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Cannabis: die verharmloste Droge

Erst seit wenigen Jahren können neuro-wissenschaftliche Erkenntnisse zum besseren Verständnis der vielschich-tigen Auswirkungen des chronischen Cannabiskonsums beitragen. Ein erst Anfang der 1990er Jahre entdecktes endogene Cannabinoid-Rezeptorsystem ist von nicht zu unterschätzender „Verhaltensrelevanz“ und daneben an neurobiologischen Reifungsprozessen beteiligt. Es wird vermutet, dass ein Cannabismissbrauch in vulnerab-len Entwicklungsphasen der Adoleszenz mit möglicherweise überdauernden psychischen und kognitiven Funktionsstörungen assoziiert ist und darüber hinaus auch mit der Ausbildung psychiatrischer Störungen in Zusammenhang stehen kann.

Das endogene Cannabinoid-System

Dem endogenen Cannabinoid-System werden über seine Wechselwirkungen mit ande-ren Neurotransmittersystemen (z. B. Acetyl-cholin, Dopamin, Serotonin) bedeutsame neuromodulatorische Funktionen zugespro-chen. Cannabinoide wirken dabei auf unter-schiedlichen Ebenen, beispielsweise hinsichtlich der Freisetzung oder Speicherung einzelner Neurotransmitter, und können da-durch die Aktivität des jeweiligen Botenstoff-systems erheblich beeinflussen. Auch wird eine besondere Interaktion zwischen dem endogenen Cannabinoid- und dem Opioid-System beschrieben, was auf die Bedeutung des Endocannabinoid-Systems für die Entwicklung des Suchtverhaltens verweist.

Sowohl die sehr ausgeprägte Verbreitung des endogenen Cannabinoid-Systems im Gehirn als auch die engen Verbindungen zu anderen Neurotransmittersystemen lassen wichtige neurobiologische Funktionen vermuten. Da Endocannabinoide an der komplexen interzellulären Kommunikation be-teiligt sind, wird ihnen ebenfalls eine Bedeutung für synaptische Plastizitätsprozesse zugesprochen. Bekannt ist weiterhin, dass das endogene Cannabinoid-System eine wichtige, wenn auch im Detail noch unge-klärte Bedeutung hinsichtlich der Gehirn-entwicklung hat (Fernandez-Ruiz et al. 2000, 2004). So fällt auf, dass die Verteilungsdichte der Cannabinoid-Rezeptoren im Gehirn dem charakteristischen zeitlichen Entwicklungsverlauf der Synapsendichte entspricht und ab der Pubertät stetig abfällt. Dieser Abfall der Synapsendichte ist ein normaler Prozess innerhalb der Hirnentwicklung und gilt als Indikator der funktionellen Effizienz der neuronalen Organisation („fine tuning“). Dieser neurobiologische Entwicklungsprozess kann durch einen erhöhten Konsum von Cannabis gestört werden und zu psychischen Störungen führen, zumal der CB1-Rezeptor aufgrund seiner Einbettung in die komplexen neuronalen Transmissionsvorgänge für psychiatrische Erkrankungsbilder generell von besonderer Bedeutung ist (Schneider et al. 2000).

Psychiatrische Aspekte des chronischen Cannabiskonsums

In der psychiatrischen Anamnese können bei Langzeitkonsumenten folgende Auffällig-keiten vorliegen: kognitive Leistungsminde-rungen, psychotische Störungen, affektive Symptome, Angststörungen, Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten. Bei der akuten Intoxikation ist die Rauschwirkung abhängig von Dosis, Frequenz, Applikationsform, der persönlichen Disposition des Konsumenten und dem situativen Kontext.

Während der akuten Intoxikationsphase wurden assoziierte hirnorganische Verände-rungen festgestellt (z. B. Änderungen des Blutflusses oder des Glukosemetabolismus), die mit den Auffälligkeiten des Erlebens und Empfindens wie beispielsweise Änderung des Zeitsinns, Angst und Depersonalisa-tionserlebnissen assoziiert waren. Obwohl veränderte Hirnaktivitäten bei chronischen Cannabiskonsumenten festgestellt wurden, ließ sich bislang dennoch nicht die Frage beantworten, ob ein chronischer Cannabis-konsum möglicherweise auch mit überdauernden funktionellen oder strukturellen Hirnveränderungen einhergeht.

Als charakteristisch für einen chronischen Cannabiskonsum wird das sog. amotivatio-nale Syndrom angesehen, das mit Lethargie, Passivität, verflachtem Affekt und mangeln-dem Interesse einhergeht. Für die Behandlung von Cannabiskonsumenten spielt es eine nicht zu unterschätzende Rolle und steht aufgrund der damit einhergehenden psycho-sozialen Einschränkungen häufig im Mittelpunkt unterschiedlicher therapeutischer Maßnahmen. Allerdings werden weitere, nicht minder bedeutsamen Auffälligkeiten gelegentlich übersehen, wie beispielsweise die Anosognosie (das verminderte oder aufgehobene Krankheitsgefühl) oder die Anosodiaphorie (die Gleichgültigkeit gegenüber bestehenden Störungen oder Beeinträchtigungen).

