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Shaping Working Conditions at an Eye Level

Gemeinsam gestalten auf Augenhöhe

Einleitung

Die Unterstützung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit mit geeigneten Maßnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention ist nicht trivial. Standardlösungen, die nach dem „Gießkannenprinzip“ implementiert werden, verfehlen häufig die geplante Wirkung. Die Gründe liegen beispielweise darin, dass die Maßnahmen nur für bestimmte Zielgruppen als attraktiv erscheinen, diese schwer in den (Arbeits-)Alltag zu integrieren sind oder schlichtweg an den individuellen Bedarfen vorbeigehen. Um an die jeweilige Arbeitssituation angepasste und erfolgsversprechende Ansatzpunkte zu generieren, sind dialog­orientierte Formate zielführend. Einerseits, da durch die dialogische Form und die damit verbundene offene, anerkennende und wertschätzende Haltung eine gute Grundlage für die Entwicklung bedarfsgerechter Maßnahmen besteht, zum anderen kann der geschaffene Dialograum selbst Anerkennung und Wertschätzung vermitteln. Vor dem Hintergrund, dass dies wichtige Ressourcen bei der Bewältigung von Belastung- und Stresssitua­tionen im Arbeitsalltag sind, gewinnen partizipative Dialogräume, in denen ein anerkennender und wertschätzender Austausch auf Augenhöhe stattfinden kann, eine besondere Bedeutung für die Unterstützung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit von Mitarbeitenden.

Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit – ein gemeinsamer Gestaltungsprozess

Die Unterstützung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit von Mitarbeitenden kann als gemeinsamer Problemlösungsprozess verstanden werden. Es gilt, die Ist-Situation zu erfassen, zu bewerten und – davon ausgehend – geeignete Maßnahmen abzuleiten und umzusetzen, um den gewünschten Soll-Zustand zu erreichen oder diesem zumindest ein gutes Stück näher zu kommen. Im Gegensatz zu einer einfachen Aufgabe zeichnet sich dieser Prozess dadurch aus, dass die zielführenden Methoden und Maßnahmen nicht unbedingt von Anfang an bekannt sind. Es existiert keine „Blaupause“, kein Kochrezept, keine Checkliste, die universell und für jeden einsetzbar ist. Aber es existieren Rahmenkonzepte, die es erleichtern, die wesentlichen Gestaltungsaspekte zu beleuchten und Menschen systemisch im Kontext ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu erfassen.

Das finnische Arbeitsfähigkeitskonzept, das mit der Metapher des „Hauses der Arbeitsfähigkeit“ arbeitet, ist ein solches Konzept. Ihm liegt der Gedanke der Arbeitsfähigkeit (auch Arbeitsbewältigungsfähigkeit oder im Englischen Work Ability genannt) als Verhältnismaß zugrunde (Ilmarinen u. Tempel 2012; Liebrich 2022). Sie ist in ihrer Konzeption Ausdruck der Passung zwischen den Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Menschen im Verhältnis zu der ihr im Arbeitsumfeld gestellten Aufgabe. Diese häufig als „Balance“ bezeichnete Konstellation bezieht sich auf die aktuelle Arbeitssituation und die Anforderungen, die aus der momentanen Arbeit erwachsen. Ergänzend dazu erweitert das Konzept der Beschäftigungsfähigkeit den Blickwinkel auf das allgemeine Erwerbsleben. Es stellt die Teilhabe am Erwerbsleben über eine spezifische Stelle hinaus in den Mittelpunkt der Betrachtung.

Auf die Frage, was getan werden kann, um die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit von Personen zu unterstützen, formuliert das Modell fünf Ansatzpunkte

  • Gesundheit,
  • Kompetenz,
  • Werte und Einstellungen,
  • Arbeitsbedingungen und Führung sowie
  • Umfeldfaktoren (vgl. ➥ Abb. 1).
  • Diese Aspekte, im Rahmen der verwendeten Metapher als „Stockwerke eines Hauses“ bezeichnet, bieten die Ansatzpunkte eines gemeinsamen, wertschätzenden Dialogs, in dem einerseits verhaltens-, andererseits verhältnisändernde Ansatzpunkte betrachtet und daraus im gemeinsamen Austausch Maßnahmen entwickelt werden.

