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Schwerbehindertenrecht: Grundlagen der ärztlichen Begutachtung

Historisches

Als im Jahr 1974 den Versorgungsverwaltungen der Bundesländer die Durchführung des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) zur „Sicherung der Eingliederung der Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft“ übertragen wurde, erfolgte zur Bestimmung des Schweregrades der Behinderung die Einschätzung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) analog zur Kriegsopferversorgung.

Im Jahr 1986 erfolgte eine Neufassung des Schwerbehindertengesetzes mit Einführung einer neuen Begrifflichkeit. Eine Behinderung wurde jetzt mit einem „Grad der Behinderung (GdB) ohne Prozentangabe“ eingeschätzt. Die entsprechenden tabellarischen Vorgaben hatten aber nach wie vor ihre Gültigkeit sowohl im Sozialen Entschädigungsrecht als auch im Schwerbehindertengesetz.

Nach umfassender Überarbeitung enthielten die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ aus dem Jahr 1996 eine gemeinsame GdB/MdE-Tabelle.

Im Jahr 2001 wurde das Schwerbehindertengesetz durch den Teil II (Schwerbehindertenrecht) des SGB IX abgelöst. Ziel war jetzt die „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“. In einem Urteil des Bundessozialgerichtes vom 11.10.1994 (AZ:9 RVs 1/93) wurde ausgeführt, dass die „Anhaltspunkte“ verfassungswidrig seien und die dort vorgenommenen Regelungen eines förmlichen Gesetzes bedürfen.

Nach vorangegangenen Änderungen im Bundesversorgungsgesetz wurde am 10.12.2008 die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) verabschiedet, die am 01.01.2009 in Kraft trat. Die tabellarischen Vorgaben wurden zunächst unverändert übernommen. Entsprechend den Änderungen im Bundesversorgungsgesetz erfolgte die Umstellung auf einen „Grad der Schädigungsfolgen“ (GdS).

Im § 152 SGB IX ist geregelt, dass die Vorgaben in der VersMedV auch im Schwerbehindertenrecht anzuwenden sind.

Das Soziale Entschädigungsrecht und das Schwerbehindertenrecht sind somit die einzigen Rechtsgebiete mit einer demokratisch legitimierten Begutachtungsgrundlage.

Nachteilsausgleiche für Menschen mit einer Schwerbehinderung

Menschen sind schwerbehindert, wenn ein GdB von mindestens 50 vorliegt. Nachfolgende Nachteilsausgleiche kommen in Betracht:

  • Besonderer Kündigungsschutz
  • Hilfe zur Teilhabe am Arbeitsleben
  • Beschäftigungsmöglichkeit in Werkstätten für behinderte Menschen
  • Bezahlter Zusatzurlaub
  • Besonderheiten bezüglich Altersrente und vorzeitiger Versetzung in den Ruhestand
  • Gestaffelte Steuerfreibeträge ab einem GdB von 30

Auf Antrag kann ab einem GdB 50 ein Schwerbehindertenausweis ausgestellt werden.

Merkzeichen

Über die Feststellung eines GdB hinaus ist die Zuerkennung von Merkzeichen, die in den Schwerbehindertenausweis eingetragen werden, mit weiteren Nachteilsausgleichen verbunden.

Die Merkzeichen „G“, „B“ und „aG“

Die persönlichen Voraussetzungen für die oben genannten Merkzeichen finden sich kodifiziert im § 146 SGB IX. Für den Gutachter maßgebend sind darüber hinaus die Vorgaben im Teil D der VersMedV.

Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Mz: G) liegt unter anderem vor, wenn für Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen – unter Einschluss der Lendenwirbelsäule – ein GdB von 50 zum Tragen kommt. Eine Herzleistungsminderung oder eine Lungenfunktionsstörung, die jeweils für sich allein mit einem GdB von 50 bewertet wurden, ziehen ebenfalls die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nach sich. Im Anerkennungsfall hat der Betroffene die Wahl zwischen Vergünstigungen bei der Kfz-Steuer oder im öffentlichen Personen-Nahverkehr.

Zur Mitnahme einer Begleitperson (Mz: B) ist ein Mensch mit einer Schwerbehinderung berechtigt, wenn er bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln regelmäßig auf Hilfe angewiesen ist.

