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Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung für die digitalisierte Arbeit: das System DYNAMIK 4.0

Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung für die digitalisierte Arbeit: das System DYNAMIK 4.0

Zielstellung: Tiefgreifende Änderungen der Arbeitsweisen durch den Einsatz digitaler Technik in der Produktion („Smart Factory“, „Industrie 4.0“) und vielen anderen Branchen erfordern neue Herangehensweisen an die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (GBpsych). Das vom BMBF geförderte Verbundforschungsprojekt „DYNAMIK 4.0“ soll dafür die Grundlagen schaffen.

Methoden: Mit Partnern aus Universitäten, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Industrie wurden auf Basis qualitativer Interviews psychosoziale Belastungen und Anforderungen an eine GBpsych in der Industrie 4.0 systematisch beschrieben und mit etablierten Arbeitsstressmodellen abgeglichen. Die Ergebnisse finden Eingang in die Entwicklung einer leistungsstarken internetbasierten Software, die betrieblich Verantwortlichen hilft, den gesamten siebenstufigen Prozess der GBpsych weitgehend selbstständig durchzuführen. Nach erfolgreicher Pilotierung wird die Software-gestützte GBpsych in fünf Unternehmen erprobt und evaluiert.

Ergebnisse: Ergebnisse aus qualitativen Interviews zeigen, dass neue Formen der Mensch-Maschine-Interaktion, technische Probleme, Arbeitsverdichtung durch Informations- und Kommunikationstechnologien, Entgrenzung der Arbeit, steigende Qualifikationsanforderungen, Änderungen der Arbeitsorganisation mit Verlust von Handlungsspielraum und verstärkte Überwachung der Arbeitsleistung neue Belastungen darstellen. Diese lassen sich zwar größtenteils in die etablierten Arbeitsstressmodelle einordnen, sind aber in ihren Ausprägungen spezifisch und erfordern eine neue Operationalisierung – insbesondere die direkte und schnelle Erfassung der Gründe für Belastungen. Die technologischen Veränderungen haben auch insgesamt Auswirkungen auf die Anforderungen an eine GBpsych, die kurzfristiger, inhaltlich flexibler und einfacher durchführbar gestaltet werden muss, um nachhaltig implementiert werden zu können. Hierfür scheinen flexible, webbasierte Systeme besonders geeignet zu sein.

Schlussfolgerungen: Aufbauend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über neue Belastungen und Anforderungen an eine GBpsych ist das System DYNAMIK 4.0 ein innovatives, anwenderfreundliches, lernendes System der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen für Unternehmen im Bereich der Industrie 4.0. Nach positiver Evaluation in der Pilotphase kann die Wirkung abschließend erst im Anschluss an die laufenden fünf Praxistests bestimmt werden.Schlüsselwörter: Industrie 4.0 – Arbeitsstress – neue psychosoziale Arbeitsbelastungen – Digitalisierung – Mensch-Maschine-Interaktion – Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

Psychological risk assessment for the digitalised workplace: the DYNAMIK 4.0 system

Objectives: Fundamental changes in ways of working due to the use of digital technology in manufacturing (“smart factory”, “Industry 4.0”) and in many other sectors require new approaches to the process of psychological risk assessment (PRA). The DYNAMIK 4.0 collaborative research project is backed by the Federal Ministry of Education and Research (BMBF) and is designed to lay the foundations for this.

Methods: In a joint project with partners from universities, non-university research institutions and industry, psychosocial stress and the requirements of a PRA in Industry 4.0 were systematically described on the basis of qualitative interviews and collated with established models of work-related stress. The results are used in the development of powerful web-based software that helps responsible persons in companies to carry out the entire seven-step process of the PRA independently to a large extent. Following a successful pilot study, the software-assisted PRA is currently under evaluation in five companies.

Results: Results of the qualitative interviews show that new kinds of stress are caused by new forms of man-machine interaction, technological problems, work intensification caused by information and communication technologies, blurring of boundaries between work and private life, increased qualification requirements, changes in work organisation with loss of scope for action and increased surveillance of work performance. Although the majority of these new stressors may be categorised within the established work-related stress models, they are specific in their characteristics and require new operationalisation – in particular, the causes of stress must be recorded directly and promptly. Technological changes as a whole also have implications for the requirements of a PRA in that it must be short-term, flexible in content and easier to carry out so that it can be implemented in the long term. Flexible, web-based systems seem to be especially suitable for this purpose.

