen engagierten Frauen zusammen haben wir in Lübeck „Oldies for Future“ gegründet und möchten unseren Beitrag gegen den Klimawandel leisten. Wir wollen die jungen Aktivisten von „Fridays for Future“ unterstützen.

Und dann wünsche ich mir, etwas mehr Tennis spielen und ohne Hektik in meine Heimat Frankreich reisen zu können. Weiterhin freue ich mich, mehr Zeit für meine beiden kleinen Enkeltöchter zu haben.

Herzlichen Dank für das Interview. Wir wünschen Ihnen alles Gute für den neuen Lebensabschnitt und weiterhin Gesundheit, damit Sie alle Ihre Wünsche umsetzen können.

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