Die Feststellung eine außergewöhnlichen Gehbehinderung (Mz: „aG“) berechtigt zur Benutzung von entsprechend gekennzeichneten Behindertenparkplätzen nach zusätzlicher Ausstellung eines Parkausweises durch die zuständige Straßenverkehrsbehörde. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung liegt vor, wenn sich die Betreffenden außerhalb ihres Fahrzeuges nur mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung bewegen können und auch für kurze Entfernungen auf einen Rollstuhl angewiesen sind.

Die Merkzeichen „Gl“, „Bl“ und „H“

Das Merkzeichen Gl im Schwerbehindertenausweis erhalten gehörlose Menschen. Als Gehörlose werden Menschen bezeichnet, bei denen Taubheit auf beiden Seiten vorliegt. Hörbehinderte Menschen, die eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit haben und eine schwere Sprachstörung aufweisen (in der Regel angeboren oder in der Kindheit erworben), erhalten ebenfalls das Merkzeichen. Die Vergünstigungen entsprechen dem Mz: „G“. Einige Telefonanbieter gewähren Gebührenermäßigungen.

Das Merkzeichen Bl steht für „blind“ und kommt auch schon bei einer hochgradigen Sehbehinderung zum Tragen. Es ist unter anderem mit einem erhöhten Steuerfreibetrag, mit Freifahrt im öffentlichen Personen-Nahverkehr und mit der Berechtigung, gekennzeichnete Behindertenparkplätze zu nutzen, verbunden.

Hilflos – Merkzeichen „H“ – sind diejenigen, die infolge von Gesundheitsstörungen „nicht nur vorübergehend“ für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages dauernd fremder Hilfe bedürfen. Auf die allgemeinen Grundsätze der VersMedV darf verwiesen werden. Das Merkzeichen führt zu einem nicht unerheblichen Steuerfreibetrag. Nicht verwechselt werden darf die „Hilflosigkeit“ mit dem Begriff der „Pflegebedürftigkeit“ des SGB XI. Im Rahmen einer individuellen Prüfung kann die Zuerkennung des Merkzeichens „H“ ab einem Pflegegrad von 4 diskutiert werden.

Bei der Beurteilung von Hilflosigkeit im Kinder- und Jugendalter sind einige Besonderheiten zu beachten. Berücksichtigung können dabei nur die Krankheitsbilder finden, die unter Punkt 5 des allgemeinen Teils der VersMedV aufgeführt sind.

Das Antragsverfahren

Die örtlich zuständigen Verwaltungen werden auf Antrag tätig. Auf dem Boden des Amtsermittlungsprinzips werden von der Verwaltung zu den geltend gemachten Behinderungen medizinische Befunde beigezogen. Nach Abschluss der Ermittlungen wird die Akte dann einem Arzt oder einer Ärztin (intern oder extern) zugeleitet.

Liegt das ärztliche Gutachten vor, erfolgt noch eine Plausibilitätsprüfung durch den zuständigen Sachbearbeiter. Die Einstufung der Behinderungen erfolgt nach der Versorgungsmedizin-Verordnung in GdB-10er Schritten. Liegen mehrere Behinderungen vor, ist ein Gesamt-GdB zu bilden. Darüber hinaus ist eine Stellungnahme zu eventuellen „Merkzeichen“ erforderlich. Der abschließende Bescheid enthält neben der Bezeichnung der Behinderung(en) die Feststellung eines GdB. Liegen mehrere Behinderungen vor, wird nur der Gesamt-GdB ausgewiesen (s. unten). Die jeweiligen Einzel-GdB-Werte sind nicht Gegenstand eines Bescheids.

Das ärztliche Gutachten

Die Begutachtung erfolgt in der Regel nach Aktenlage. Es besteht kein Rechtsanspruch auf eine Präsenzbegutachtung, die häufig erst in einem Klageverfahren erfolgt.

Einzel-GdB

In einem ersten Schritt sind die geltend gemachten Behinderungen nach den Vorgaben der aktuellen Fassung der Versorgungsmedizin-Verordnung einzuschätzen. Hierbei ist zu beachten, dass die Einschätzungen nach Organsystemen getrennt vorzunehmen ist. Im Bereich des Bewegungsapparates sind dabei die Wirbelsäule sowie die oberen und unteren Extremitäten getrennt zu bewerten.

Die Feststellung einer Behinderung setzt voraus, dass Art und Schweregrad einer Behinderung durch belastbare Befunde belegt sind. Weder ein „Verdacht auf …“ noch ein „Zustand nach …“ kann zur Feststellung einer Behinderung führen.