Conclusions: Building on scientific knowledge about new forms of stress and requirements of a PRA, the DYNAMIK 4.0 system is an innovative, user-friendly and adaptive psychological risk assessment system for companies with smart factory technologies. After positive evaluation in the pilot phase, a conclusion about the effect can only be drawn after the evaluation of the five current practice trials.

Keywords: Industry 4.0 – work-related stress – new forms of psychosocial work-related stress – digitalisation – man-machine interaction – psychological risk assessment

P. Angerer

A. Müller

S. Süß

D. Lehr

A. Buchner

N. Dragano

(eingegangen am 17.09.2018, angenommen am 15.10.2018)

Gefährdungsbeurteilung für die Industrie 4.0

Globalisierter Wettbewerb und rasanter technischer Fortschritt verleihen der Arbeitswelt eine neue Dynamik und erhöhen den Druck auf die Anpassungsfähigkeit von Unternehmen. Das trifft zunehmend auch auf die industrielle Produktion zu. Der Einsatz intelligenter technischer Systeme (ITS) in der Fertigungstechnik soll die „intelligente Fabrik“ (Smart Factory) ermöglichen. Technologische Basis sind so genannte „Cyber-Physical Systems“ (CPS), die die physische und digitale Welt verbinden und es Anlagen, Maschinen und einzelnen Werkstücken ermöglichen, kontinuierlich Informationen auszutauschen (Jasperneite 2012). CPS sind Netzwerke von Miniatur-Computern, die mittels Sensoren Daten aus ihrer physikalischen Umgebung ermitteln und interpretieren, mittels Aktoren auf physikalische Prozesse in ihrer Umgebung einwirken, Daten speichern und Daten mit digitalen Netzen und anderen CPS drahtlos oder drahtgebunden austauschen und über multimodale Mensch-Maschine-Schnittstellen verfügen können (Hinrichsen u. Jasperneite 2013; Geisberger u. Broy 2012; Hirsch-Kreinsen u. Weyer 2014; Plattform Industrie 4.0 2015). So lassen sich Produktions- und Logistikprozesse vollständig integrieren, permanent überwachen sowie in Echtzeit über räumliche Distanzen hinweg steuern und koordinieren (Plattform Industrie 4.0 2015). Für den Einsatz solcher Systeme wurde in Deutschland der Begriff „Industrie 4.0“ geprägt. Neben offensichtlichen Vorteilen werden auch disruptive strukturelle Veränderungen erwartet, deren Auswirkungen auf die Beschäftigten in Überforderung, Unterforderung oder anderen Belastungen bestehen könnten, je nachdem wie sich Arbeitsorganisation und -aufgaben ändern (Hirsch-Kreinsen u. Weyer 2014). Auf diese Belastungen muss sich auch die Gefährdungsbeurteilung als integraler Prozess, insbesondere aber die der psychischen Belastungen einstellen.

Es kann als gesichert gelten, dass definierte psychosoziale Arbeitsbelastungen, wie sie in Arbeitsstressmodellen wie dem Gratifikationskrisen-Modell mit hoher Verausgabung und mangelnder Belohnung (Siegrist 1996) oder dem Anforderungs-Kontroll-Modell mit hohen Arbeitsanforderungen und geringen Handlungsspielräumen (Karasek u. Theorell 1990) beschrieben werden, quer durch alle Branchen einen starken Einfluss auf die Gesundheit der Beschäftigten haben können. Stresstheoretisch gut begründet und experimentell wie epidemiologisch auf breiter Basis untersucht, steigert Arbeitsstress – insbesondere in seiner chronischen Form – das Risiko für körperliche (z.B. Herzkrankheiten) und psychische Erkrankungen (v.a. Depressionen; Theorell et al. 2015, 2016; Kivimäki u. Steptoe 2018). Folgen sind auch auf Seiten der Unternehmen und der Solidargemeinschaft spürbar, da lange Ausfallzeiten, Leistungseinbußen, Produktivitätsverluste und Ausgaben für das Sozialversicherungssystem finanzielle Belastungen bedeuten (Goetzel u. Ozminkowski 2008).

