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Anforderung – Nutzen – Verbesserungspotenzial

PSA in tiefer Kälte

Der vom Arbeitnehmer getragenen Kälte-schutzkleidung kommt eine besondere Bedeutung im präventiven Arbeitsschutz zu. Die Herausforderung besteht vor allem darin, die Bekleidung – bestehend aus einer Thermohose, Thermojacke, Thermohandschuhen und Kälteschutzstiefeln sowie ggf. einer Kopfbedeckung – derart auszulegen, dass zum einen keine Kälte von außen in den Körper eindringen kann und zum anderen eine hohe Wasserdampfdurchlässigkeit die Ableitung der vom Körper beim anstrengenden Warenhandling produzierten Feuchtig-keit gewährleistet (Wang et al. 2007). Durch das Kommissionieren von meist 2 bis 15 kg schweren Warenpaketen werden Muskelarbeit und Energieumsatz gesteigert und dadurch erhebliche Mengen Stoffwechselwärme produziert, was in der Kälte unbedingt als positiv zu bewerten ist, da es die Auskühlung des Körpers mindert. Allerdings birgt diese Wärmeerzeugung aber auch das Risiko, dass es zur Schweißbildung kommt und der nicht abgeleitete Wasserdampf die Kleidung durchnässt. Auch in DIN EN 342 (2004) wird darauf hingewiesen, dass die Feuchtigkeitsaufnahme der Kleidung deren Isolation zunehmend beeinträchtigt und da-her das Schwitzen bei längerem Aufenthalt in Kälte vermieden werden sollte. Da dieses aber bei körperlicher Arbeit kaum gelingt, ist bei der Auswahl der Kälteschutzkleidung nicht auf die maximale, sondern vielmehr auf die optimale Isolation zu achten (vgl. DIN EN 342 2004).

In DIN EN ISO 11079 (2008) wird daher auch empfohlen, die erforderliche Isolation der Bekleidung (IREQ) zu ermitteln, die bei einem festgelegten Niveau der physiologischen Beanspruchung und einer definierten Umgebungstemperatur das thermische Gleichgewicht des Körpers aufrechterhal-ten kann. Hierbei ist der Wert IREQneutral das Maß für die erforderliche Wärmeisolation. Er wird auf Basis des körpereigenen Energieumsatzes in Watt pro m2 Körperoberfläche und der Umgebungstemperatur ermittelt. Dieser Wärmeisolationswert wird in der Einheit clo (clothing) oder in der SI-Einheit m2·K·W–1 angegeben, wobei 1 clo dem Wert 0,155 m2·K·W–1 entspricht. Der nach Normvorgabe zu ermittelnde IREQneutral muss aber kritisch hinterfragt werden (vgl. Groos et al. 2013). Während mehreren in einem gewerblichen Warenverteilzentrum durchgeführten Feldstudien zur Objektivierung von Belastung und Beanspruchung beim Kommissionieren unter Umgebungstemperaturen von –24 °C wurden Energieumsätze ermittelt, die für alle Altersgruppen und Geschlechter in einem Bereich zwischen 220 und 230 W/m2 lagen (vgl. Penzkofer 2013; Groos et al. 2013). Entsprechend der DIN EN ISO 11079 (2008) wäre ein IREQneutral zwischen 1,4 und 1,8 clo erforderlich, was jedoch deutlich unter den Wärmeisolationswerten der gewöhnlich im Kommissioniergewerbe getragenen Kälteschutzkleidung liegt.

Bei unter realitätsnahen Bedingungen durchgeführten Feldstudien mit insgesamt 60 Arbeitspersonen (Apn) – aufgeteilt in jeweils 15-köpfige Gruppen, klassifiziert nach Alter (20–35 Jahre und 40–65 Jahre) und Geschlecht – wurden Kälteschutzan-züge mit einem Wärmeisolationswert von 2,85–2,98 clo getragen. Außerdem schütz-ten Thermostiefel mit Stahlkappe, Fleece-Handschuhe und eine Wollmütze die übrigen kälteexponierten Bereiche des Körpers. Die Temperaturveränderungen des Körpers wurden über den Arbeitstag hinweg diskontinuierlich mit einem Infrarotohrthermome-ter (Körperkerntemperatur) und kontinuierlich mit Thermosensoren (Hautoberflächentemperaturen) erfasst. Die Apn führten an Realsituationen angepasste Kommissioniertätigkeiten in drei randomisierten Arbeitsphasen von 80, 100 und 120 Minuten Länge durch, die jeweils durch eine 20-minütige Aufwärmpause im +21 °C warmen Sozialbereich unterbrochen wurden. Zudem fand über den Versuchstag hinweg alle 15 Minu-ten eine Befragung der Apn zu ihren sub-jektiven Kälteempfindungen an unterschied-lichen Stellen des Körpers statt.

