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Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed) beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales– Folge 1 –

Arbeitsmedizinische Empfehlung (AME) “Wunschvorsorge“

Vorwort

Die Digitalisierung schafft viele neue Chancen. Sie gibt uns auch die Chance, dass wir wirtschaftlichen Erfolg und selbstbestimmtes Leben besser zusammenbringen können. Das Gegenstück zu Flexibilität und der Fähigkeit zu schneller und ständiger Innovation sind vielfältige, bunte, individuelle Lebensläufe. Damit die zukünftige Arbeit in ihrer ganzen Vielfalt auch den Menschen und ihren Bedürfnissen gerecht wird, müssen wir technische Innovationen und soziale Entwicklungen vorausschauend zusammen denken. Niemand soll von seiner Arbeit krank werden.

Aber welche Arbeitsbelastungen können krank machen, wie können wir solchen Belastungen begegnen? Damit die rasante Entwicklung mit all ihren Innovationen ohne gesundheitliche Gefährdungen verläuft, brauchen Arbeitgeber und die Beschäftigten selbst arbeitsmedizinischen Rat. Unser Arbeitsschutzgesetz beschreibt schon seit 20 Jahren den Anspruch auf arbeitsmedizinische Vorsorge. Hier können die individuellen Wechselwirkungen zwischen Arbeit und Gesundheit vertraulich besprochen, mögliche Risiken identifiziert und Maßnahmen zur Abhilfe gefunden werden. Das ist eine wertvolle Ergänzung zu technischen und organisatorischen Schutzmaßnahmen. Das gilt für die Arbeitswelt heute und wird künftig noch an Bedeutung gewinnen.

Ich freue mich sehr über die Empfehlung des Ausschusses für Arbeitsmedizin und danke allen, die mitgewirkt haben. Ich hoffe, dass diese Empfehlung der arbeitsmedizinischen Prävention einen wichtigen Schub geben wird. Sie richtet sich insbesondere an Betriebsärzte, aber auch an die betrieblichen Sozialpartner, und zeigt Möglichkeiten auf, wie die Wunschvorsorge noch besser als bisher im Betrieb genutzt werden kann.

Thorben Albrecht

Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Anmerkung

Arbeitsmedizinische Empfehlungen (AME) beruhen auf gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnissen. Sie werden vom Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed) aufgestellt oder angepasst und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) veröffentlicht. Im Gegensatz zu den Arbeitsmedizinischen Regeln (AMR) haben AME keine Vermutungswirkung, sondern allein Empfehlungscharakter. Im Rahmen der Empfehlungen werden die Herausforderungen der betriebsärztlichen Praxis angesprochen. Es wird aufgezeigt, welche Chancen in der betriebsärztlichen Betreuung der Beschäftigten – angesichts des demografischen Wandels in der Bevölkerung wie auch bei der Bewältigung der Herausforderungen in der sich rasant verändernden Arbeitswelt – stecken.

In 3 Folgen wird ASU die AME „Wunschvorsorge“ des Ausschusses Arbeitsmedizin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vorstellen. Diese AME, die Handlungsempfehlungen zur Wunschvorsorge gibt, wurde von einem Arbeitskreis des AfAMed erarbeitet. Mitglieder und Autoren waren: Brigitte Hoffmann, Barbara Matschke, Petra Müller-Knöß, Wolfgang Panter, Gabriela Petreit-Haak (Leitung), Jens Petersen. Der Abdruck der AME „Wunschvorsorge“ ist durch die Genehmigung des Carl Heymanns Verlags (Wolters Kluwer Deutschland) möglich gemacht.

Folge 1 befasst sich mit den Zugangswegen zur Wunschvorsorge. Folge 2 geht vertiefend auf die Zugangswege sowie auf mögliche Inhalte der Wunschvorsorge ein. Folge 3 greift die Themen Bestandteile der arbeitsmedizinischen Wunschvorsorge, ärztliche Schweigepflicht und Abgrenzung zu allgemeiner Gesundheitsvorsorge und zur Eignungsuntersuchung auf. Jede Folge zeigt Praxisbeispiele auf.

