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Sturz aus dem 13. Stock — ein ganz besonderer Arbeitsunfall

L aut einer Statistik der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin über tödliche Arbeitsunfälle von 2001 bis 2010 sind Abstürze weiterhin die Haupttodesursache. Innerhalb von 10 Jahren sind 2804 Menschen bei Arbeitsunfällen ums Leben gekommen und in 31,9 % dieser tödlichen verlaufenden Unfälle sind die Betroffenen bei Arbeiten von Gebäuden oder Geräten (Leiter, Gerüst, Transportmittel) gestürzt (Statistik der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, s. Weitere Infos). Gerade bei Baustellenarbeiten ist das Risiko für solche Unfälle besonders hoch. Um das Sturzrisiko zu minimieren, sollten deshalb bei Arbeiten in großer Höhe be-stimmte Sicherheitsvorschriften beachtet werden.

Untersuchungen ergaben, dass das kor-rekte Tragen einer Persönlichen Schutzausrüstung (PSA) insbesondere bei Absturz-unfällen die Folgen des Unfalls hätte mildern und in vielen Fällen sogar Leben retten können. In den Jahren 2001 bis 2010 hätten bis zu 328 Unfallopfer (11,7 %) ihr Leben nicht verlieren müssen (s. Weitere Infos).

Fallbericht

An einem Sommernachmittag ging bei der Rettungsleitstelle Ulm der Notruf ein. Rettungswagen und Notarzteinsatzfahrzeug wurden mit der Meldung „Sturz aus 13. Stock“ alarmiert und trafen 7 Minuten später zeitgleich am Einsatzort, einem Wohngebiet mit mehreren Hochhäusern, ein. Eines der Hochhäuser befand sich im Umbau und war mit einem Gerüst, das nach außen hin mit einem Netz gesichert war, umgeben (   Abb. 1 ). Die Rettungsfahrzeuge wurden mit etwas Abstand zur Baustelle geparkt. Ein Bauarbeiter wies dem Einsatzteam den Weg zu einem Containertoilettenhaus. Der Container befand sich mehrere Meter vom Hochhaus entfernt. Aufgeregt berichtete der Arbeiter, dass ein 22-jähriger Kollege bei Malerarbeiten vom Gerüst des Hochhauses gestürzt sei. Seitdem sei er nicht mehr ansprechbar. Zu Vorerkrankungen wisse er nichts.

Am Boden des Containertoilettenhau-ses (   Abb. 2 ) lag in Linksseitenlage der junge, nicht behelmte Bauarbeiter. Er rea-gierte weder auf Ansprache noch Schmerzreiz (Glasgow Coma Scale 3; Teasdale u. Jennett 1974) und war zyanotisch. Der Patient wurde achsengerecht unter Stabilisierung der Halswirbelsäule in Rücklage gedreht. Trotz Freimachen der Atemwege mittels Esmarch-Handgriff zeigte er keine suffiziente Atmung. Die Sauerstoffsättigung betrug 58 %, der Patient erhielt sofort 10 l O2 über Maske und wurde assistiert maskenbeatmet. Parallel wurde durch zwei Rettungsassistenten die Intubation vorbereitet und ein intravenöser Zugang gelegt. Die in der Zwischenzeit erhobenen Befunde er-gaben folgende Werte: Der Blutdruck des Patienten betrug systolisch 90 mmHg, das EKG zeigte einen tachykarden Sinusrhythmus mit einer Herzfrequenz zwischen 100 und 110/min. Der Patient hatte Zeichen für einen bereits einsetzenden hypovolämischen Schock. Nachdem der intravenöse Zu-gang 14 G am linken Unterarm gelegt war, wurde ohne Zeitverzögerung mit der Volumengabe begonnen und dann die Narkose eingeleitet. Der Patient erhielt Ketanest S, Midazolam und zur Muskelrelaxation Succinylcholin und wurde 40 sec nach Narkose-gabe endotracheal unter Sicht und unter In-line-Stabilisierung der HWS intubiert. Die Auskultation ergab ein seitengleiches, leises Atemgeräusch. Es erfolgte von nun an eine volumenkontrollierte Beatmung und eine endexspiratorische CO2-Messung. Die Sauerstoffsättigung des Patienten stieg von initial unter 60 % auf über 80 % an. Zur Immobilisierung der HWS wurde ein Stiff Neck angelegt und der Patient auf der Schaufeltrage aus dem Container herausgetragen, zum RTW gebracht und auf der Vakuummatratze gelagert. Der nun rasch durchgeführte Bodycheck ergab folgendes Verletzungsmuster:

  • Kopfplatzwunde okzipital, Pupillen iso-kor, mittelweit,
  • Thorax: bds. Krepitationen an den Rippen, Hautemphysem links,
  • Abdomen weich,
  • Becken stabil.

