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Bisherige Erfahrungen und Ausblick

Gonarthrose als Berufskrankheit

Die Berufskrankheit „Gonarthrose“ wurde im Rahmen einer BKV-Änderungsverordnung 2009 als BK 2112 in die Berufskrank-heitenliste aufgenommen. Die Basis hierfür bildete eine wissenschaftliche Begründung des Sachverständigenbeirats „Berufskrankheiten“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales aus dem Jahre 2005.

Ähnlich wie bei BK 2108 „Bandscheiben-bedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule“ fußt die wissenschaftliche Be-gründung für die BK 2112 auf der epidemiologischen Datenlage von Fall-Kontroll-Studien. Die Exposition in Form berufsbedingter Belastungen erhält man dabei vorwiegend aus retrospektiven Angaben Erkrankter oder aus Expertenkalkulationen. Dabei muss regelhaft ein Recall-Bias mit Überschätzung der kumulativen Einwirkungsdosen in der Fallgruppe in Kauf genommen werden. Darin spiegeln sich Kausalitätsbedürfnis und landläufige Meinung, durch die Arbeit „kaputt geschafft“ worden zu sein. Die Risikoschätzer „Odds Ratios“ erhöhen sich konsekutiv.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich im orthopädischen Bereich bislang keine durch chronische Einwirkungen hervorgerufene belastungsadäquate Schadensbilder ableiten ließen, weder für das Knie noch für die Lendenwirbelsäule. Sowohl bei der Gonarthrose als auch den degenerativen Bandscheibenschäden hat man es mit Volks-krankheiten zu tun. Daher wird versucht, die berufliche Verursachung über einen Belastungsdosis-Grenzwert zu indizieren.

Diesen Überlegungen liegt das biomecha-nische Paradigma zugrunde. Es leitet sich u. a. von der Beobachtung ab, dass sich die Gelenksdegeneration bei physiologisch-varischer Beinachse vorrangig im medialen Tibiaplateau und hier wiederum im zentra-len Hauptbelastungsbereich abspielt. Aufgrund der Konstruktion des Knies als Roll-Gleit-Drehgelenk verschiebt sich diese Be-lastungszone beim Knien nach dorsal. Lang-jähriges Knien insbesondere im Fersensitz oder der Kniehocke müsste sich daher in einer Osteochondrose der hinteren Tibiakonsole und der dorsalen Anteile der Fe-murkondylen niederschlagen. In Felduntersuchungen konnte aber bislang ein solcher Zusammenhang nicht dargestellt werden. Millionen von Angehörigen fernöstlicher und afrikanischer Kulturkreise verbringen einen Großteil des Tages im Hocksitz, ohne dass sich daraus ein erhöhtes Risiko für die Gonarthrose ergeben hätte.

Das Kausalitätsproblem lässt sich durch eine pseudoplausible Miniaturisierung des Traumabegriffs („steter Tropfen höhlt den Stein“) nicht lösen. Deswegen und aufgrund des Recall-Bias können trotz größter Anstrengungen reliable kumulative Dosis-Wirkungs-Beziehungen nicht abgeleitet werden – wie im Fall der BK 2108 jüngst in der DWS-Richtwertestudie (Jäger u. Seid-ler 2014) demonstriert – oder sie sind weitgehend willkürlich aufgestellt und unzureichend operationalisiert, wie bei den 13 000 sog. Kniestunden. Zwar wurde diese kumulative Grenzdosis in neueren epidemiologischen Studien bestätigt, es fehlt aber nach wie vor das pathophysiologische Modell, um diese Grenzdosis zu begründen. Die in der vorliegenden ASU-Ausgabe präsentierten biomechanischen Studien von Glitsch und Ditchen zeigen eindrucksvoll, dass es beim Knien eben nicht zu einer maßgeblichen Erhöhung der Druckkräfte kommt.

Durch das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversiche-rung (IFA) wurde für derartige Erhebungen ein Messverfahren entwickelt, mit dem Bewegungen bei der Arbeit nach Winkelgraden und Einwirkdauer objektiv erfasst und Aussagen zu kumulativen Einwirkungen getroffen werden können (CUELA-Mess-System). Nicht unerwartet korrespondieren Selbstangaben Betroffener und Messwerte nicht besonders gut, selbst wenn diese in einem zeitlichen Zusammenhang stehen. Ein technisch fundiertes Messverfahren wird daher das Kausalitäts- und Abgrenzungsproblem der Berufskrankheit Gonarthrose nicht beheben können.

Aus den bislang vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben sich also weder qualitativ-radiomorphologisch und klinisch, noch quantitativ-biomechanisch belastbare Anhaltspunkte für degenerative Gelenkveränderungen durch Knien. Einzig und allein die Epidemiologie liefert entsprechende Ergebnisse. Auf die infolge Recall-Bias limitierte Aussagekraft dieser Studien wurde bereits hingewiesen. Beim derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand müssen Zweifel daran erlaubt sein, ob es jemals gelingen wird, eine Kenngröße zu finden, die eine Diskrimination der schicksalsmäßigen und der berufsbedingten Degeneration im Kniegelenk ermöglicht. Ja es ist die Frage zu stellen, ob es überhaupt eine Berufskrankheit „Gonarthrose“ gibt.