    Grundlage des Dialogs ist neben den inhaltlichen strukturierenden „Stockwerken des Hauses der Arbeitsfähigkeit“ die Haltung, in der diese Gespräche geführt werden. Um einen echten Dialog zu gewährleisten, ist es unumgänglich, die Erlebenswelt der am Dialog beteiligten Personen anzuerkennen.

    Anerkennung erzeugt Wertschätzung

    Die Begriffe Anerkennung und Wertschätzung sind eng miteinander verwoben. Sie drücken eine positive, den anderen achtende, respektierende und annehmende Grundhaltung aus.

    So umfasst die „Anerkennung“ mehrere Bedeutungen: beispielsweise „die Einsicht einer existierenden Tatsache, Würdigung oder Lob, Achtung und Respektierung, eine offizielle Erklärung der Gültigkeit und/oder Rechtmäßigkeit und die Billigung und Zustimmung zu einer Sache“ (Meyer 2020, S. 4). Personen erkennen Urteile als rechtskräftig an, sprechen Personen ihre Anerkennung für besondere Handlungen aus und wollen, dass ihre Leistung anerkannt wird. Anerkennung ist aktives Handeln und manifestiert sich immer im Kontext einer Beziehung. Es ist immer eine Person, die etwas oder jemand anderen anerkennt.

    Im Kontext der Gestaltung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit zeigt sich Anerkennung darin, dass Beschäftigte und deren Arbeitssituation im Zusammenspiel bewusst wahrgenommen werden. Es geht um die Einsicht, dass bei der Unterstützung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit die Erfahrungswelt der Mitarbeitenden Beachtung finden. Ein gelingender Gestaltungsprozess zeichnet sich dadurch aus, dass die Erlebenswelt aller beteiligter Personen beachtet, gewürdigt und respektiert wird. Nur so ist eine Wertschätzung auf Augenhöhe möglich. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund bedeutend, dass Wertschätzung eine wichtige Ressource am Arbeitsplatz ist (Mattyseck 2018).

    Anerkennung und Wertschätzung sind in Dialogen erfahrbar. Zum einen kann das Angebot zu einem echten Dialog als Inter­vention verstanden werden, die die anerkennende und wertschätzende Haltung Beschäftigten gegenüber ausdrückt. Zu anderen bieten Dialogräume die Möglichkeit, durch das Anerkennen der individuellen Arbeitswirklichkeit zu geeigneten und zielführenden Maßnahmen der Unterstützung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit zu gelangen.

    Dialog als Basis

    Der Dialog ist in diesem Kontext eine besonders geeignete Kommunikationsform, da er vor allem durch eine offene Haltung zueinander geprägt ist. Der ursprünglich aus dem griechisch stammenden Begriff meint wortwörtlich, dass durch („dia“) das Wort („logos“) Menschen in eine Beziehung treten und sich auf die gemeinsame Suche nach Sinn und Erkenntnis begeben. Der Dialog dient zum einen dem besseren gegenseitigem Verständnis, dem Lösen von Problemen oder dem Austausch von Meinungen, Gedanken oder Handlungen. Zum anderen ist er Ausdruck der Beziehung zwischen den Gesprächspartnerinnen und -partnern. Letztendlich kann er selbst als eine soziale Beziehung verstanden werden (Hubert 2022).
    Diese Beziehung zeichnet sich durch die Haltung im Gespräch aus, so beispielsweise durch die Offenheit anderen und sich selbst gegenüber und das Wissen, dass ein solcher Dialog auch eigene Ansichten und Bewertungen verändern kann.