Die Absenkung der Körperkern- temperatur führt zur Gefäßverengung

Die mittels Ohrthermometer gemessene Kör-perkerntemperatur nahm während der Kälte-expositionen kontinuierlich um bis zu 1,1 K (jüngere Frauen) bzw. 2,1 K (ältere Männer) im Vergleich zum morgendlichen Ausgangswert ab. In Einzelfällen kam es allerdings zu deutlich stärkeren Abnahmen um bis zu 3 K bei den Männern und 2,5 K bei den Frauen, was Körperkerntemperaturen von weniger als 35 °C zur Folge hatte. Nach Brandström (1996) können schon Werte zwischen 35 °C und 32 °C die Gesundheit gefährden, unter 32 °C müssen diese sogar als lebensgefährlich eingestuft werden. Die 20-minütigen Aufwärmpausen reichten oftmals nicht aus, um das Temperaturdefizit vollkommen aus-zugleichen, wodurch viele Apn „vorbelastet“ in die nächste Arbeitsphase gingen. Ins-gesamt kann auf eine negative Wärmebilanz geschlossen werden, da es aufgrund der Ab-senkung der Körperkerntemperatur zu einer Gefäßverengung (Vasokonstriktion) kommt. Dieser Mechanismus vermeidet zwar einen weiteren Temperaturabfall im Körperkern, hat aber wiederum eine Minderdurchblutung der Extremitäten zur Folge.

Der stark verringerte Wärmeeintrag insbesondere in die Finger und Zehen konnte auch durch die an der Hautoberfläche applizierten Thermosensoren nachgewiesen werden. So fiel z. B. die mittlere Fingerspitzentemperatur in allen Probandenklassen am Ende der 120-minütigen Arbeitsphase auf Werte um ca. +15 °C ab. In Einzelfällen kam es jedoch auch zu deutlich stärkeren Abnahmen auf Temperaturen um ca. +5 °C, was allerdings mit starken Schmerzen einherging und vereinzelt sogar ein Verlassen des Tiefkühllagers bedingte. Die Zehentemperatur fiel zwar weniger stark ab, auf mittlere Werte zwischen +18 °C und +23 °C, allerdings erfolgte die Wiedererwärmung in den Pausen im Vergleich zu den Fingern deutlich langsamer. Weitere an der Schulter und im Bereich der Niere applizierte Sensoren zeichneten hingegen kaum Veränderungen der Hautoberflächentemperatur wäh-rend des Versuchstages auf, wenngleich die von der Sensoreinheit registrierte Tempera-tur unter der Kleidung bereits nach einer 20-minütigen Kälteexposition von +23 °C auf +17 °C abfiel. Dagegen kühlte das Gesicht, das der Kälte dauerhaft ungeschützt ausgesetzt war, merklich ab. So fiel die Temperatur an der Nasenspitze unmittelbar nach Betreten des Tiefkühllagers auf eine Temperatur um ca. +15 °C ab.

Bei der subjektiven Befragung während der Kommissioniertätigkeit in Kälte gaben die Versuchspersonen ebenfalls vorwiegend an, die Gesichtspartien sowie Finger und Zehen als „kalt“ zu empfinden. Nach der Aufwärmpause galt diese Einschätzung oftnoch für die Zehen, die sich nicht komplett wiedererwärmen konnten. Das lag häufig an der mangelnden Bewegung der Zehen während der Pause. Die Wiedererwärmung wurde noch zusätzlich behindert, wenn die Schuhe während der Aufwärmpause nicht ausgezogen wurden.

Der während der Untersuchungen getragene Kälteschutzanzug, bestehend aus Thermojacke und -hose kann auf Basis der gewonnenen Ergebnisse durchaus als gelun-gen angesehen werden. Allerdings ist ausdrücklich zu konstatieren, dass die in DIN EN ISO 11079 (2008) vorgeschlagenen 1,4 bis 1,8 clo Wärmeisolationswert auf keinen Fall ausreichend sind, da die getragene Klei-dung bereits eine Wärmeisolation von 2,85 bis 2,98 clo aufwies und es trotzdem zu keiner Überwärmung kam, sondern zu einem konstanten und akzeptablen Temperaturniveau an der Hautoberfläche. Inzwischen gibt es Kleidung mit Wärmeisolationswer-ten von beispielsweise 3,68 clo bei zusätzlicher Gewichtsreduzierung von ca. 650 g je Anzug und vergleichbarer Konfektionsgröße. Sind die modernen Anzüge somit weiterhin unproblematisch und müssen nur in Detailfragen noch weiter verbessert wer-den, so bleibt festzustellen, dass trotz aller Entwicklungsarbeit seitens der Textilindustrie vor allem Handschuhe und Kälteschutzstiefel immer noch als nicht ausreichend zu bewerten sind.  Abbildung 1 zeigt diese kritischen Bereiche, von denen besonders viel Körperwärme an die kalte Umgebung abgegeben werden. Hierzu gehören neben den zuvor genannten Kälteschutzstiefeln und Handschuhen auch noch die Kopfbe-deckung und die Nähte des Kälteschutzanzuges.