Die beispielhaft genannten Arbeitsstressmodelle wurden in ihren Grundaussagen bereits vor Jahrzehnten formuliert, seither angepasst und kontinuierlich erforscht, weswegen es heute möglich ist, den gesundheitlichen Einfluss der in diesen Modellen spezifizierten Variablen aufgrund einer überwältigenden Fülle von Erkenntnissen zu quantifizieren. Es stellt sich aber die Frage, wie weit die Modelle in der Lage sind, auch neue Belastungen einer sich rasch fortentwickelnden Arbeitswelt, adäquat zu erfassen. Hier ist mindestens eine Anpassung und Erweiterung der Messinstrumente, auf dem Boden etablierter Theorien, an die sich wandelnde Arbeitswelt erforderlich. Das hat praktische Konsequenzen für die Gestaltung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (GBpsych) nach dem Arbeitsschutzgesetz (ASchG), die dem Stand der Wissenschaft und Technik entsprechen muss.

Ziel des hier vorgestellten, vom BMBF seit 2016 geförderten Verbund-Forschungsprojekt ist es, ein Unterstützungsangebot „System DYNAMIK 4.0“ zu entwickeln, mit dem neue und sich rasch ändernde psychosoziale Belastungssituationen flexibel bewertet und optimiert werden können, um so die Gesundheit von Beschäftigten zu fördern. DYNAMIK 4.0 besteht aus den drei Bausteinen DYNAMIK-Websystem, DYNAMIK-Schulung und -Handbuch sowie DYNAMIK-Beratung. Das DYNAMIK-Websystem unterstützt bei der Durchführung der GBpsych mit zielgerichteter, wirkungsvoller Ableitung und Gestaltung von Arbeitsschutzmaßnahmen. Schulungskonzepte und Handbuch vermitteln Wissen zur GBpsych und unterstützen Führungskräfte und Verantwortliche des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes bei der praktischen Anwendung des DYNAMIK-Websystems. Mitarbeiter/-innen des DYNAMIK-Projekts bieten intensive Begleitung bei der Vorbereitung und Durchführung der GBpsych mit dem System DYNAMIK 4.0 im Betrieb ( Abb. 1). Das Projekt nimmt moderne Industrieunternehmen in den Fokus, das System DYNAMIK 4.0 soll aber auf andere Kontexte übertragbar sein. Das Vorhaben soll dazu dienen,

  1. zunächst für die Industrie 4.0, zukünftig aber auch in anderen hoch digitalisierten Bereichen, die neuen und wechselnden psychischen Belastungen bzw. Belastungsmuster, die in digitalisierten und automatisierten Arbeitsfeldern entstehen bzw. entstehen werden, zu charakterisieren – in Ergänzung zu den bekannten Belastungen bzw. Belastungsmustern – sowie
  2. eine stresstheoriebasierte Anwendung zu entwickeln und prozess- sowie ergebnisbezogen zu evaluieren, die es erlaubt, auf sich rasch ändernde Belastungssituationen, insbesondere in kleineren und mittleren Unternehmen, schnell und flexibel zu reagieren.

DYNAMIK 4.0 setzt auf der traditionellen Gefährdungsanalyse im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes auf, erweitert sie aber inhaltlich, technologisch und organisatorisch, um die Umsetzung der GBpsych gerade in kleineren Unternehmen zu erleichtern und qualitativ zu unterstützen. So soll es betrieblichen Akteuren nach einer Schulung – und ggf. mit punktueller fachlicher Unterstützung – möglich sein, eine GBpsych in allen sieben Schritten selbstständig durchzuführen (GDA 2017). Herzstück ist das DYNAMIK-Websystem, das sowohl das Projektmanagement als auch die Messung von Belastungen und anschließende Maßnahmen zur Beseitigung der Belastungsursachen lückenlos anleitet. Die Ergebnisse dieser Forschung sollen über verschiedene wissenschaftliche und praxisbezogene Kommunikationswege allen Akteuren im betrieblichen Gesundheitsschutz sowie Führungskräften zur Verfügung gestellt werden.

Dieser Artikel soll eine Übersicht über Grundidee und Inhalte des Projekts DYNAMIK 4.0 geben und zusammenfassend auf erste Ergebnisse verweisen, die anderenorts ausführlicher dargestellt sind.

