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Rezension

Der zu besprechende Band, zu dem der Generalsekretär des Weltärztebundes ein Geleitwort verfasst hat, enthält 23 Beiträge, allesamt flüssig geschrieben. Das chronologische Spektrum reicht von ca. 3000 v. Chr. („Mord vor 5000 Jahren?“, S. 193 ff.) bis zur ersten Herztransplantation im Jahre 1967 („Der Pionier am Kap – Christiaan Barnard“, S. 185 ff.).

Alle Beiträge sind auch für medizinisch oder historisch weniger Versierte mit Gewinn zu lesen, wenngleich der medizinische Laie seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse zusammen nehmen oder eifrig googeln muss, um die Bedeutung von EEG, MRT, PET und SPECT für die Insomnie-Diagnostik („Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen, Schlafforschung und die Radiologie“, S. 51 ff.) oder für die archäologischen Diagnosen an Mumien zu erfassen („Mord vor 5000 Jahren“, S. 193 ff.). Als Nebenbemerkung, vielleicht auch als Appetizer, sei festgehalten, dass die Leser Glenn Goulds Goldberg-Variationen nach Lektüre des einschlägigen Beitrags in dem Band anders hören werden als zuvor.

Selbstverständlich kann in einer kurzen Rezension nicht auf alle 23 Beiträge eingegangen werden. Die meisten Beiträge sind biografisch orientiert, oder genauer: Nach dem Muster des Story Telling als didaktischer Methode gehen die Autorinnen und Autoren von Biografien aus, seien es die von Patienten (Cicero, Heinrich Hertz, Rembrandt, Schiller) oder die von Ärzten (Avicenna, August Bier), und betrachten im historischen Längsschnitt den Blick von außen auf die Medizin („Der ‚gute Arzt‘ – ein Blick in die Geschichte“, S. 55 ff.), beleuchten Strukturen wie männerdominierte Welten („Hermine Heusler-Edenhuizen“, S. 163 ff.) oder den nationalsozialistischen Verfolgungsterror („Rahel Liebeschütz-Plaut“, S. 175 ff.). Es ist mithin nicht die „Buchbinder-Synthese“, die den zu besprechenden Band zusammenhält, der im Übrigen nicht nur deutsche Medizingeschichte präsentiert.

Der in der Geschichtsforschung jahrzehntelang geführte Streit darüber, ob nun Personen oder Strukturen im Mittelpunkt von Untersuchungen stehen sollten, erweist sich als vorgestrig und altfränkisch. Zwischen Struktur und Person ist nicht zu trennen. Sie bedingen einander, und in der Heuristik erhellen sie einander.

Dies wird etwa in Doris Fischer-Radizis Beitrag über Deutschlands erste Frauenärztin Hermine Heusler-Edenhuizen deutlich (S. 163 ff.), einer Persönlichkeit, die Strukturen schuf. Die friesische Landarzttochter, wissbegierig, willensstark, sah sich im Medizinstudium sowie als Gynäkologin den Vorurteilen und Gehässigkeiten einer Männerwelt ausgesetzt, die den Frauen die Tätigkeit als „Schwester“ zuwies, ihnen aber die ärztliche Tätigkeit untersagen wollte. Heusler-Edenhuizen biss sich förmlich durch, wurde äußerst erfolgreich im Kampf gegen das Kindbettfieber, kämpfte gegen die Lebensmittelindustrie und deren laxe Haltung hinsichtlich der Reinheit von Milch, freundete sich mit der bedeutenden Frauenrechtlerin Helene Lange an und war Mitbegründerin des Bundes deutscher Ärztinnen. Derartige Aktivitäten riefen den Widerstand der Herren Kollegen auf den Plan. Allenfalls sollte den Frauen der Status höher ausgebildeter Heilsgehilfinnen zugestanden werden. Es war allzu fadenscheinig, wenn ausgerechnet die Gynäkologen keine Frauenärztinnen dulden wollten. In welchem medizinischen Bereich konnte die Konkurrenz der Frauen bedrohlicher sein? Die Autorin des Beitrags geht ausführlich auf die Männerbewegung gegen das Frauenstudium ein. Waren die elterlichen Vorbehalte einmal überwunden, sahen sich die Frauen als Studentinnen dem Sexismus und der Häme der Studenten sowie der Dozenten ausgesetzt. Auf dem akademischen „Feld“, wie wir den Wissenschaftsparcours mit Pierre Bourdieu bezeichnen können, beim „jeu des chapeaux“, sollten sie keinen Platz bekommen.

Werfen wir noch einen Blick auf den Beitrag von Antje Haag: „Über die Hypochondrie als Modekrankheit des 18. Jahrhunderts“ (S. 69 ff.). Die Autorin, Medizinerin und Kulturwissenschaftlerin, stieß bei ihren Studien auf die Wochenschrift „Der Hypochondrist“ (1762). Ähnlich wie die Nervosität, die Modekrankheit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, war Hypochondrie Modekrankheit des 18. Jahrhunderts. „Ängste haben ihre Moden“, schreibt Ernst Jünger.

Die Verfasserin präsentiert bekannte Bewertungen eher unbekannter Autoren (Johann Ulrich von Bilguer; Johann August Unzer) sowie eher unbekannte Bewertungen bekannter Autoren (Karl Philipp Moritz, Jean-Jacques Rousseau). Aber natürlich begnügt sich Antje Haag nicht mit einem Strauß von Trouvaillen. Sie fragt nach dem Zusammenhang der Hypochondrie als häufig konstruierter und irrationaler Selbst- und Fremddeutung mit der Aufklärung als Epoche der Rationalität. Wie passen Hypochondrie und das Kantische „sapere aude“ als Signum der Aufklärung zusammen? Wir erhalten zwei Antworten: Erstens führte das neue Wissen über den Körper zu einer Tendenz oft exzessiver Selbstbeobachtung. Zweitens resultierte der zunehmende Verlust religiöser Gewissheit in metaphysischer Entwurzelung. Denken wir an Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“, erschienen 1797. Die Seelen fragen: „Christus! Ist kein Gott?“. Christi Antwort: „Es ist keiner.“

Hypochondrie war eine Angstkrankheit. Den Zumutungen der Aufklärung wollte der Hypochonder durch Flucht in die Krankheit entgehen. Aber als Krankheitsstrudel und rettendes Ufer zugleich erwies sich Hypochondrie als paradoxes Phänomen. Dem Beitrag von Antje Haag können wir entnehmen, dass kulturhistorisch reflektierte Medizin- und Philosophiegeschichte nicht einander fremd gegenüberstehen.

Dass in den drei Bänden „Geschichte der Medizin“ etwas fehle, wäre die billigste Art von Kritik. Wir könnten an Ernst Ludwig Heim denken, den ersten modernen Hausarzt, an die romantische Medizin, an die Zahnmedizin, auch daran, dass kein Berufsstand so viele Memoiren verfasst hat wie die Ärzteschaft. Vielleicht könnten diese Hinweise die Herausgeber der „Geschichte der Medizin“ dazu bewegen, ihre Buchreihe fortzusetzen.

Bernd-A. Rusinek, Jülich, Düsseldorf

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