Auf die klinische Relevanz dieser subtilen Störungen verwies u. a. Solowij (1998), die feststellte, dass Cannabiskonsumenten während der Zeit ihres chronischen Konsums kaum oder nur sehr eingeschränkt in der Lage waren, das Ausmaß bestehender kognitiver, affektiver und/oder psychosozia-ler Beeinträchtigungen zu erkennen. Dies zeigte sich erst mehrere Jahre nach Absetzen der Droge teilweise verbessert. Anhedonie (die Unfähigkeit, Freude zu empfinden) und Alexithymie (sog. Seelenblindheit) können weitere Auffälligkeiten darstellen. Hierfür werden dysfunktionale neuronale Schaltkreise der Emotionsverarbeitung ver-antwortlich gemacht, in denen Cannabinoid-Rezeptoren wesentlich an neuronalen Trans-missionsprozessen beteiligt sind.

Diese und andere Auffälligkeiten beziehungsweise psychische Erkrankungen sind bei abhängigen Cannabiskonsumenten in den letzten Jahren verstärkt untersucht wor-den, zumal bei chronischen Cannabiskonsumenten psychische Störungen eher die Regel als die Ausnahme darstellen sollen (Cope-land et al. 2001). So wird die psychiatrische Komorbiditätsrate durch chronischen Cannabiskonsumenten allgemein als sehr hoch eingeschätzt. Komorbide psychiatrische Erkrankungen sollen bei ca. 70 % der „normalen“ chronischen Konsumenten nachzuweisen sein (Arendt u. Munck-Jørgenson 2004; Perkonigg et al. 1999; Swift et al. 2001). Die Mehrzahl weist, wie auch die klinische Er-fahrung zeigt, Persönlichkeits- und Verhal-tensauffälligkeiten auf, wobei hier vor allem schizoide oder schizotypische Persönlichkeitsakzentuierungen festgestellt wurden.

Als besonders subtile Einschränkungen sind zudem Veränderungen im Bindungserleben und -verhalten festgestellt worden (Fattore et al. 2010). Ein anhaltend hohes Konsumniveau gilt als ein signifikanter Prädiktor für schulische, berufliche, finanzielle und familiäre Probleme sowie für die Entwicklung antisozialer Verhaltenszüge (z. B. Brook et al. 2002). Weiterhin wurden Angst-erkrankungen, Depressionen und psychotische Störungen festgestellt. Vorhandensein und Ausmaß der behandlungsbedürftigen psychischen Störungen zeigen sich dabei auffallend hoch mit dem Einstiegsalter und der Stärke des Cannabiskonsums korreliert.

Immer wieder ist auf den engen Zusam-menhang zwischen Cannabiskonsum und Erkrankungen aus dem schizophrenen Stö-rungskreis verwiesen worden. So ist die Prä-valenz von Cannabiskonsum bei Schizophre-nen etwa fünfmal höher als in der Normalpopulation und umgekehrt ist bei regelmäßi-gem Cannabiskonsum das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, bis zu sechsmal höher. Ob hier ein ursächlicher Zusam-menhang vorliegt, wurde zunächst kontrovers diskutiert. Neue Studien lassen aber einen sehr engen Zusammenhang zwischen dem Cannabiskonsum und dem Ausbruch einer schizophrenen Erkrankung bei einer genetisch vulnerablen Personengruppe vermuten (Caspi et al. 2005; Fergusson et al. 2006; Large et al. 2011; zur Übersicht siehe Müller-Vahl 2008 [„Weitere Infos“]), wobei hier erneut dem Einstiegsalter eine besondere Bedeutung zugemessen wird (Casadio et al. 2011; Sundram 2006).

Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass das endogene Cannabinoid-System auch für die Entwicklung von Erkrankungen aus dem Angststörungsspektrum (u. a. auch der Posttraumatischen Belastungsstörung) von Bedeutung sein kann (Marsicano et al. 2002). Die Relevanz dieser im Tierexperiment ge-wonnenen Erkenntnisse für die klinisch-psychiatrische Forschung ist zwar noch un-geklärt, jedoch werden dadurch neue Zusammenhänge zu den neurobiologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen aufgezeigt (Leweke u. Koethe 2008). Studien unterschiedlicher Arbeitsgruppen verweisen zudem auf den Zusammenhang zwischen einem regelmäßigen und auch früh begin-nenden Cannabiskonsum und der Entwick-lung affektiver Störungen und Angsterkran-kungen häufig erst Jahre nach dem Konsum-beginn (Verdoux et al. 2003). Diesbezüglich werden zudem Geschlechtseffekte hinsichtlich der Entwicklung unterschiedlicher psychiatrischer Erkrankungen diskutiert.

