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Kognitive Störungen bei Multipler Sklerose

Kognitive Störungen gehören zu den sog. unsichtbaren Symptomen der Multiplen Sklerose (MS), dennoch wirken sie sich für die Betroffenen spürbar auf die berufliche und soziale Teilhabe aus. Erst in den letzten Jahren hat sich die Forschung mit diesen lange vernachlässigten Auswirkungen von MS auf die Kognition und mit den Folgen dieser Störungen auf Arbeitsfähigkeit und Lebensqualität beschäftigt.

Fortschritte in der Bildgebung sowie in den neuropsychologischen Untersuchungsmethoden erlauben inzwischen einen differenzierteren Blick auf Läsionen, Atrophien und damit assoziierte Einschränkungen, was dabei hilft, mit diesen Symptomen umzugehen und nach adäquaten Behandlungsmethoden zu suchen.

Typischerweise berichten die Patienten – wenn überhaupt – zunächst von subtilen Veränderungen beispielsweise in der Fähig-keit, mit mehreren Reizen gleichzeitig umzugehen. Aus Scham oder der Unkenntnis, dass diese etwas mit der MS zu tun haben könnten, verschweigen auch einige Patien-ten ihre Symptome gegenüber den behan-delnden Ärzten, diese wiederum fragen nicht oft genug gezielt nach. Hier ist von Seiten der Mediziner sensibles Explorieren sowie Fachkenntnis über Symptome, Diagnostik und Behandlung gefragt.

Häufigkeit neuropsychologischer Störungen

Abhängig vom Untersuchungssetting leiden zwischen 30 % und 65 % der MS-Betroffenen unter mehr oder weniger stark ausgeprägten kognitiven Einschränkungen. Das Ausmaß der körperlichen Symptome korreliert dabei nicht mit den kognitiven Einschränkungen, zumal diese auch isoliert auftreten können.

Kognitive Einschränkungen bei MS

Da nicht alle kognitiven Domänen bei der MS betroffen sind, hat sich der Begriff des „kognitiven Kerndefizits“ gebildet. Darunter werden folgende Defizite subsummiert:

  • Störungen bei Aufmerksamkeit und Konzentration (z. B. Auswirkungen auf die Fähigkeit, lange Zeit konzentriert zu ar-beiten und sich dabei durch Störungen nicht ablenken zu lassen),
  • verlangsamte Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit (z. B. Auswirkungen auf die Fähigkeit, Sachverhalte schnell zu erfassen),
  • Gedächtnisstörungen (z. B. Auswirkungen auf die Fähigkeit, sich Termine zu merken oder auch Filmen oder Büchern folgen zu können),
  • visuell-räumliche Störungen (z. B. Auswir-kungen auf die Fähigkeit, Karten zu lesen oder sich in fremder Umgebung zurecht zu finden),
  • gestörte exekutive Funktionen (z. B. Auswirkungen auf die Fähigkeit, Tätigkeiten zu planen, Prioritäten zu setzen etc.).

Neuropsychologische Störungen und Bildgebung

Aufgrund von Fortschritten in den bildge-benden Verfahren (z. B. durch DIR-Sequenzen im MRT, „Double Inversion Recovery“) konnte mittlerweile nachgewiesen werden, dass nicht nur Läsionen der weißen Substanz, wie sie seit vielen Jahren im MRT ab-gebildet werden können, bei der MS eine Rolle spielen, sondern vielmehr auch intrakortikale Läsionen vorhanden sind. Diese können sogar noch stärker mit kognitiven Defiziten assoziiert werden als eine Hirn-atrophie, die lange Zeit als der beste Marker galt (Calabrese et al. 2012). So konnte gezeigt werden, dass bei Patienten mit einer schubförmigen MS die kognitiven Defizite mit der Anzahl und dem Ausmaß kortikaler Läsionen und Atrophien im MRT korrelie-ren (Calabrese et al. 2009). Insbesondere die Verarbeitungsgeschwindigkeit scheint damit in Zusammenhang zu stehen. Das Aus-maß der Schädigung der weißen Substanz erlaubt hingegen keine Rückschlüsse auf kognitive Schädigungen.