    Wie der Dialog gelebt wird, unter welchen Voraussetzungen er gelingen kann und welche Ergebnisse er hervorbringt, sind Fragen, die über die eigentliche Definition hinausgehen (Hubert 2022). Die Antworten liegen in der gelebten Kommunikations- und Unternehmenskultur. Dialoge gelingen vor allem in wertschätzenden Kulturen, die sich darin ausdrücken, Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen gute Leistungen erbringen können, wollen und dürfen (Sackmann 2017). Dazu gehört vor allem der Respekt vor Unterschiedlichkeit und Individualität anstatt Diskriminierung, also eine Personalentwicklung, die auch individuelle Ziele und Vorstellungen sowie Flexibilität und die Ermöglichung von Work-Life-Balance berücksichtigt. Somit sind wertschätzende Kulturen eine gute Basis, um Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit zu unterstützen und zu
    stärken.

    Wertschätzende Dialoge als Instrument zur Unterstützung von Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit

    Dialoge zur Unterstützung von Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit sollten in vielen unterschiedlichen Kontexten und von unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren geführt werden (z. B. mit Arbeitsmedizinerinnen und -medizinern oder im Rahmen von Personal- und Organisationsentwicklungsprozessen). Einer besonderen Rolle kommt hierbei der Führung zu. Grundlegende Studien zur Arbeitsfähigkeit zeigen, dass Führungsverhalten einer der bedeutendsten Faktoren zur Förderung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit ist (Ilmarinen u. Tempel 2012). Führung braucht den regelmäßigen Austausch, vor allem in Zeiten der Virtualisierung. Das im Folgenden skizzierte Instrument der „wertschätzenden Dialoge®“ unterstützt Führungskräfte dabei, anerkennende und wertschätzende Dialogräume zu gestalten.

    Der „wertschätzende Dialog®“ ist ein Instrument zur Förderung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit mit umfassenden Materialien zur Umsetzung und Dokumentation. Grundlegend für seine Anwendung ist die weiter oben skizzierte wertschätzende Haltung der Dialogpartnerinnen und -partner. So wird eine arbeitsfähigkeitsförderliche Führung nur dann gelingen, wenn Führungskräfte dem eigenen Verhalten und der eigenen Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit entsprechende Wichtigkeit und Achtsamkeit schenken (vgl. z. B. Mattyseck 2018). Darüber hinaus ist die eigene Reflexion der Führungskräfte über die einzelnen Stockwerke des Hauses der Arbeitsfähigkeit (siehe Abb. 1) eine wesentliche Voraussetzung für ein gutes Gelingen.

    Der „wertschätzende Dialog®“ als Instrument ist ein systematisches und strukturiertes Gespräch zwischen Führungskraft und Beschäftigten rund um die wichtigsten Aspekte der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit.

    Dabei werden auf der Grundlage eines dialogischen Austauschs Vereinbarungen in den Bereichen Gesundheit, Kompetenz, Werte, Arbeitsbedingungen und dem Umfeld getroffen. Mögliche Stärken sollen dabei gestärkt und eventuelle Schwächen geschwächt werden. Zwei Fragen stehen dabei im Vordergrund:

  • Was kann die/der Beschäftigte für sich selbst tun, um die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten und zu fördern?
  • Was kann das Unternehmen beziehungsweise die Führungskraft tun, um die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit der/des Beschäftigten zu erhalten und zu
    fördern?
  • Wichtige Voraussetzung für die Umsetzung „wertschätzender Dialoge®“ ist die Qualifikation der Beteiligten (insbesondere Führungskräfte) und das Schaffen von geeigneten Rahmenbedingungen. Ziel muss es sein, ein gemeinsames Verständnis für den Dialog zu schaffen und alle notwendigen – vor allem zeitliche – Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Sind die Voraussetzungen vorhanden werden mit jeder/jedem Beschäftigten 30- bis 60-minütige Dialoge geführt, Maßnahmen entwickelt, priorisiert und umgesetzt. Diese Dialoge erfolgen regelmäßig (z. B. jährlich), sind aber auch anlassbezogen jederzeit möglich. Um die Erkenntnisse aus den individuellen Dialogen auch in Organisationsentwicklungsprozesse münden zu lassen, bieten sich dialogorientierte Maßnahmen-Workshops auf Bereichsebene beziehungsweise auch bereichsübergreifend an. Hierfür bietet das Instrument eine anonymisierte Auswertung der individuellen Ergebnisse. Einen beispielhaften Ablauf zeigt ➥ Abb. 2.

