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Subjektives Erleben verbaler Aggressionen gegen Mitarbeitende in deutschen Kliniken: eine explorative Studie

Subjektives Erleben verbaler Aggressionen gegen Mitarbeitende in deutschen Kliniken: eine explorative Studie

Ziel: Erstellung einer explorativen Studie über das subjektive Erleben verbaler Aggressionen gegen Mitarbeitende in deutschen Kliniken.

Methode: Mittels einer schriftlichen bzw. Online-Befragung wurden 1053 Mit-arbeitende mit einem selbst entwickelten Fragebogen zum Erleben von Häufigkeiten und Auswirkungen verschiedener Aggressionsformen befragt. Die Stichprobe bestand überwiegend aus Mitarbeitenden psychiatrischer Einrichtungen.

Ergebnisse: 16 % der Befragten gaben an, verbale Aggressionen täglich in den letzten 6 Monaten erlebt zu haben. Als besonders belastend wurden Drohungen erlebt. In der multivariaten Analyse der Gesamtbelastung durch verbale Aggressionen erwies sich hinsichtlich der soziodemografischen Merkmale die Berufsgruppe der Pflege als signifikanter Prädiktor sowie ein Lebensalter unter 26 Jahren. Weitere signifikante Prädiktoren waren häufige Beschimpfungen, häufiges Erleben rüder Sprache, häufiges Verweigerungsverhalten von Patienten, sowie sich durch Drohungen, sexuelle Anmache, rüde Sprache belastet zu fühlen. Häufiges Deeskalationsverhalten hingegen wirkte sich signifikant protektiv aus.

Schlussfolgerungen: Verbalen Aggressionen muss mehr Aufmerksamkeit durch Klinikleitungen und Betriebsärzten gewidmet werden. Präventionsprogramme, die heute zumeist auf körperliche Aggressionen ausgerichtet sind, sollten in Richtung verbaler Deeskalation weiterentwickelt werden.

Schlüsselwörter: Aggression – Mitarbeiter – Arbeitsbelastung

Subjective experience of verbal aggression against health care staff in German hospitals: an explorative study

Aim: Explorative study on the subjective experience of verbal aggression against health care staff in German hospitals.

Methods: 1,053 staff, predominantly from mental health care institutions, were interviewed by utilising a paper/pencil and online questionnaire. Topics were the frequencies and the consequences of different types of verbal aggression.

Results: 16 % had experienced verbal aggression daily during 6 months before the study. Threats were experienced as severely stressful. Utilising a multivariate analysis of the total stress following verbal aggression, the nursing profession and staff under 26 years revealed to be significant predictors. Further predictors were: the experience of rude language, patient non-compliance, and being stressed by threats, sexual harassment and rude language. Being able to deescalate was significantly protective.

Conclusions: Verbal aggression needs to receive more attention by hospital management and occupational physicians. Current prevention programmes which primarily aim at managing physical aggression need to be further developed with elements of verbal de-escalation.

Keywords: aggression – staff – occupational stress

D. Richter

(eingegangen am 14. 08. 2013, angenommen am 17. 05. 2014)

Verbale Aggressionen kommen im Arbeitsalltag von Pflegenden und anderen Mitarbeitenden des Gesundheitswesens häufig vor. Aktuelle Studien berichten etwa, dass bis zu 100 % der Mitarbeitenden von verbalen Aggressionen betroffen sind (McLaughlin et al. 2009). Die bisher vorliegende wissenschaftliche Literatur hat sich überwiegend mit verbalen Attacken durch Kollegen der eigenen oder anderer Professionen befasst. Zahlreiche Studien aus der Pflege zeigen auf, wie sehr bestimmte Arbeitsbereiche (beispielsweise der Operationssaal) von verbalen Aggressionen beeinträchtigt werden (Manderino u. Berkey 1997; Buback 2004; Rowe u. Sherlock 2005).