In einer fMRT-Untersuchung konnte zu-dem gezeigt werden, dass MS-Patienten mit leichten kognitiven Defiziten bei Aufgaben offensichtlich vor allem frontale Areale zusätzlich aktivieren, was für eine Kompensa-tion spricht. Bei schweren kognitiven Einschränkungen scheint schließlich auch diese Kompensation zu versagen.

Diagnostik

Aufgrund der hohen Prävalenz sollte eine neuropsychologische Diagnostik bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Krankheitsverlauf erfolgen, um auch leichte kognitive De-fizite abzubilden und behandeln zu können. Regelmäßige Verlaufskontrollen sind empfehlenswert. Eine aussagekräftige neuropsychologische Diagnostik gehört in die Hände von erfahrenen Neuropsychologen. Da eine ausführliche Diagnostik mit entsprechender Auswertung sehr zeitintensiv ist, wurden ökonomische Screening-Instrumente entwickelt. Der BICAMS ist nach Ansicht der Autoren ein sehr ökonomisches Verfahren mit hoher Sensitivität ( Tabelle 1).

Als weiterer Parameter in der Diagnostik muss die Depression betrachtet werden: Patienten mit einer klinisch relevanten Depression schätzen ihre kognitive Leistungs-fähigkeit als besonders schlecht ein, und auch die testpsychologischen Messwerte sind schlecht („Pseudodemenz bei Depression“). Bessert sich jedoch die Depression mit Hilfe einer angemessenen Therapie, so bessern sich ebenfalls die subjektiv wahrgenommenen Einschränkungen und die „objektiven“ Messergebnisse. „Echte“ neuropsychologische Defizite bleiben auch nach Behandlung der depressiven Symptomatik bestehen, nur der Leidensdruck ist dann zu-meist geringer. Ähnlich verhält es sich mit der Fatigue: auch diese kann Auswirkungen auf die Selbsteinschätzung haben und sollte bei Klagen der Patienten über verminderte kognitive Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden.

Therapie

Eine angemessene Behandlung kann nur individuell auf der Grundlage einer ausführ-lichen Diagnostik erfolgen – es gibt keine allgemeingültigen Empfehlungen.

Da es zum momentanen Zeitpunkt noch keine ursächlichen Therapien gibt, kommen symptomatischen bzw. kompensatorischen Therapien und dem adäquaten Umgang mit Störungen Schlüsselrollen zu.

Es gibt Hinweise, dass immunmodulie-rende Therapien sich langfristig auch schüt-zend auf die kognitive Leistungsfähigkeit aus-wirken. Diese führen aber bei bestehenden Störungen nicht zu Verbesserungen (Patti et al. 2010). Medikamente wie z. B. Donepezil, Modafinil, Methylphenidat, Amphetamine etc., die bei anderen Erkrankungen positive Effekte auf die kognitive Leistungsfähigkeit zeigten, konnten keine replizierbaren positiven Effekte zeigen.

Die Therapie einer klinisch relevanten Depression oder Fatigue ist indiziert.

Da auch die Forschung zur Effektivität von standardisierten neuropsychologischen Therapieverfahren noch in den Kinderschuhen steckt, ist für die meisten Patienten die individualisierte kognitive Rehabilitation er-gänzendes oder alleiniges Mittel der Wahl. Dies geht jedoch über das klassische Hirnleistungstraining hinaus: Anhand der iden-tifizierten Defizite wird eine individualisierte Trainingsprozedur entwickelt, um kompensatorische Verarbeitungswege anzuregen. Als wirksam erwiesen hat sich ein computer-gestütztes Verfahren zur Verbesserung der Aufmerksamkeitsleistungen. Wie bei allen Trainings kommt es hier auf Umfang, Regelmäßigkeit und Individualisierung an. Und: (Ausdauer-)Sport kann sich positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirken!