Allgemeine Einleitung

Nach der Arbeitsschutzrahmenrichtlinie der Europäischen Union muss dem Beschäftigten das Recht gewährt werden, seine Gesundheit überwachen zu lassen. Die Umsetzung dieses Rechts erfolgte im Jahr 1996 durch § 11 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) unter der Überschrift „Arbeitsmedizinische Vorsorge“. Danach hat der Arbeitgeber dem Beschäftigten auf seinen Wunsch hin zu ermöglichen, sich regelmäßig arbeitsmedizinisch beraten und untersuchen zu lassen. Der Anspruch besteht nur dann nicht, wenn aufgrund der Gefährdungsbeurteilung und der getroffenen Schutzmaßnahmen nicht mit einem Gesundheitsschaden zu rechnen ist. Im Streitfall muss der Arbeitgeber dies darlegen und beweisen.

Mit der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) aus dem Jahr 2008 wurden die Pflichten von Arbeitgebern und Betriebsärzten sowie die Rechte des Beschäftigten bei der arbeitsmedizinischen Vorsorge geregelt. Hat der Arbeitgeber einen Betriebsarzt bestellt, so sollte er diesen vorrangig mit der arbeitsmedizinischen Vorsorge beauftragen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die arbeitsmedizinische Vorsorge, somit auch die Wunschvorsorge, zur betriebsärztlichen Tätigkeit gehört; nach den Vorschriften der Unfallversicherungsträger (DGUV Vorschrift 2) gehört die arbeitsmedizinische Vorsorge zum betriebsspezifischen Teil.

Arbeitsmedizinische Vorsorge zielt auf individuelle Aufklärung, Beratung und Untersuchung des Beschäftigten in Bezug auf die Wechselwirkungen zwischen seiner Arbeit und seiner Gesundheit. Dadurch sollen arbeitsbedingte Erkrankungen verhütet und frühzeitig erkannt werden. Arbeitsmedizinische Vorsorge dient zugleich der Feststellung, ob bei Ausübung einer bestimmten Tätigkeit eine erhöhte gesundheitliche Gefährdung für den Betreffenden besteht.

Entsprechend der im Arbeitsschutzrecht vorgeschriebenen Rangfolge der Schutzmaßnahmen (vgl. § 4 Nr. 5 ArbSchG), wonach Maßnahmen der Verhältnisprävention Vorrang vor individuellen Maßnahmen haben, darf arbeitsmedizinische Vorsorge technische und organisatorische Arbeitsschutzmaßnahmen nicht ersetzen, kann sie aber wirksam ergänzen. Denn auch wenn der Arbeitgeber alle nach der Gefährdungsbeurteilung erforderlichen Arbeitsschutzmaßnahmen getroffen hat, können für den einzelnen Beschäftigten gesundheitliche Risiken verbleiben Die ArbMedVV von 2008 enthielt keine ausdrückliche Aussage zur Wunschvorsorge. In Anknüpfung an vorherige Rechtsvorschriften in staatlichen Arbeitsschutzvorschriften und im Unfallverhütungsrecht wurden im Anhang der ArMedVV besonders gefährdende Tätigkeiten aufgelistet, bei denen Pflichtvorsorge zu veranlassen war, bzw. gefährdende Tätigkeiten genannt, bei denen den Beschäftigten Vorsorge angeboten werden musste (Angebotsvorsorge). Durch die ausdrückliche Erwähnung dieser Tätigkeiten geriet die Wunschvorsorge aus dem Blick, das heißt, es wurde in der betrieblichen Praxis zu wenig beachtet, dass arbeitsmedizinische Vorsorge bei grundsätzlich allen Tätigkeiten gewährt werden muss und dass Vorsorge alle arbeitsbezogenen Gesundheitsfragen umfasst.