    Weitere Hinweise zum Konzept „wertschätzender Dialog®“ und zur Reflexion sowie zu Projekten, Seminaren und Tagungen funter finden sich unter www.arbeitsfaehig.com.

    Fazit

    Dialogräume schaffen die Möglichkeit, passende und erfolgsversprechende Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit zu entwickeln. Diese sind dann besonders zielführend, wenn die Haltung der Beteiligten durch Anerkennung und Wertschätzung geprägt ist. Mit dem Instrument der „wertschätzenden Dialoge®“ werden Führungskräfte unterstützt, einen systematischen Dialog auf der Grundlage des finnischen Arbeitsfähigkeitskonzepts zu verwirklichen. Durch die geleitete gemeinsame Reflexion der Arbeitssituation gelangen die Kommunikationspartnerinnen und -partner zu praxistauglichen Interventionen auf der Verhaltens- und Verhältnisebene. So kann es gelingen, individuelle und betriebliche Ansatzpunkte der Unterstützung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit zu generieren, die die Bedarfe aller Beschäftigten bei
    der Gestaltung einfließen lassen: durch Anerkennung und Wertschätzung auf Augenhöhe.

    Interessenkonflikt: Das Institut für Arbeitsfähigkeit bietet „wertschätzende Dialoge” im Kontext der Gestaltung gesundheitsgerechter Arbeitssituationen an. Weitergehende Interessenkonflikte bestehen nicht.

    Literatur

    Hubert CC: Dialogkultur. Wiesbaden: Springer VS, 2022.

    Ilmarinen J, Tempel J: Arbeitsfähigkeit 2025 – Das Haus der Arbeitsfähigkeit im Unternehmen bauen. Hamburg: VSA-Verlag, 2012.

    Liebrich A: Theoretische Rahmenkonzepte im Kontext Gesundheit und Krankheit In: Lange M, Matusiewicz D, Walle O (Hrsg.): Praxishandbuch Betriebliches Gesundheitsmanagement. Freiburg i. Br.: Haufe, 2022, S. 21–33.

    Mattysek A: Gesund Führen: Das Handbuch für schwierige Situationen. BoD, 2018.

    Meyer T: Semantik des deutschen Begriffs „Anerkennung“. In: Siep L, Ikäheimo H, Quante M (Hrsg.): Handbuch Anerkennung. Wiesbaden: Springer, 2020, S. 3–10.

    Sackmann S: Der Einfluss von Unternehmenskultur auf das Innenleben von Organisationen. In: Unternehmenskultur: Erkennen – Entwickeln – Verändern. Wiesbaden: Springer Gabler, 2017.

    doi:10.17147/asu-1-245655

    Weitere Infos

    Giesert M, Liebrich A, Reuter T, Conrads R: Arbeitsfähigkeits­management im Demografischen Wandel. Ein Leitfaden für Unternehmen und Beschäftigte im Demografischen Wandel, 2014

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    Abb. 2:  Beispielhafter Ablauf eines wertschätzenden Dialogs (eigene Darstellung)

    Abb. 2: Beispielhafter Ablauf eines wertschätzenden Dialogs (eigene Darstellung)

    Kernaussagen

  • Die Förderung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit erfordert einen Dialog auf verschie­denen Ebenen.
  • Das finnische Arbeitsfähigkeitskonzept mit dem „Haus der Arbeitsfähigkeit“ bietet einen Rahmen, um geeignete Maßnahmen auf Verhaltens- und Verhältnisebene abzuleiten.
  • Das Instrument der „wertschätzenden Dialoge®“ unterstützt Führungskräfte bei der Gestaltung wertschätzender Dialogräume zur Unterstützung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit von Mitarbeitenden.
  • Koautorin und Koautor

    Marianne Giesert
    Tobias Reuter
    Institut für Arbeitsfähigkeit GmbH; Fischtorplatz 23; 55116 Mainz

    Kontakt

    Prof. Dr. Anja Liebrich
    Institut für Arbeitsfähigkeit GmbH; Fischtorplatz 23; 55116 Mainz

    Fotp: privat

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