Neuropsychologische Auswirkungen des akuten und chronischen Cannabis-konsums

Der chronische Cannabiskonsum führt zu Lern- und Gedächtnisstörungen, verzögerten Reaktionszeiten, zu Einschränkungen der Aufmerksamkeit sowie zu Beeinträchtigungen bei komplexeren Umweltanforderungen, sofern in kombinierter Form ein hohes Maß an planerischen Fähigkeiten, Flexibilität-, Umstell- und Denkfähigkeit gefordert wird. Generell gilt: Je schwieriger und komplexer die Anforderungen ausfallen, desto deutlicher lassen sich kognitive Leistungsminderungen feststellen. Demgegenüber wurden bei einfacher Aufgabenstellung im Sinne von Routinetätigkeiten keine gravierenden Leistungsstörungen fest-gestellt (Solowij 1998).

Selbst nach Absetzen der Droge können kognitive Funktionen noch gestört sein, wo-bei über die Dauer dieser Funktionsbeeinträchtigungen noch Unklarheit herrscht. (Solowij u. Grenyer 2002).

Neuere Studienergebnisse verweisen auf einen „Abbau“ der intellektuellen Leistungs-fähigkeit (Meier et al. 2012), insbesondere aber höherer, d. h. exekutiver kognitiver Funktions- und Leistungsbereiche als Folge des regelmäßigen Konsums in Wechselwirkung mit einem frühen Konsumbeginn (Fontes et al. 2011; Schweinsburg et al. 2008). Forschungsergebnisse mittels bildgebender Verfahren geben zudem Hinweise auf regionale Hirnveränderungen bei chronischen Cannabiskonsumenten (Yücel et al. 2008), unter anderem im Hinblick auf die hirnorganische Organisation von Aufmerksamkeitsprozessen (Chang et al. 2006).

Erst seit wenigen Jahren treten entwicklungsneurobiologische Fragestellungen, kombiniert mit neuropsychologischen Untersuchungen, stärker in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Festgestellt wurden allerdings schon in den 1980er und 1990er Jahren bei jugendlichen Konsumenten Lern- und Gedächtnisstörungen sowie Störungen in höheren Funktionsbereichen der Verhal-tensregulation, wie beispielsweise aus Er-fahrungen zu lernen, Verhalten unterschiedlichen Situationen gegenüber flexibel anzupassen sowie komplexe kognitive Verarbeitungsprozesse adäquat zu steuern. Auf diese komplexen Beeinträchtigungen durch einen regelmäßigen Cannabiskonsum insbesondere im Schulleistungsbereich wurde immer wieder hingewiesen (u. a. Block et al. 1990).

In einer bisher einzigartigen Langzeitstudie stellten Fried und Mitarbeiter (1996) darüber hinaus Störungen in der motorischen, emotionalen, kognitiven und psychosozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fest, deren Mütter während der Schwangerschaft Cannabis konsumiert hatten. Unter psychiatrischen Gesichtspunk-ten findet diese Entwicklungsperspektive erst allmählich Beachtung (Sundram 2006).

Zusammenfassung

Seit der Entdeckung des sog. endogenen Cannabinoid-Systems, dessen funktionelle Bedeutung derzeit erst in Ansätzen verstan-den ist, finden neurobiologischen Grundlagen der Störungen des Erlebens und Ver-haltens, die durch chronischen Cannabiskonsum verursacht wurden, verstärkt Be-achtung. Daher haben Forschungsergebnisse aus verschiedenen neurowissenschaftlichen Disziplinen in den letzten Jahren geholfen, die mit einem chronischen Cannabiskonsum einhergehenden Störungen der Wahrnehmung, des Erlebens und Empfindens, der kognitiven Informationsverarbeitung sowie der adaptiven Verhaltenssteuerung im Hinblick auf ihre neurobiologischen Grundlagen besser zu verstehen.

Einzelne Aspekte dieser Zusammenhänge sind auch für den arbeitsmedizini-schen Bereich von Bedeutung. Für ein diffe-renziertes Verständnis psychiatrischer Erkrankungen sowie psychotherapeutischer Prozesse sind Kenntnisse über die vielfälti-gen und gelegentlich nur subtil in Erscheinung tretenden cannabisbezogenen Verhaltensauffälligkeiten zwingend erforderlich, und zwar auch bei der Behandlung von psy-chischen Störungen, in denen ein ggf. bestehender Cannabismissbrauch nicht im Fokus der Therapie steht.

Mit Sicherheit werden die Folgeschäden durch Cannabiskonsum, besonders bei Jugendlichen, in der gegenwärtigen, auch der politischen Diskussion, ganz erheblich unterschätzt.

Die Literaturliste ist beim Autor erhältlich.

    Weitere Infos

    Müller-Vahl K: Cannabinoide und Schizophrenie: Wo ist die Verbindung? Cannabinoids 2008

    www.cannabis-med.org/data/pdf/de_2008_04_1.pdf

    Solowij N, Pesa N: Cognitive abnormalities and cannabis use. Revista Brasileira de Psiquiatria 2010

    www.scielo.br/pdf/rbp/v32s1/en_a06v32s1.pdf

    Autor

    Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Hanns Jürgen Kunert

    AHG Allgemeine Hospital-gesellschaft AG

    Klinik am Waldsee

    REHA-Zentrum für junge Abhängige

    56745 Rieden

    hkunert@ahg.de

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