Durch Änderungsverordnung der ArbMedVV im Jahr 2013 wurde für die Wunschvorsorge ein eigener Paragraf (§ 5a ArbMedVV) inhaltsgleich zu § 11 ArbSchG in die Verordnung aufgenommen. Die ausdrückliche Nennung der Wunschvorsorge in der Verordnung macht deutlich, dass die in der Verordnung geregelten Pflichten und Rechte auch für diese Vorsorgeart gelten. Auch ist damit klargestellt, dass Arbeitsmedizinische Regeln und Empfehlungen des Ausschusses für Arbeitsmedizin (AfAMed) auf die Wunschvorsorge entsprechend anzuwenden sind.

Die ArbMedVV enthält keine Auflistung von Tätigkeiten, bei denen Wunschvorsorge gewährt werden muss. Das wäre von Rechts wegen auch gar nicht möglich, weil eine ausdrückliche Nennung bestimmter Tätigkeiten zum generellen Ausschluss nicht genannter Tätigkeiten führen würde. Aus arbeitsmedizinischer Sicht können keine Tätigkeiten genannt werden, bei denen ein Gesundheitsschaden generell, d.h. von vornherein und abstrakt, auszuschließen wäre. Der Anspruch des Beschäftigten auf Wunschvorsorge nach § 11 ArbSchG und § 5a ArbMedVV entfällt im Einzelfall nur, wenn aufgrund der Gefährdungsbeurteilung und der getroffenen Schutzmaßnahmen mit einem Gesundheitsschaden nicht zu rechnen ist. Im Streitfall muss der Arbeitgeber dies in Bezug auf den konkreten Arbeitsplatz darlegen und beweisen. Die vorliegende Arbeitsmedizinische Empfehlung erfolgt auf der Grundlage von § 9 Absatz 3 Nummer 3 ArbMedVV und gibt Handlungsempfehlungen zur Wunschvorsorge.

Praxisbeispiele

Bei der Wunschvorsorge ist ebenso wie bei der Pflicht- und Angebotsvorsorge der individuelle Aspekt von besonderer Bedeutung. Im Sinne einer ganzheitlichen Vorsorge sollten individuelle Disposition, bestehende Erkrankungen, Alter, aber auch der soziokulturelle Hintergrund mit betrachtet werden. Mit folgenden Beispielen soll Erfahrungswissen von Ärzten weitergegeben werden, die schon längere Zeit Wunschvorsorge im Betrieb praktizieren. Die Beispiele geben Anregungen zu verschiedenen Themen und zeigen Umsetzungsmöglichkeiten auf.

Beispiel 1Elektromagnetische Felder: Defibrillator

Ein 49-jähriger Beschäftigter aus der Produktion war zwei Jahre zuvor an einer schweren Entzündung des Herzmuskels mit hochgradiger Herzschwäche erkrankt, prophylaktisch wurde ein Defibrillator implantiert. Er stellt sich in der betriebsärztlichen Sprechstunde vor, weil er eine Störbeeinflussung des Defibrillators am Arbeitsplatz befürchtet.

Daraufhin wird der Arbeitsplatz mit dem Ergebnis besichtigt, dass elektromagnetische und magnetische Beeinflussungen des Defibrillators nicht auszuschließen sind. Zum einen befinden sich an den Anlagen große Elektromagneten über den Förderbändern zum Aussortieren von magnetischem Schrott, zum anderen führen die Fußwege in der Anlage oft sehr nah an Elektromotoren vorbei.

Es erfolgt durch die Berufsgenossenschaft eine Messung der elektromagnetischen Felder, ein kritischer Bereich wird durch ein Geländer abgegrenzt. Die Tätigkeit am Stammarbeitsplatz kann wieder ausgeführt werden.