Entscheidend für die Lebensqualität und auch die Arbeitsfähigkeit der Patienten ist je-doch insbesondere der Umgang mit den Ein-schränkungen. Aufklärung und Information sind wichtig, damit Patienten sich aktiv mit den Einschränkungen auseinander setzen beziehungsweise nach praktikablen Lösungen suchen können. Bei milden kognitiven Einschränkungen und guter Compliance können viel leichter Kompensationsstrategien etabliert werden, als bei schweren Defiziten.

Kompensationsstrategien und der Um-gang mit kognitiven Einschränkungen am Arbeitsplatz

Aufklärung

Eine Aufklärung der Betroffenen, aber auch der Kollegen und Vorgesetzten über Charakteristika kognitiver Störungen ist durch-aus sinnvoll, um Missverständnisse zu vermeiden und Vorurteile und Ängste abzubauen. Kognitive Störungen bedeuten nicht, dass eine Arbeit gar nicht mehr ausgeführt werden kann. Oft benötigen die Betroffenen nur mehr Zeit und gute Umgebungsbedingungen ( Tabelle 2).

Anpassen des Arbeitsplatzes

  • besser Einzel- als Großraumbüros,
  • feste Sprechzeiten oder Einsatz eines Anrufbeantworters, um häufige Unterbrechungen zu vermeiden,
  • bei Gesprächen für eine ruhige Umgebung sorgen und viel nachfragen, um Informationen besser zu behalten (Gesprächspartner im Idealfall darüber aufklären),
  • flexible Pausenregelungen,
  • mehr Zeitpuffer einbauen, um Stress und Überforderung zu vermeiden,
  • Routinetätigkeiten in Zeiten mit geringe-rer Leistungsfähigkeit legen,
  • Absprachen mit Kollegen, wie sinnvolle Unterstützung aussehen kann, Delegieren von Tätigkeiten,
  • Etablieren von Kompensationsstrategien (s. unten), am besten auch in Absprache mit dem Team,
  • klären, ob der Arbeitsplatz durch die kog-nitiven Defizite Gefährdungen aufweist,
  • evtl. Aufgabengebiete neu definieren.

Verlaufskontrollen

Bei guten Abstimmungen können qualifizierte Mitarbeiter auch mit leichten kognitiven Störungen noch lange im Arbeitsleben bleiben. Da aber auch kognitive Defizite im längeren Verlauf eine – auch schubunabhän-gige – Progredienz aufweisen (Calabrese et al. 2012), sind regelmäßige Verlaufskontrollen und Mitarbeitergespräche sinnvoll, um Frust und Überforderung auf beiden Seiten zu vermeiden.

Zusammenfassung Vorgehensweise bei kognitiven Störungen

  • Standardmäßig ansprechen, Aufklären und informieren
  • Screening durchführen
  • Bei Auffälligkeiten Abklären durch Fach-arzt/Neuropsychologen:
    • Differenzialdiagnostik, Abgrenzung zu Depression und Fatigue
    • ausführliche neuropsychologische Diagnostik und Rehabilitation
    • Medikation optimieren
  • Kompensationsstrategien etablieren, am Arbeitsplatz nach praktikablen Lösungen suchen
  • Regelmäßige Verlaufskontrollen und Ge-spräche 

Literatur

Calabrese M, Agosta F, Rinaldi F et al.: Cortical lesions and atrophy associated with cognitive im-pairment in relapse-remitting multiple sclerosis. Arch Neurol 2009; 66: 1144–1150.

Calabrese M, Poretto V, Favaretto A et al.: Cortical lesion load associates with progression of disability in multiple sclerosis. Brain 2012; 135: 2952–2961.

Patti F, Leone C, D'Amico E: Treatment options of cognitive impairment in multiple sclerosis. Neurol Sci 2010; 31 (Suppl. 2): 265–269.

    Autor

    Kathrin von der Heiden M.Sc./PPT

    DMSG-Landesverband NRW e. V.

    Sonnenstraße 14

    40227 Düsseldorf

    vonderheiden@dmsg-nrw.de

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