Aufgrund des Unfallmechanismus mit Sturz aus ca. 30 m Höhe und den vorliegenden Befunden wurde der Patient im Schockraum der Uniklinik Ulm telefonisch angemeldet, als Polytrauma mit Schädelhirntrauma, Tho-raxtrauma und mit präklinisch nicht sicher auszuschließendem V. a. stumpfes Bauch-trauma und V. a. Wirbelsäulentrauma.

Im RTW angekommen verschlechterte sich unter der kontrollierten Beatmung die Sauerstoffsättigung des Patienten rasch, die Sinustachykardie nahm zu. Der Verdacht lag nahe, dass es unter der Beatmung nun zu einem Spannungspneumothorax gekommen war. Eine erneute Auskultation der Lunge ergab ein links vollständig aufgehobenes Atemgeräusch. Durch eine Einmalpunktion mit einer 14 G Viggo im zweiten Interkostalraum medioclavicular links wurde eine ausreichende Druckentlastung erreicht. Die Sauerstoffsättigung stabilisierte sich auf 90 %. Unter Fortsetzen der Volumensubstitution und Anlage eines weiteren großlumigen Zugangs wurden auf der Fahrt mit Sondersignal in den Schockraum der Uniklinik Ulm insgesamt 1000 ml HAES 6 % und 1500 ml Jonosteril infundiert.

In der durchgeführten Schockraumdiagnostik zeigte sich die Schwere der Verletzungen: subdurales Hämatom rechts und Hirnkontusion; schweres Thoraxtrauma mit Rippenserienfraktur bds., Lungenkontusion, bds. Hämatopneumothorax, Sternumfraktur und Contusio cordis; eine rechtshepatische Leberlazeration, eine Milzlazeration, Frakturen der Processus transversus BWK 5–9 sowie eine instabile BWK 10 Fraktur mit Absprengung der Hinterkante.

Bereits im Schockraum erhielt der Pa-tient zwei Thoraxdrainagen und wurde danach im OP notfallmäßig laparatomiert. Es erfolgte eine Splenektomie, eine Bauchtuchtamponade bei Leberlazeration, Anlage einer intrakraniellen Drucksonde und die Transfusion von 6 Erythrozyten- und 2 Thrombozytenkonzentraten, 8 Frischplasmen sowie 1 g Tranexamäure und insgesamt 8 g Fibrinogen.

Vier Stunden nach dem Sturz konnte der junge Mann postoperativ in kardiopulmonal stabilem Zustand auf die Intensivstation verlegt werden.

Während des dreiwöchigen Intensivaufenthalts waren weitere Operationen not-wendig. Es erfolgten eine Cholezystektomie und ein sekundärer Verschluss der Bauch-decke, im weiteren Verlauf wurde eine dorsale Stabilisierung der Brustwirbelsäule Th9–11 durchgeführt.

Erfreulicherweise konnte der Patient bereits nach einer Woche extubiert und im weiteren Verlauf mobilisiert werden.

Fazit

Einen Sturz aus großer Höhe ohne bleibende gesundheitliche Einschränkungen zu überleben ist großes Glück. Wie die Ermittlungen später ergaben, ist der junge Maler vom Gerüst aus dem 13. Stock des Hochhauses ca. 30 m tief gestürzt und auf das Dach des wenige Meter entfernt stehenden WC-Containerhauses gefallen. Durch die Wucht des Aufpralls, brach das Dach des Containers durch und der junge Mann landete auf dem PVC-Boden des Toilettenhauses. Wie Lapostolle et al. in einer Untersuchung von 287 Absturzopfern zeigen konnten, sind neben der Sturzhöhe auch der Untergrund sowie das beim Sturz vorausgehende Körperteil unabhängige Risikofaktoren für die Mortalität (Lapostolle et al. 2005). In anderen Untersuchungen wird sogar betont, dass nur aufgrund der Höhe nicht auf die Schwere der Verletzungen oder die Mortalität geschlossen werden könne, sondern eben auch andere Umstände wie z. B. der Untergrund berücksichtigt werden müssen (Auñón-Mar-tín et al. 2012). In unserem Fallbericht ist davon auszugehen, dass das mit Schaum-stoff isolierte Dach des WC-Hauses einiges der kinetischen Energie des Sturzes abgefangen hat und somit lebensrettend war. Die Ursache des Sturzes bleibt weiterhin un-klar. Dieser Fall zeigt, wie es trotz Sicherung des Gerüsts mit einem Netz zu folgenschweren Stürzen kommen kann. Es sollte daher alles getan werden, um Arbeitsunfälle wie diesen zu vermeiden, weitere Strategien für noch mehr Sicherheit auf Baustellen zu entwickeln und die Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen positiv zu bestärken.