Im Gegensatz zu körperlichen Angriffen sind verbale Aggressionen durch Patienten und Angehörige bislang kaum systematisch untersucht worden. Körperlichen Aggressionen wird heutzutage in verschiedenen Settings mit Präventionsprogrammen wie Deeskalation und Nachsorge begegnet. Verschiedene Untersuchungen zeigen jedoch auf, dass verbale Aggressionen oft vorkommen und eine zusätzliche psychosoziale Belastung für Mitarbeitende im Gesundheits-wesen darstellen (Hahn et al. 2008, 2012). Die Folgen für die betroffenen Pflegenden, Ärzte und andere Beteiligte können nach den vorliegenden Daten durchaus erheblich sein.

Mehrere Studien, die sich sowohl körperlichen und verbaler Aggressionen gleichzeitig gewidmet haben, berichten, dass die Studienteilnehmenden verbale Aggressionen als mindestens genauso gravierend einschätzen (Walsh u. Clarke 2003; Gerberich et al. 2004; Wieclaw et al. 2006). Von körperlicher Gewalt gegen Mitarbeitende sind psychische Belastungen bis hin zu chronischen posttraumatischen Belastungsstörungen bekannt (Richter u. Berger 2000, 2009; Needham 2006). Von daher stellt sich die Frage, wie sehr auch verbale Aggressionen zu den psychosozialen Belastungen bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen beitragen.

Warum verbale Aggressionen in der Forschung, aber auch in der Praxis, bisher kaum Beachtung finden, darüber kann nur spekuliert werden. Sicher besteht in der Mitarbeiterschaft mehr noch als bei körperlicher Gewalt die Einstellung, dass verbale Aggressionen zum Arbeitsalltag dazugehören und somit auch als weniger schwer im Alltag eingeschätzt werden (Arnetz 1998). Viele Mitarbeitende haben sich vermutlich mit diesem Sachverhalt arrangiert und sich an die Belastung adaptiert. Wie weit verbreitet diese Adaption ist und wie groß tatsächlich das Ausmaß der Belastung erlebt wird, darüber gibt es kaum verlässliches Datenmaterial.

Hinzu kommt jedoch noch ein weiterer Umstand, der die For-schung über verbale Aggressionen erschwert. Die theoretische Bestimmung sowie die Operationalisierung verbaler Aggressionen für quantitative Instrumente sind nicht trivial. Die Probleme beginnen bei der Definition: Was unterscheidet eine Patientenbeschwerde von einem aggressiven Sprechakt? Die Einschätzung des Sachverhalts sowie die möglichen nachfolgenden Belastungsreaktionen hängen von vielen Einflussfaktoren ab. Die Subjektivität der Wahrnehmung und der Einschätzung spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Das kann etwa dazu führen, dass auch nicht als aggressiv in-tendierte Sprechakte von den Rezipienten durchaus als aggressiv betrachtet werden können. Fremdbeobachtung und Selbstwahrnehmung verbaler Aggressionen korrelieren einer Studie aus dem Bereich der häuslichen Gewalt zufolge nur mäßig (van Dulmen et al. 2012). Daher verwundert es nicht, dass valide Instrumente zur Messung verbaler Aggressionen bisher kaum entwickelt werden konnten. Dies gilt im Übrigen auch für andere Bereiche der Aggres-sionsforschung. Aus der Forschung über häusliche Gewalt werden verschiedentlich methodenkritische Beiträge generiert, die die Problematik mehr als deutlich machen, beispielsweise die Frage, ob es zulässig sei, nur die Rezipienten aggressiver Sprechakte zu befragen und nicht die Sprecher (Follingstad 2007).

Um dennoch für das Gesundheitswesen einen ersten explorativen Zugang zur Thematik schaffen zu können, insbesondere zu Ausmaß und Umfang verbaler Aggressionen, wurde eine Befragung in mehreren psychiatrischen Kliniken und in einer somatischen Klinik in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Methodisch wurde dabei die Wahrnehmung der von verbalen Aggressionen betroffenen Mitarbeitenden genutzt. Dies hatte vor allem den Grund, dass nur so der Zusammenhang mit der subjektiven Belastung hergestellt werden konnte.

Einen ähnlichen Ansatz hatte die Studie von Franz et al. (2010), die ebenfalls Beschäftigte des deutschen Gesundheitswesens hinsichtlich der Belastung befragte. Allerdings wurden hier die Folgen verbaler und körperlicher Aggressionen gemeinsam erhoben, und angesichts einer relativ kleinen Stichprobe konnten Regressionsanalysen nur univariat erfolgen. Die nachfolgend berichtete Studie konnte mit einer relativ großen Stichprobe eine multivariate Analyse der Prädiktoren für Belastungserleben durchführen.