Gesamt-GdB

Liegen mehrere Behinderungen vor – was häufig der Fall ist – so ist ein Gesamt-GdB zu bilden. Es handelt sich dabei um eine komplexe sozialmedizinische Einzelfallbetrachtung. Ausgehend von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB ist zu prüfen, ob die darüber hinaus vorliegen Behinderungen sich nachteilig auf die Gesamtsituation bzw. die Teilhabe auswirken. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich Behinderungen mit einem Einzel-GdB von 10 nicht auf den Gesamt-GdB auswirken. Auch Behinderungen mit einem Einzel-GdB von 20 werden nur in begründeten Einzelfällen in die Höhe des Gesamt-GdB einfließen.

Bei der Bildung des Gesamt-GdB gilt es zu prüfen, ob die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbehinderungen voneinander unabhängig sind, sich überschneiden, sich nicht verstärken (z.B. Peronaeuslähmung rechts und Sprunggelenksversteifung rechts) oder sich besonders nachteilig auswirken (z.B. Hemiparese rechts und Verletzungsfolgen mit Greifstörungen an der linken Hand).

Nachprüfung

Wenn bei einer Behinderung in der Zukunft mit einer höheren Wahrscheinlichkeit mit einer wesentlichen Besserung zu rechnen ist, sollte der Gutachter eine Nachprüfung vorschlagen.

Merkzeichen

In einem letzten Schritt ist vom Gutachter zu prüfen, ob ab einem GdB von 50 Merkzeichen zuerkannt werden können, die in den Schwerbehindertenausweis eingetragen werden.

Maligne Erkrankungen

Nach dem Willen des Verordnungsgebers sollen Patienten mit einer malignen Grunderkrankung – unabhängig vom Ausmaß der Erkrankung – vorübergehend den Schutz des Schwerbehindertenrechts erhalten. Im Rahmen einer so genannten „Heilungsbewährung“ ist für einen Zeitraum von 2 oder 5 Jahren ein Mindest-GdB von 50 vorgesehen. Die Einstufung basiert auf dem TNM-System (Tumor-Nodulus-Metastase-System). Für hämatologische Erkrankungen ist darüber hinaus auch noch ein erhöhter GdB für die Zeit der Chemotherapie vorgesehen. Auf die sehr individuellen Regelungen in der VersMedV darf verwiesen werden.

Geplante Änderungen

Bis dato wurden fünf Verordnungen zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung erlassen. Es erfolgten die dringend notwendigen Anpassungen an den medizinischen Fortschritt.

In Umsetzung des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 – Ratifikation durch die Bundesrepublik Deutschland am 24.02.2009 – erfolgt derzeit die Gesamtüberarbeitung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit Implementierung des biosozialen Modells von Gesundheit und Krankheit, das der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) zugrunde liegt. Die 6. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung ist seit längerer Zeit in Vorbereitung. Der Abstimmungsprozess zwischen Bund, Ländern und den Verbänden ist noch nicht abgeschlossen.

Den Gutachtern ist zu empfehlen, die aktuelle Entwicklung zu verfolgen und den jeweils aktuellen Stand der Homepage des BMAS zu entnehmen.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV – Versorgungsmedizinische Grundsätze. Bonn: BMAS, 2009.

Koss M: Die Beurteilung des Grades der Schädigungsfolgen nach dem sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht bei endoprothetischem Gelenkersatz. MedSach 2011; 107: 189–190.

Nieder P, Losch E, Thomann K-D (Hrsg.): Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten. Frankfurt/M.: Referenz-Verlag, 2012

    Basiswissen

    Trägerinstitutionen

    • Versorgungsverwaltungen der Bundesländer bzw. der Kommunen
    • Integrationsämter mit den jeweiligen Integrationsfachdiensten
    • Arbeitsämter
    • etc.

    Rechtsgrundlage

    • SGB IX, Teil II: Schwerbehindertenrecht
    • SGB X (Verfahrensrecht)
    • Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008
    • Straßenverkehrsrecht (Merkzeichen „aG“)
    • etc.

    Rechtsweg

    • Sozialgerichtsbarkeit

    Was ist eine Behinderung?

    § 2 SGB IX Begriffsbestimmungen

    (1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.

    autor

    Dr. med. Michael Koss

    Interdisziplinäre Medizinische Begutachtung

    Landgraf-Karl-Str. 21

    34131 Kassel

    info@imb-kassel.de

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