Beispiel 2Individuelle persönliche Schutzausrüstung: Fußprobleme

Ein 49-jähriger Verputzer stellt sich zur Pflichtvorsorge „Staub“ beim Betriebsarzt vor. Seine Tätigkeit erfordert das Tragen von Sicherheitsschuhen. Bei der Anamnese klagt er über Fußbeschwerden. Als Diabetiker hat er ein erhöhtes Risiko für Fußerkrankungen.

Die Fußinspektion ergibt Hinweise für Druckstellen. In Absprache mit der Fachkraft für Arbeitssicherheit werden Sicherheitsschuhe mit besserer Passform zur Verfügung gestellt.

Beispiel 3Staubexposition: Augenprobleme

Eine 25-jährige Beschäftigte, die erst seit wenigen Tagen in einer Lagerhalle arbeitet, stellt sich mit Brennen und Fremdkörpergefühl an beiden Augen in der betriebsärztlichen Sprechstunde vor.

Sie ist kurzsichtig und trägt Kontaktlinsen. Die Untersuchung durch den Betriebsarzt ergibt eine deutliche Rötung der Augen. Sie wird darüber aufgeklärt, dass sie ihre Kontaktlinsen bei bestimmten Tätigkeiten nicht tragen und sich eine geeignete Sehhilfe anpassen lassen sollte.

Es wurde empfohlen, eine akute Infektion der Augen im Rahmen einer augenärztlichen Untersuchung auszuschließen. Außerdem wurden die Arbeitsplatzverhältnisse überprüft.

Beispiel 4Feuchtarbeit: Hautveränderungen

Eine 44-jährige Service-Beschäftigte der Werkskantine kommt wegen seit einem halben Jahr bestehender, juckender Hautveränderungen an beiden Händen in die betriebsärztliche Sprechstunde. Der Arbeitgeber hat keine Kenntnis von den Hautveränderungen.

Zu den Arbeitsaufgaben der Service-Beschäftigten gehören die Essensausgabe, das Kassieren und in geringem Umfang Reinigungstätigkeiten. Dabei werden etwa 60 Minuten pro Tag Einmalhandschuhe aus Nitril-Kautschuk getragen. Außerdem müsse sie sich mehr als zehnmal am Tag die Hände mit einer desinfizierenden Seife waschen. Beides verstärke den Juckreiz an den Händen. Die Beschäftigte ist seit acht Jahren in der Kantine eingesetzt. Vor sieben Jahren sei es schon einmal zu Ekzemen gekommen, allerdings damals im Bereich des Gesichts und an den Gelenkbeugen. Bei der Untersuchung der Haut fanden sich eine Rötung der Hände und ausgeprägte Erytheme sowie Atopiezeichen mit einer trockenen Haut, mit Ichthyosishänden und einem weißem Dermographismus. Unter dem Verdacht eines beruflich verstärkten atopischen Handekzems wurde ein „Betriebsärztlicher Gefährdungsbericht Haut“ erstellt und gegenüber der Beschäftigten die Vorstellung bei einem Hautfacharzt zur Einleitung eines Hautarztverfahrens angeregt. Zusätzlich wurde ein individueller Hautschutzplan für die Beschäftigte erstellt, da die bisherigen Hautschutzmaßnahmen nicht ausreichend waren. Nach der Arbeitsmedizinischen Regel „Mitteilungen an den Arbeitgeber nach §6 Absatz 4 ArbMedVV“ (AMR 6.4) wurde die Betriebsleitung darüber informiert, dass die Gefährdungsbeurteilung anzupassen ist und gegebenenfalls eine regelmäßige arbeitsmedizinische Vorsorge zu veranlassen oder anzubieten ist.

    AUFBEREITET VON

    Bereichsleiterin im Dezernat 1

    – Bevölkerungsmedizin –

    Bundesärztekammer, Berlin

    Herbert-Lewin-Platz 1 – 10623 Berlin

    annegret.schoeller@baek.de

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