Methode und Stichprobe

Im Anschluss an eine qualitative Studie zu der gleichen Thematik (Richter 2014) wurde unter den teilnehmenden Einrichtungen die Bereitschaft zur Fortführung des Projekts mit einer Fragebogenstudie erfragt. Die nachfolgend berichtete Umfrage unter den Mitarbeitenden wurde in 9 psychiatrischen und einer somatischen Klinik durchgeführt.

Für die Umfrage wurde auf der Basis der ersten Resultate des Fokusgruppen-Interviews ein Fragebogen entwickelt, der sich hinsichtlich der Methodik an Instrumenten aus der Forschung über Gewalt in intimen Partnerschaften orientierte (Thompson et al. 2006). Dieser Ansatz wurde gewählt, weil in den entsprechenden Studien relativ differenziert nach verschiedenen Formen verbaler Aggression gefragt wird. Demgegenüber wird in den üblichen Reporting-Systemen für Gewalt im Gesundheitswesen, etwa im „Staff Observation Aggression Scale – Revised“ (SOAS-R; Nijman et al. 2005), die verbale Aggression nur kurz und als eine unter vielen Gewaltformen erfragt.

Neben soziodemografischen Angaben und Daten zur beruflichen Tätigkeit enthielt das Instrument Fragen zur Häufigkeit des Erlebens bestimmter verbaler Aggressionen sowie zur subjektiven Belastung durch bestimmte verbale Aggressionen. Die Frage zur Häufigkeit lautete: „Wie häufig haben Sie die folgenden verbalen Aggressionen in den letzten sechs Monaten erlebt?“ (Beschimpfungen, Bedrohungen etc.). Als Antwortmöglichkeiten standen zur Verfügung: An jedem Arbeitstag/Nicht an jedem Arbeitstag, aber mehrmals pro Woche/Mehrmals pro Monat etc. Die Frage zur Belastung lautete: „Wie sehr belasten Sie die genannten verbalen Aggressionen?“ (Antwortmöglichkeiten: Das belastet mich immer/häufig/manchmal/nie).

Folgende Formen verbaler Aggression wurden von den Befragten im Detail erfragt: Beschimpfungen/Bedrohungen,

  • Drohungen mit körperlicher Gewalt,
  • Todesdrohungen,
  • Drohungen gegen Ihre Angehörigen,
  • Lächerlichmachen Ihrer Person,
  • Anzweifeln der beruflichen Fähigkeiten und Kenntnisse,
  • sexuelle Angebote, Beziehungsangebote, Anmache,
  • verrohte/rüde Sprache,
  • Verweigerungshaltungen von PatientInnen, KlientInnen, Bewoh-nerInnen.

Weiterhin wurden die Antwortenden zu Reaktionen auf und dem Umgang mit der Problematik (personenbezogen und teambezogen) sowie zur Einschätzung zur Schwere von körperlichen und verbalen Aggressionen befragt. Bezüglich der verbalen Aggression lautete die Frage beispielsweise: „Wenn Sie Ihre gesamte Arbeitsbelastung (Stress, Schichtdienst, schwieriges Klientel etc.) bedenken, wie groß würden Sie den Anteil verbaler Aggressionen an der Belastung einschätzen?“ Als Antwortmöglichkeit stand eine Skala von 0–10 zur Verfügung. Schließlich wurden die Teilnehmenden zu einer Einschätzung gebeten, ob sie im Laufe ihres Berufslebens leichter oder schwerer mit der Thematik umgehen konnten.

In einer Klinik erfolgte die Befragung online über das Web-Tool „Surveymonkey“ (http://www.surveymonkey.com), in allen anderen Klini-ken wurde ein Fragebogen unter interessierten Mitarbeitenden verteilt.