Ist es jedoch trotz aller Schutzmaßnahmen zu einem Absturz gekommen, so ist es sehr wichtig, dass Ersthelfer und ggf. auch Betriebsmediziner vor Ort mit lebensrettenden Sofortmaßnahmen beginnen und sofort einen Notruf absetzen. Wie in diesem Fall geschehen, sollte gerade im Falle einer Großbaustelle ein Einweiser die Rettungsmittel schnell zum Ziel leiten und für alle Beteiligten sollte das Tragen von Schutzausrüstung notwendige Pflicht sein.

Bei Polytrauma sollte, wie auch in dieser Kasuistik beschrieben, bei der Rettung das Vorgehen nach der bewährten ABCDE-Regel erfolgen. Diese wird seit der Entwicklung des Advanced Trauma Life Support Konzepts (ATLS) Ende der 70er Jahre vom American College of Surgeons weltweit ver-breitet und dient dazu, lebensbedrohliche Störungen der Vitalfunktionen schnell zu erkennen und zu behandeln (Collicott 1979; Collicott u. Hughes 1980). Zuerst sollte der Atemweg (A = Airway) freigemacht werden. Danach sollte sichergestellt werden, dass der Patient suffizient atmet, ansonsten muss der Patient beatmet werden (B = Breathing). Sind Atemweg und Beatmung gesichert, muss als nächstes der Kreislauf (C = Circulation) des Patienten überprüft und, falls nötig, durch Stillen einer massiven Blutung und Volumengaben stabilisiert werden. ABC sollten auch im weiteren Verlauf kontinuierlich überwacht werden, da Ereignisse wie das in diesem Fall beschriebene Auftreten eines Spannungspneumothorax ein sofortiges Eingreifen erforderlich machen. Nach Sicherung von ABC kann eine orientierende neurologische Untersuchung (D = Disability) sowie nach vollständiger Entkleidung des Patienten eine orientierende chirurgische Untersuchung (E = Exposure) erfolgen.

Abstürze, egal aus welcher Höhe, sind mit dem Risiko für schwere Verletzungen der Wirbelsäule verbunden. Um sekundäre Schädigungen des Rückmarks mit schlimm-stenfalls bleibenden Paresen zu vermeiden, sollte auch bei der Rettung durch Ersthelfer auf eine schonende Lagerung und Stabilisierung der Halswirbelsäule geachtet werden. Im vorliegenden Fall konnte eine erfolgreiche operative Versorgung der instabilen BWK-10-Fraktur bleibende neurologische Schäden verhindern.

Der 22-jährige Patient konnte erfreulicherweise bereits nach dreiwöchiger intensivmedizinischer Behandlung in eine Rehabilitationsklinik verlegt werden. Bleibt zu hoffen, dass er sich sowohl physisch als auch psychisch vollständig von diesem Sturz aus dem 13. Stock erholen wird und er Mithilfe von Wiedereingliederungsmaßnahmen weiterhin in seinem Beruf als Maler arbeiten kann. 

Literatur

Auñón-Martín I, Doussoux PC, Baltasar JLL, Polen-tinos-Castro E, Mazzini JP, Erasun CR: Correlation between pattern and mechanism of injury of free fall. Strategies Trauma Limb Reconstr 2012; 7: 141–145.

Collicott PE: Advanced trauma life support course, an improvement in rural trauma care. Nebr Med J 1979; 64: 279–280.

Collicott PE, Hughes I: Training in advanced trauma life support. JAMA 1980; 243: 1156–1159.

Lapostolle F, Gere C, Borron SW, Pétrovic T, Dalle-magne F, Beruben A, Lapandry C, Adnet F: Prog-nostic factors in victims of falls from a height. Crit Care Med 2005; 33: 1239–1242.

Teasdale G, Jennett B: Assessment of coma and im-paired consciousness. A practical scale: Lancet 1974; 13: 81–84.

    Weitere Infos

    Für die Autoren

    Prof. Dr. med. C.-M. Muth

    Leiter der Sektion Notfallmedizin

    Klinik für Anästhesiologie

    Universitätsklinikum Ulm

    Prittwitzstraße 43 – 89075 Ulm

    claus-martin.muth@uni-ulm.de

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