Handschuhe und Kälteschutzstiefel sind immer noch als nicht ausreichend zu bewerten

Im Sinne des präventiven Gesundheitsschutzes der Kommissionierer in Kälte ist festzuhalten, dass bei dem Auswählen von Kälteschutzkleidung auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter eingegangen und auf gute Qualität bei den Produkten geachtet werden muss. Arbeits- und Sozialmediziner, die für die Betreuung von Kältearbeitsplätzen verantwortlich sind, sollten die Schwächen der DIN EN ISO 11079 (2008) kennen, da ihnen die besondere Aufgabe zukommt, über die Auswirkungen von Kältearbeit aufzuklären. Der Schwerpunkt sollte dabei auf die Konsequenzen des Tragens mangelhafter Kälteschutzkleidung gelegt werden, die nicht ausreichend vor den kurz- und langfristigen Gefahren schützt. Kurzfristig können bereits leichte Abweichungen von der thermischen Behaglichkeit eine Senkung der mentalen (Palinkas 2001) und physischen (Oksa 1998) Leistungsfähigkeit zu Folge haben. Langfristig können tägliche Kälte-expositionen muskel-skelettbezogene Beschwerden (Oksa et al. 2002; Sormunen et al 2006), Erkrankungen der Atemwege (Mäkinen 2007), kardiovaskuläre Erkrankun-gen, periphere Durchblutungsstörungen und Hauterkrankungen (Hassi et al. 2005) hervorrufen bzw. begünstigen. Neben guter Kleidung sollte auch sichergestellt werden, dass beheizte Pausenräume und Anlagen zur Trocknung der Kälteschutzkleidung zur Verfügung stehen. Dringender Bedarf besteht zudem an einem an die Temperaturen angepassten Arbeitszeit- und Pausenzeitregime, das eine gesundheitsgefährdende Unterkühlung während der Kälteexposition ausschließt. Bisher gibt es allerdings weder für die maximale Kälteexpositionszeit noch für die minimale Dauer der Aufwärmpause eine verbindliche Regelung. 

Literatur

Brandström H: Accidental hypotermi. In: Kyla på gott och ont. Solna: Arbetslivsinstitutet, 1996, S. 76–81.

DIN Deutsches Institut für Normung e. V.: DIN EN 342: 2004. Schutzkleidung – Kleidungssysteme und Kleidungsstücke zum Schutz gegen Kälte. Berlin: Beuth, 2004.

DIN Deutsches Institut für Normung e. V.: DIN EN ISO 11079:2008. Ergonomie der thermischen Umgebung – Bestimmung und Interpretation der Kältebelastung bei Verwendung der erforderlichen Isolation der Bekleidung (IREQ) und lokalen Kühl-wirkungen. Berlin: Beuth Verlag, 2008.

Hassi J, Rytkönen M, Kotaniemi J, Rintamäki H: Impacts of cold climate on human heat balance, performance and health in circumpolar areas. Int J Circumpolar Health 2005; 64: 459–467.

Groos S, Penzkofer M, Kluth K: Kälteschutzkleidung: Theoretische Anforderungen und realer Nutzen im sehr kalten Bereich. Technische Sicherheit 2013; 3: 47–51.

Mäkinen TM: Human cold exposure, adaptation, and performance in high latitude environments. Am J Hum Biol 2007; 19: 155–164.

Oksa J: Cooling and neuromuscular perfomance in man. Ph.D. Thesis, University of Jyväksylä, 1998.

Oksa J, Ducharme MB, Rintamäki H: Combined effect of repetitive work and cold on muscle function and fatigue. J Appl Physiol 2002; 92: 354–361.

Palinkas LA: Mental and cognitive performance in the cold. Int J Circumpolar Health 2001; 60: 430–439.

Penzkofer M: Feldstudien zur Objektivierung von Belastung und Beanspruchung jüngerer und älterer Arbeitspersonen bei berufsbedingten Kälteexpositionen. Stuttgart: ergonomia, 2013.

Sormunen E, Oksa J, Pienimäki S, Rissanen S, Rinta-mäki H: Muscular and cold strain of female workers in meatpacking work. Int J Ind Ergon 2006; 36: 713–720.

Wang SX, Li Y, Tokura H, Hu JY, Kwok YL, Au RW: Effect of moisture management on functional per-formance of cold protective clothing. Textile Res J 2007; 12: 968–980.

    Für die Autoren

    Dipl.-Wirt.-Ing. Sandra Groos

    Arbeitswissenschaft/Ergonomie

    Universität Siegen

    Paul-Bonatz-Straße 9–11

    57068 Siegen

    groos@ergonomie.uni-siegen.de

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