Die Daten wurden zunächst deskriptiv auswertet. In einem wei-teren Schritt wurde die Einschätzung, wie groß der Anteil verbaler Aggressionen am der gesamten Arbeitsbelastung ist, mittels einer logistischen Regression analysiert. Zu diesem Zweck wurde die Variable der Einschätzung der Schwere der verbalen Aggression dicho-tomisiert (Werte 0–4 = 0; 5–10 = 1). Alle anderen Variablen wurden ebenfalls dichotomisiert bzw. in Dummy-Variablen umkodiert, um adäquate Voraussetzungen für eine logistische Regression zu schaffen. Sämtliche Variablen des Fragebogens wurden dann in eine logistische Regression gesteckt und mit einem Rückwärtsselektionsverfahren gemäß AIC (Akaike 1974) auf ein finales Modell reduziert.

Ergebnisse

An der Umfrage haben sich insgesamt 1053 Mitarbeitende beteiligt, mit Ausnahme einer somatischen Klinik handelte es sich ausnahms-los um Beschäftigte psychiatrischer Einrichtungen. Für die schrift-liche Befragung beträgt der Rücklauf 43 % der ausgegebenen Frage-bögen. Die Befragten waren im Durchschnitt 38,8 Jahre alt und verfügten über eine Berufserfahrung von 15,8 Jahren im Mittel. Zwei Drittel der Befragten waren Frauen und knapp 62 % arbeiteten in der Pflege. Andere Berufsgruppen waren überwiegend der ärztliche Dienst sowie erzieherische Professionen im Heimbereich und in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Die soziodemografischen und arbeitsplatzbezogenen Daten sind in  Tabelle 1 enthalten.

Häufigkeit und Erleben verbaler Aggressionen

Zunächst wurden die Befragten gebeten, anzugeben, wie häufig sie einzelne Formen von Aggression in den letzten 6 Monaten vor der Befragung erlebt hatten. Nach Aufaddieren der einzelnen Angaben stellte sich heraus, dass mehr als 16 % der Befragten angegeben hatten, täglich irgendeine verbale Aggression zu erleben ( Tabelle 2). Bei 39 % war dies mindestens wöchentlich der Fall und bei 55 % mindestens monatlich. Niemals in den letzten 6 Monaten hatten lediglich 7 % keine verbale Aggression erlebt.

Auffällig sind die erheblichen Unterschiede zwischen den Settings. Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie erlebten knapp 30 % der Teilnehmenden tägliche verbale Aggressionen, in der somatischen Klinik waren es nur 2 %. Über den zugrunde gelegten Befragungszeitraum hinweg näherten sich die Werte jedoch deutlich an. Niemals in den letzten 6 Monaten hatten in der Somatik nur knapp 3 % der Befragten keine verbale Aggression erlebt, in der Erwachsenpsychiatrie waren es immerhin über 8 %.

Die mit Abstand am häufigsten erlebte Aggressionsform war das Verweigerungsverhalten von PatientInnen bzw. BewohnerInnen ( Abb. 1). Über 40 % der TeilnehmerInnen gaben an, dieses Verhalten mehrmals pro Woche erlebt zu haben. Es folgten relativ gleichauf die rüde Sprache und das Beschimpfen mit jeweils etwas über 20 %. Etwas mehr als 5 % der Befragten hatten erlebt, dass ihre beruflichen Kompetenzen mehrmals pro Woche angezweifelt und sie lächerlich gemacht wurden. Etwas seltener waren Bedrohungen, die von 4,5 % mehrmals pro Woche erlebt wurden. Sexuelle Avancen erlebten 2 % mehrmals pro Woche, erwartungsgemäß waren Frauen davon häufiger betroffen als Männer (2,8 % vs. 0,3 %).

Weitere Analysen zeigen, dass die Aggressionsformen in den verschiedenen Settings recht unterschiedlich vorkommen bzw. berichtet werden (hier nicht dargestellt). Während die Verweigerungshaltung insbesondere in den psychiatrischen Kliniken vorherrscht, wird dieses als aggressiv erlebte Verhalten aus den anderen Bereichen deutlich seltener berichtet. Die rüde Sprache ist ein Merkmal, das vorwiegend in der Kinder- und Jugend-psychiatrie wahrgenommen wird. Demgegenüber werden die häufigsten Äußerungen über das Lächerlichmachen und die Drohun-gen aus der Forensik gemeldet.