Methode

Methodisch geht das Projekt in folgenden Schritten vor, die hier nur grob skizziert werden können: In dem Forschungsverbund arbeiten Universitätsinstitute für Arbeitsmedizin, Medizinische Soziologie, Psychologie, Betriebswirtschaft, Gesundheitspsychologie (mit Schwerpunkt Occupational eMental Health), ein Fraunhofer Institut und ein Industrie-4.0-Unternehmen eng zusammen. Nach Etablierung organisationaler Strukturen für die Zusammenarbeit im Verbund wurden halbstrukturierte Leitfäden für qualitative Interviews erstellt, die sowohl mit betrieblich Verantwortlichen (Experten für Arbeits- und Gesundheitsschutz, Personal) als auch Beschäftigten in der Industrie-4.0-Produktion geführt wurden. Für die Wahl der Interviewpartner/-innen wurden repräsentative Arbeitsbereiche identifiziert, in denen aus arbeitsmedizinischer, stresstheoretischer und kognitiv-ergonomischer Perspektive relevante Belastungen auftreten. Themen der Interviews waren zum einen psychosoziale Belastungen sowie zum anderen spezifische Anforderungen an die GBpsych einschließlich einer unterstützenden Software – jeweils immer mit besonderem Fokus auf die spezifischen Aspekte, die eine „Smart Factory“ betreffen. Die systematische inhaltsanalytische Auswertung des umfangreichen Interviewmaterials bildete das Fundament der Entwicklung von ergänzenden Skalen zur Erfassung spezifischer psychosozialer und kognitiv-ergonomischer Belastungen, der Entwicklung eines strukturierten Prozesses zur Belastungsanalyse sowie -optimierung und der Integration der GBpsych in betriebliche Abläufe. Parallel wurden die Anforderungen an die zu entwickelnde Software analysiert und die neuen Erkenntnisse zu Inhalt und Ablauf der GBpsych systematisch in dieser Entwicklung umgesetzt. Ein zentrales Merkmal war der kontinuierliche Austausch wissenschaftlicher und praktisch-betrieblicher Perspektiven bei der Planung des Vorgehens. Nach Fertigstellung des Systems in einer Pilotversion wurde eine umfassende Schulung für betriebliche Experten entworfen und das ganze Vorgehen unter Einsatz der Software pilotiert, formativ evaluiert und in die betrieblichen Abläufe im Partnerunternehmen integriert.

In der folgenden Phase – die derzeit noch andauert – werden Schulung, unterstützende Begleitung und selbstständiger Einsatz des DYNAMIK-Websystems in fünf weiteren Unternehmen implementiert und evaluiert. Untersucht wird der Grad der Implementierung und der Akzeptanz – inklusive der Funktionalität der Software – für die Durchführung der GBPsych in Unternehmen, insbesondere KMU, sowie gesundheitliche, ergonomische und betriebswirtschaftlich-ökonomische Wirkungen.

Ergebnisse

Bei laufender Durchführung der Untersuchungen lassen sich derzeit nur Ergebnisse der ersten Untersuchungsschritte darstellen.

Aus den Interviews mit 38 Expertinnen und Experten aus dem Bereich Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz, Personalvertretung, Personalverantwortliche lassen sich neben den stresstheoretisch bekannten Belastungen neue benennen, die aus den Arbeitsbedingungen der Industrie 4.0 resultieren (Diebig et al. 2018):

  1. Wo Produktionsprozesse von Maschinen übernommen werden, steigen auch die Anforderungen an Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Daraus resultieren eine steigende Bedeutung der Mensch-Maschine-Kommunikation und eine quantitative Abnahme der interpersonalen Kommunikation – mit bisher schwer abschätzbaren Folgen. Hierzu zählen auch Belastungen durch technische Probleme (sog. „Technostress“).
  2. Eine beschleunigte Produktion erfordert vermehrte, flexible Verfügbarkeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, führt zu Arbeitsverdichtung und steigendem Zeitdruck.
  3. Wenn auch in der Produktion ortsungebundenes Arbeiten durch Fernüberwachung möglich ist, sind Belastungen durch Entgrenzung der Arbeit und Konflikte zwischen privaten und beruflichen Lebensbereichen zu erwarten.
  4. Steigende Komplexität der Arbeiten, die nicht von Maschinen übernommen werden können, erfordert erhöhte Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diese paradoxerweise nur selten, nämlich primär in Störfällen einsetzen müssen.
  5. Die Übernahme von Produktionsprozessen durch ITS beraubt Beschäftigten eines Teils ihres Handlungsspielraums, einer zentralen psychosoziale Ressource.
  6. Die Digitalisierung aller Produktionsprozesse macht eine lückenlose, minutiöse Überwachung der Beschäftigten möglich.