Dieses Dilemma vor Augen wurden durch die DGUV als Herausgeber im Sonderheft 4/2012 der Zeitschrift „Trauma und Berufskrankheit“ außerberufliche Faktoren der Gonarthrose in 11 Beiträgen behandelt. Die Empfehlungen wurden von einem interdisziplinären Arbeitskreis erarbeitet, der unter anderem die Fachgesellschaften der Arbeitsmedizin, der Orthopädie und der Radiologie einbezog. Damit sollte der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand fundiert und möglichst repräsentativ abgebildet werden. Es war der Versuch, die berufliche Ver-ursachung der Gonarthrose per exclusionem einzugrenzen. Eine derartige Methodik entspricht jedoch nicht der aktuellen Rechtsprechungspraxis.

Zagrodnik et al. (2012) haben in einer tabellarischen Schnellübersicht im vor-genannten Sonderheft die verschiedenen außerberuflichen Ursachen der Gonarthrose zusammengefasst. Die Einzelfaktoren des metabolischen Syndroms (Übergewicht, Diabetes mellitus, Hypertonie, Hypercholesterinämie) finden zwar Erwähnung, das metabolische Syndrom als übergeordneter Cluster (gefäß)degenerativer Risikofakto-ren wurde aber nicht behandelt. Dabei existieren nicht erst in letzter Zeit zahlreiche wissenschaftlich gesicherte Ergebnisse zur Gelenksdegeneration durch metabolische Einflüsse (Yoshimura et al. 2012). Auch für die Erkrankungen der Stammvenen der unteren Extremität, für die Arteriosklerose der Femoralarterie und für die häufigen Lymphopathien bestehen Beziehungen zur Gon-arthrose. Die entsprechenden Krankheitsbilder sind seit langem bekannt – z. B. als phleboarthrotischer Komplex – und patho-physiologisch klar definiert. Sie finden in der Tabelle über die konkurrierenden außerberuflichen Faktoren aber keine Erwähnung.

Eine Lösung des Kausalitätsproblems mit grundsätzlicher Unterscheidung der be-ruflichen und privaten Verursachungsfaktoren ist nicht Sache der Rechtsprechung. Es ist auch nicht Aufgabe der Richter, den Ärzten zu erklären, wie Degeneration und Arthrose funktionieren. Umgekehrt ist es nicht akzeptabel, wenn sozialrechtliche und sozialtechnokratische Konstrukte als Surrogat für fehlendes pathophysiologisches Verständnis übereinander getürmt werden. In diesem Zusammenhang zu nennen sind BK-Merkblätter, wissenschaftliche Begründungen, Begutachtungsempfehlungen der Fachgesellschaften und der gesetzlichen Unfallversicherung und Belastungsgrenzdosen. Keine der derzeit gebräuchlichen Empfehlungen erfüllt die Voraussetzungen für ein antizipiertes, Verwaltung und Gericht in bestimmtem Umfang bindendes Sachverständigengutachten. Dieses 2009 von Becker artikulierte Statement gilt heute genauso wie damals. Die Rechtsprechung im Berufskrankheitenbereich ist daher unabdingbar auf eine fundierte ärztliche Begutachtung angewiesen. Hier reicht klini-sche Erfahrung alleine nicht aus. Vielmehr müssen die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse mit in das Gutachtenergebnis einfließen.

Die Beiträge von Schröter und Ludolph im vorliegenden ASU-Heft führen alle maßgeblichen Prüfkriterien auf, die im Rah-men einer Kausalitäts- und MdE-Beurteilung bei der BK 2112 zu berücksichtigen sind. Der Beitrag von Horng erklärt die ra-diologischen Methoden und die Beurteilung radiomorphologischer Veränderungen im Kontext der Begutachtung der BK Gonarthrose.

Prof. Dr. med. Michael Kentner, Karlsruhe

Dr. med. Karlheinz Frank, Karlsruhe

Literatur

Becker P: Stellenwert von Leitlinien und antizipierten Sachverständigengutachten bei der arbeitsmedizini-schen Begutachtung. Arbeitsmed Sozialmed Umwelt-med 2009; 44: 592–597.

DGUV (Hrsg.): Begutachtungsempfehlung für die Be-rufskrankheit Nummer 2112 (Gonarthrose). Schriften-reihe der DGUV, 2013.

Jäger M, Seidler A: DWS-Richtwertestudie – ver-tiefende Reanalyse der Deutschen Wirbelsäulenstudie. Zbl Arbeitsmed 2014; 64: 149–150.

Yoshimura N, Muraki S, Oka H et al.: Accumulation of metabolic risc factors such as overweight, hyper-tension, dyslipidemia and impaired glucose tolerance raises the risc of occurence and progression of knee osteoarthritis: a 3-year follow-up of the ROAD Study. Osteoarthritis and Cartilage 2012; 20: 1217–1226.

Zagrodnik FD, Bolm-Audorff U, Eberth F, Gantz S, Grifka J, Liebers F, Schiltenwolf M, Spahn G, Vaitl T.: Außerberufliche Faktoren der Gonarthrose. Trauma und Berufskrankheit 2012; Suppl. 4: 399–401.

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