Subjektive Belastung durch verbale Aggressionen

Ein weiterer Themenbereich der Umfrage war die subjektive Belastung durch die einzelnen Aggressionsformen.  Abbildung 2 enthält die Auswertung zu diesem Thema über alle Settings hinweg. Angegeben sind dort die Angaben über verbale Aggressionsformen, die häufig oder immer als belastend erlebt werden. Es zeigt sich, dass diesbezüglich insbesondere Drohungen von hoher Relevanz sind. Die drei Aggressionsformen der Drohungen gegen die eigene Person, Todesdrohungen sowie Drohungen gegen Angehörige der Mitarbeitenden nehmen die Spitzenplätze ein. Ungefähr ein Drittel der Befragten fühlte sich häufig oder immer durch derartige Äußerungen belastet.

Aufschlussreich sind auch die weiteren Aggressionsformen. Immerhin ein Fünftel der Befragten hat angegeben, durch Verweigerungsverhalten immer bzw. häufig belastet zu sein. In einer ähnlichen Größenordnung liegen auch das Lächerlichmachen der eigenen Person und das Anzweifeln beruflicher Fähigkeiten. Weiterhin aufschlussreich sind die doch erheblichen Unterschiede im Belastungserleben zwischen den verschiedenen Settings. Hier fällt beispielsweise auf, dass in der Forensik den Drohungen von PatientInnen deutlich mehr Bedeutung zuge-messen wird als in den anderen Einrichtungstypen. Angesichts des Klientels, das per Definition aus StraftäterInnen besteht, die durchaus auch Gewaltdelikte begangen haben können, verwundert dieses Belastungserleben nicht. Demgegenüber spielt dort die sexuelle verbale Aggression eine untergeordnete Rolle. Unter der sexuellen Anmache leidet hingegen das Personal in der somatischen Klinik erheblich mehr; dies zeigte sich auch bei einer Auswertung nur der weiblichen Teilnehmenden.

Reaktionen auf und Umgang mit verbalen Aggressionen

Verbale Aggressionen kommen definitionsgemäß im Rahmen einer Interaktion vor. Hier ist es entscheidend, wie die von den aggressiven Ansprachen betroffenen MitarbeiterInnen darauf reagieren. Danach befragt, antworten lediglich 56,8 % der Teilnehmenden, dass sie häufig oder immer schlagfertig reagieren, der geringste Anteil mit 41,9 % liegt hierbei im forensischen Setting. Der überaus größte Teil der Befragten (87,9 %) legt dabei Wert darauf, die Interaktion nicht weiter eskalieren zu lassen. Mit etwa 70,8 % liegt der Anteil der Mitarbeitenden etwas niedriger, die den „Aggressor“ häufig oder immer auf die Aggression ansprechen.

Von den unmittelbaren KollegInnen fühlt sich der weitaus überwiegende Teil der Befragten (89,9 %) häufig oder immer unterstützt bei verbalen Aggressionen. Erwartungsgemäß etwas niedriger liegt der Anteil derer, die sich auch von der Leitung adäquat unterstützt fühlen 73,6 %). Insbesondere in den psychiatrischen Einrichtungen ist der Anteil derer, die im Anschluss an einen aggressiven Sprechakt mit ihren KollegInnen darüber sprechen, sehr hoch (bis zu 96,8 % im forensischen Bereich). Im somatischen Bereich scheint sich diese Kultur der Problembesprechung noch nicht so weit entwickelt zu haben. Allerdings geben auch hier 73,5 % der Befragten an, dies dienstlich zu besprechen.

Trotz des insgesamt gesehen eher positiven Umgangs mit verbalen Aggressionen, werden diese bei einem Teil der Befragten nicht so leicht verarbeitet. Nur etwas weniger als zwei Drittel der RespondentInnen (65,4 %) hat angegeben, verbale Aggressionen schnell zu vergessen.

Anteil körperlicher und verbaler Aggressionen an der allgemeinen Arbeitsbelastung

Überraschend deutlich zeigte sich bei den Einschätzungen zur Be-lastung von verbalen vs. körperlichen Aggressionen, dass im Durchschnitt die verbalen Aggressionen als gravierender eingestuft wurden (4,16 [95 %-Konfidenzintervall: 4,01–4,31] vs. 2,98 [95 %-Konfidenzintervall: 2,83–3,13]). Der Unterschied ist, berücksichtigt man die 95 %-Konfidenzintervalle, statistisch signifikant und zeigt sich auch im Vergleich der Medianwerte.