Wie begleitenden Analysen zeigen, erfordert Letzteres einen differenzierten Umgang, insbesondere Transparenz, Partizipationsmöglichkeiten und klare Regeln zu Zweck von und Umgang mit den gewonnene Daten, um negative Konsequenzen für Gesundheit und Motivation der Beschäftigten zu vermeiden (Diebig et al. 2017).

Für die Durchführung der GBpsych ergeben sich daraus neue Herausforderungen (Diebig et al. 2018):

  1. Erfassung der erwarteten neuen Belastungen;
  2. Neubestimmung dessen, was als Arbeitsplatz definiert wird, wenn auch außerhalb des Betriebs gearbeitet wird;
  3. damit einhergehend steigende Anforderungen an die Datenerhebung, damit auch nicht örtlich anwesende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt werden können;
  4. kürzere Intervalle zwischen den GBpsych-Zyklen bei häufigeren Änderungen der Arbeitsbedingungen;
  5. Beachtung der zunehmenden Internationalität der Beschäftigten – z.B. durch sprachliche Vielfalt der Erhebungsinstrumente.

Dabei nehmen unterschiedliche Akteure wie Interessenvertretungen, Führungskräfte, Geschäftsführung, Betriebsärzte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit oder Personaler ganz unterschiedliche Sichtweisen ihrer Rollen und die der jeweils anderen ein, die zu Prozess-, Beurteilungs- und Beziehungskonflikten führen können; für einen reibungslosen Ablauf ist – so zeigt dieser Forschungsansatz – die Einbindung aller relevanten Akteure, die Schaffung einer gemeinsamen Wissensgrundlage und eine klare Festlegung der Zuständigkeiten von entscheidender Bedeutung (Wulf et al. 2017).

Die Einschätzung auf Expertenseite findet ihre Entsprechung in den Aussagen der betroffenen Beschäftigten (n=36). Sie nehmen neue Belastungen v.a. durch eine vermehrte und veränderte Mensch-Maschine-Interaktion wahr, durch Erfordernisse an die sog „Situation Awareness“, d. h. die adäquate mentale Repräsentation der Situation, ein Bewusstsein für das, was gerade im Gange ist, und durch erhöhte Qualifikationsanforderungen (Körner et al. eingereicht).

Diskussion

Diese ersten Ergebnisse des noch laufenden Forschungsprojekts bestätigten die Annahme, dass eine industrielle Fertigungstechnik basierend auf ITS bzw. CPS mit neuen psychosozialen und kognitiv-ergonomischen Belastungen verbunden sein kann.

Auch wenn sich die meisten Belastungen in der Industrie 4.0 durch die etablierten Arbeitsstressmodelle abbilden lassen (Diebig et al. 2018), sind die vorhandene Tätigkeitsanalyseinstrumente, durch die Belastungen konkretisiert und operationalisiert werden, zu wenig spezifisch, um deren Ursachen zu erfassen. Das in dem Projekt entwickelte DYNAMIK-Websystem trägt dem Rechnung, indem die zentralen Belastungen, deren Gefährdungspotenzial immer beurteilt werden muss (GDA 2017), um typische spezifische Belastungen der Industrie 4.0 ergänzt werden. Dabei ist das DYNAMIK-Websystem so ausgelegt, dass je nach Situation weitere spezifische Skalen zur Erfassung von Belastungen hinzugefügt und in der GBpsych erfasst werden können; d.h. dass neue, heute noch nicht relevante Belastungen (z.B. durch vermehrten Einsatz von Künstlicher Intelligenz in Robotern) rasch erkannt und in die Skalen eingearbeitet werden können.

Zudem bestätigt sich, dass der Prozess der GBpsych, insbesondere unter den sich ändernden Arbeitsbedingungen in der Industrie 4.0 und vor allem in KMU, mit Herausforderungen verbunden ist, deren Lösung die Unterstützung durch Experten erfordert. Das DYNAMIK-Websystem versucht daher, möglichst viel Expertenwissen in der Software abzubilden, um so mit vergleichsweise geringem Aufwand geschulte innerbetriebliche Akteure in die Lage zu versetzen, die GBpsych weitgehend selbstständig durchzuführen und fortzuschreiben. Abrufbares Expertenwissen betrifft z.B. Planung, Ablaufgestaltung, notwendige Kommunikation und weitere Punkte zur Vorgehensweise der GBpsych (Weigl et al. 2015; Schuller et al, 2018), die Interpretation der Befragungsergebnisse (z.B. kritische Merkmalskombinationen bei hohen Anforderungen und niedrige Kontrolle) oder bewährte Maßnahmen zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Dabei werden die besonderen Erfordernisse der GBpsych in KMU berücksichtigt.