Umgang mit verbalen Aggressionen im Laufe des Berufslebens

Ebenfalls auf einer Skala von 0 (sehr viel leichter) bis 10 (sehr viel schwerer) wurden die RespondentInnen gefragt, ob ihnen der Um-gang mit verbalen Aggressionen im Laufe des Berufslebens leichter fallen würde. In der Tendenz wurde das von den Teilnehmenden bejaht. Im Durchschnitt stuften sich die Antwortenden bei 3,0 ein. Interessanterweise war bei dieser Frage kein Altersunterschied festzustellen. Auch jüngere Mitarbeitende nahmen für sich wahr, dass sie tendenziell leichter mit der Problematik umgehen können.

Prädiktoren einer großen subjektiven Belastung durch verbale Aggressionen

Mittels einer logistischen Regression wurden Prädiktoren einer großen subjektiven Belastung durch verbale Aggressionen an der Gesamtbelastung ermittelt. Das endgültige Modell nach einer Rückwärtsselektion der Variablen enthielt personenbezogene Merkmale, Angaben zur Häufigkeit verbaler Aggressionen, zu den Auswirkungen verbaler Aggressionen und zum Umgang damit ( Tabelle 3). Im Vergleich zum Ärztlichen Dienst gaben Pflegende 2,7-mal häufiger an, durch verbale Aggressionen schwer belastet zu sein. Deutlich ist die Relevanz des Lebensalters: Die Altersgruppe von 18–25 Jahren war 2,8-mal häufiger belastet als die Altersgruppe von 46–64 Jahren. In dem Regressionsmodell tauchten sowohl Angaben zur Häufigkeit als auch zum Belastungserleben einzelner Aggressionsformen auf. Unter den im Modell signifikanten Variablen wiesen die rüde Sprache und die Beschimpfung die größten Odds-Ratio-Werte auf. Bei den Be-lastungen zeigte sich vor allem wiederum die rüde Sprache als besonders relevant, Drohungen erwiesen sich ebenfalls als signifikanter Prädiktor. Schließlich erwies sich auch der Umgang mit verbalen Aggressionen als relevant. Interessanterweise hatten die Personen, die sich in der Lage fühlten, die Situation häufig zu deeskalieren, ein deutlich geringeres Risiko, besonders belastet zu sein.

Diskussion

Die Ergebnisse dieser Studie können wie folgt zusammengefasst werden: Verbale Aggressionen gehören zum Arbeitsalltag vieler Mit-arbeitender im Gesundheitswesen. Die Aggressionsformen stellen sich sehr unterschiedlich dar, sie reichen von Bedrohungen und Be-schimpfungen bis hin zu sexuell gefärbter und rüder Sprache. In der multivariaten Analyse der Gesamtbelastung durch verbale Aggressio-nen zeigte sich, dass jüngere Pflegende besonders belastet waren.

Als besonders häufig wurden in dieser Umfrage ein rüder Umgangston oder Beschimpfungen genannt; diese Aggressionsformen kommen weitaus häufiger vor als etwa Drohungen. Wenngleich an-ders beschrieben, bestätigt dies den Befund einer ebenfalls differenzierten aktuellen Studie zu verbalen Aggressionen aus Großbritannien, wo „Abuse“ und „Shouting“ ebenfalls häufiger genannt wurden als Drohungen (Stewart u. Bowers 2013).

Die Häufigkeit des Erlebens bestimmter Aggressionsformen korreliert oft nicht mit dem Gefühl der Belastung. Todesdrohungen etwa werden von den Befragten nicht berichtet; allerdings fühlen sie sich davon besonders belastet. Obwohl die Antwort im Fragebogen sich direkt auf die Häufigkeit bezog, haben viele RespondentInnen dies nicht so interpretiert.

Der Schweregrad verbaler im Vergleich zu körperlichen Aggressionen wurde von den Befragten als gravierender eingestuft. Damit werden frühere Studien gestärkt, die seinerzeit relativ überraschend die große Relevanz verbaler Aggressionen körperlicher Gewalt betont hatten (Gerberich et al. 2004; Wieclaw et al. 2006). Allerdings können auch andere Erklärungsansätze nicht ausgeschlossen werden. So kann die Relevanz verbaler Aggressionen möglicherweise durch die wahrgenommene Häufigkeit beeinflusst werden; allerdings ist es auch möglich, dass die große Häufigkeit der Ereignisse zu „Abstumpfen“ gegenüber der Wahrnehmung führen kann. Ein möglicher weiterer methodischer Faktor könnte darin liegen, dass die Studie sich explizit mit verbalen Aggressionen befasst hat und dies zu einer verzerrten Wahrnehmung beigetragen hat. Schließlich kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Teilnahme an der Studie zu einer motivational selektierten Stichprobe bei solchen Mitarbeitenden geführt hat, die sich durch verbale Aggressionen besonders belastet gefühlt haben.

Die Hauptlimitation liegt in der Stichprobe, die sich schwerpunkt-mäßig aus dem Bereich Psychiatrie speist. Grund dafür ist vermut-lich die Tradition der Auseinandersetzung mit der Gewaltproblematik in psychiatrischen Einrichtungen, die dort schon erheblich länger an-dauert als in somatischen Einrichtungen oder Alters- und Pflegeheimen. Eine weitere Limitation in der Umfrage liegt in der Tatsache, dass der Fragebogen neu entwickelt wurde und aus Ressourcengründen nicht getestet werden konnte. Diese Einschränkungen werden jedoch durch die große Stichprobe ansatzweise ausgeglichen.

Schlussfolgerungen

Die große Relevanz und die Belastung durch verbale Aggressionen einerseits sowie die definitorischen Probleme andererseits weisen auf ein Dilemma beim Umgang mit dieser Thematik hin. Wenngleich sich in den vergangenen Jahren die Wahrnehmung psychosozialer Belastungen der Mitarbeitenden verbessert hat, erscheint die Problematik der verbalen Aggressionen in vielen Einrichtungen und auch beim betriebsärztlichen Dienst nicht sonderlich bedeutend zu sein. „Weichen“ Belastungsfaktoren, die unter anderem eine große subjektive Belastungskomponente haben, wie etwa verbale Aggressionen, sollte daher zukünftig mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Die Hauptschlussfolgerung ergibt sich aus dem für viele Beteiligte relativ überraschenden Ergebnis, dass verbale Aggressionen im Vergleich zu körperlicher Gewalt im Mittel von den Befragten als belastender erlebt werden. Dieser Befund gibt – sollte er von weiteren Studien bestätigt werden – dringenden Anlass, die seit vielen Jahren eingesetzten Aggressionsmanagement-Programme in ihrer Ziel-setzung und in den trainierten Methoden zu überdenken. Nach wie vor wird das Aggressionsmanagement im Gesundheitswesen von körperlichen Abwehrtechniken dominiert (Richter u. Needham 2007). Demgegenüber spielen Kommunikations- und Deeskalations-techniken eine nachgeordnete Rolle. Dieses Verhältnis sollte sich ändern, zumal körperliche Aggressionen in vielen Settings nur selten vorkommen. Die besondere Aufmerksamkeit für körperliche Aggressionen und den Umgang damit liegt möglicherweise darin begründet, dass körperliche Angriffe spektakulärer und bedroh-licher erscheinen. Zudem steht die Entwicklung und Forschung zu Kommunikations- und Deeskalationstechniken noch am Anfang (Richter 2006, 2011).

Danksagung: Die Studie wurde von der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen finanziell gefördert. Der Verfasser bedankt sich bei den teilnehmenden Kliniken und bei Dipl.-Ing. Theo Blättler, Unfallkasse Nordrhein-Westfalen, für die Kooperation.

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Verfasser

Prof. Dr. phil. Dirk Richter

Berner Fachhochschule

Fachbereich Gesundheit

Murtenstrasse 10 – CH-3008 Bern

e-mail: dirk.richter@bfh.ch

Fußnoten

Berner Fachhochschule, Fachbereich Gesundheit (Leiterin: Prof. Dr. phil. Cornelia Oertle)