Ein Alleinstellungsmerkmal des DYNAMIK-Websystem ist es, dass es eine webbasierte Unterstützung für den gesamten Prozess der GBPsych anbietet, wobei der Schwerpunkt auf der webbasierten Erfassung von Belastungen, deren Analyse, der Entwicklung entsprechender Maßnahmen und dem Monitoring von deren Umsetzung und Evaluation sowie der transparenten Kommunikation des GBPsych in die betriebliche Öffentlichkeit liegt. Dadurch können die Beschäftigten über die jeweils anstehenden Schritte und die Umsetzung von Maßnahmen informiert werden. Parallel zur fortschreitenden Digitalisierung der Arbeit steigt damit auch der Grad der Digitalisierung der GBPsych. Perspektivisch erlaubt diese Digitalisierung eine intelligente Vernetzung mit weiterführenden digitalen Angeboten der Verhältnis- und Verhaltensprävention, wie z.B. webbasierten Trainings zur Stressreduktion (Nobis et al. 2018).

Wie eine aktuelle Literaturübersicht zeigt, sind die gesundheitlichen Konsequenzen der neuen Belastungen in der Industrie 4.0 noch wenig erforscht; es gibt jedoch erste empirische Daten, die auf empfundenen Stress und Ängste in Folge von schlechter Bedienbarkeit von digital gesteuerten Systemen und technischen Störungen in der Mensch-Maschine-Interaktion hinweisen (Müller-Thur et al. 2018).

Limitationen des Systems sind zum einen, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt Schulungen durch Experten mit Bezug auf das Grundverständnis des Prozesses und die Bedienung des Websystems erforderlich sind; weitere Hilfen für Anwender (z.B. Erklärvideos) sind in Planung. Darüber hinaus stößt das System dort an die Grenzen, wo die GBpsych an sich an Grenzen stößt: Beispielsweise die im Bereich Psyche besonders komplexe Interaktion zwischen objektiv erfassbaren psychosozialen Merkmalen (Belastung) und subjektiven Reaktionen (Beanspruchung), v.a. aber die Ableitung von Maßnahmen im Betrieb. Die externe Validität der Befragungsskalen wird derzeit weiter überprüft. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Gefährdungsbeurteilung insgesamt nicht nur die psychischen, sondern auch zahlreiche andere Belastungen betrifft, die mit dem System nicht direkt erfasst werden.

Ein verbreiteter Einsatz des Systems DYNAMIK 4.0, möglich nach Projektabschluss Mitte des kommenden Jahres, liefert im Rahmen wissenschaftlich begleiteter Projekte die Möglichkeit, Erkenntnisse über die gesundheitliche Bedeutung der neuen Belastungen zu gewinnen und wiederum in die GBpsych zu integrieren. Ein mit zunehmender Anwendung wachsender Fundus an interventionellen Maßnahmen, die im Rahmen des Systemeinsatzes aus betrieblicher Sicht bewertet werden, hilft bei dem bislang kritischen Punkt, aus erkannten Gefährdungen Konsequenzen für die Arbeitsgestaltung zu ziehen.

Fazit

Die laufenden Anwendungsbeobachtungen, Rückmeldungen von den Anwendern und Anfragen aus der Industrie zeigen bereits, dass auch das Ziel, die GBpsych besonders für KMU handhabbarer zu machen, erreicht werden könnte. Ob dieses Ergebnis tatsächlich eintreten wird, muss sich allerdings in der laufenden Evaluation noch erweisen.

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

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Dragano N, Müller-Thur K, Lunau T: Digitalisierung der Arbeitswelt – Arbeit 4.0 und die Folgen für die psychosomatische Gesundheit. In: Brähler E, Herzog W (Hrsg.): Sozialpsychosomatik – Das vergessene Soziale in der Psychosomatik. Stuttgart: Schattauer, 2018.

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Für die Verfasser

Prof. Dr. med. Peter Angerer

Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin

Medizinische Fakultät der Heinrich Heine Universität Düsseldorf

Universitätsstraße 1

40225 Düsseldorf

peter.angerer@hhu.de

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2018; 53: 718–722

Fußnoten

Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin (Direktor: Prof. Dr. med. Peter Angerer), Medizinische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf