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Die DGAUM informiert | Stellungnahme der DGAUM zur Sicherung der betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland

Der demografische Wandel in unserer Gesellschaft und die zukünftige arbeitsmedizinische Versorgung

Autoren für den Vorstand der DGAUM: Hans Drexler, Stephan Letzel, Thomas Nesseler, Andreas Tautz

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) hat im Rahmen seiner letzten Sitzung am 18./19. August 2016 in München das Thema „Sicherung der betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland“ diskutiert und nachfolgende Stellungnahme einstimmig verabschiedet:

In der öffentlichen Diskussion um die Sicherstellung der gesetzlich formulierten Anforderungen (ASiG; DGUV 2) im Bereich der Arbeitssicherheit und des Arbeitsschutzes sowie der betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung ist immer wieder das Argument zu hören, es gebe zu wenig Fachärzte für Arbeitsmedizin bzw. Ärzte mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“, um die arbeitsmedizinische Betreuung aller Betriebe zu gewährleisten. Vor dem Hintergrund der im Jahr 2014 publizierten Studie der Bundesanstalt für Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin (BAuA) „Arbeitsmedizinischer Betreuungsbedarf in Deutschland“ wird ins Feld geführt, dass die schon aktuell vorhandene Betreuungslücke sich ohne Gegenmaßnahmen in den kommenden Jahren weiter verschärfen würde. Die BAuA-Studie, der Daten der Jahre bis 2011 zugrunde liegen, kommt sowohl unter Verwendung zahlreicher Annahmen zu den Randbedingungen in Unternehmen und Betrieben als auch auf Grundlage eines dort gegebenen „mittleren Bedarfs-Szenarios“ zu der Schlussfolgerung, dass in Deutschland jährlich etwa 600 junge Ärzte die arbeitsmedizinische Fachkunde erlangen müssten, um so künftig den arbeitsmedizinischen Betreuungsbedarf sicherzustellen. Gemessen an der Zahl der Facharztanerkennungen bzw. der erlangten Zusatzbezeichnungen „Betriebsmedizin“ im Jahr 2011 würde dies eine Verdreifachung der jährlichen Absolventen-Zahlen bedeuten.

Da man dies als keine realistische Entwicklung ansieht, wird in dem genannten Bericht der BAuA eine Beschränkung der arbeitsmedizinischen und betriebsärztlichen Aktivitäten auf Aufgaben gefordert, für die eine Approbation unbedingt erforderlich sei. Möglich wäre dies durch eine entsprechende Änderung in § 3 des ASiG sowie eine Änderung der DGUV Vorschrift 2. Im Mittelpunkt solcher Überlegungen stehen dann u.a. Forderungen nach einer Delegation ärztlicher Tätigkeiten oder gar zur Teilsubstitution von Arbeitsmedizinern und Betriebsärzten durch Verteilung der bisher diesen zugeordneten Einsatzzeiten sowie die Kompensation fehlender Betriebsärzte durch Fachkräfte für Arbeitssicherheit (FaSi).

Der Vorstand der DGAUM lehnt als wissenschaftlich-medizinische Fachvertretung alle vereinfachenden Forderungen nach einer Delegation oder gar Substitution arbeitsmedizinischer und betriebsärztlicher Leistungen ab und stellt vor dem Hintergrund des demografischen Wandels in unserer Gesellschaft, der mit einer zunehmend älter werdenden Erwerbsbevölkerung verbunden ist, die eine intensivere arbeitsmedizinische und betriebsärztliche Versorgung benötigt, nochmals klar:

  1. Die gesellschaftlichen Herausforderungen im Rahmen der Bekämpfung sowohl von so genannten Zivilisationserkrankungen als auch von arbeitsbedingten Erkrankungen erfordern insgesamt eine Diskussion der Neuordnung ärztlicher und wie pflegerischer Ressourcen in unserer Gesellschaft. In diesem Rahmen ist auch die Rolle der Arbeitsmediziner und der Betriebsärzte und des Präventionssettings Betrieb zu diskutieren.
  2. Wirklich belastbare Zahlen im Hinblick auf die Zahl der Arbeitsmediziner und der Betriebsärzte bzw. der Fachkräfte für Arbeitssicherheit liegen bislang nicht vor. Die o. g. Studie der BAuA beschreibt die Ist-Situation keineswegs präzise, da dort allein schon die arbeitsmedizinischen Weiterbildungs-Assistenten, die dem System der arbeitsmedizinischen Betreuung ja zweifelsohne zur Verfügung stehen, nicht berücksichtigt wurden, sondern nur die Fachärzte für Arbeitsmedizin sowie die Ärzte mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“. Die Zahlen bilden zudem nur den Stand bis 2011 ab und vernachlässigen die Situation eines durch ausgebuchte Weiterbildungskurse in den Akademien vorhandenen hohen ärztlichen Interesses an der Arbeitsmedizin. Darüber hinaus ist in einer aussagefähigen und verlässlichen Statistik ebenfalls zu reflektieren, in welchem Umfang eine betriebsärztliche Betreuung in den unterschiedlichen Branchenmustern und Betriebstypen notwendig ist.
  3. Weiter ist festzustellen, dass es seit Einführung des Arbeitssicherheitsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland noch niemals eine den Vorgaben entsprechende betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuungsdichte mit so vielen Arbeitsmedizinern und Betriebsärzten wie heute gegeben hat. Entsprechend der Statistik der Bundesärztekammer verfügten zum 31. 12. 2015 insgesamt 12 363 Ärztinnen und Ärzte über die arbeitsmedizinische Fachkunde; 5824 davon als Fachärzte für Arbeitsmedizin, 5834 mit der Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin [1]. Vollzugsdefizite, etwa bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilungen, zeugen eher von einem grundsätzlichen Problem bei der Umsetzung von Rechtsvorgaben im Arbeitsschutz.
  4. Das Problem einer Unterversorgung durch Arbeitsmediziner und Betriebsärzte reduziert sich v. a. auf den Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen und Betriebe (KMU). Große Unternehmen verfügen in der Regel über ein hervorragend ausgebautes Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM). Im Abschlussbericht zur Dachevaluation der „Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie“ vom Juni 2014 heißt es: „Der Anteil der Betriebe, die die gesetzlich geforderte betriebsärztliche Betreuung aufweisen kann, beträgt laut Betriebsbefragung insgesamt (also unter Einbeziehung aller Größenklassen) 40 %. Dieser Wert ist stark von der Situation in der kleinsten Betriebsgrößenklasse (1 bis 9 Mitarbeiter) geprägt, wo sich nur drei von zehn Betrieben eigenen Angaben zufolge von einem Betriebsarzt unterstützen lassen, während die betriebsärztliche Betreuung bei Betrieben ab 10 Beschäftigten mehrheitlich gegeben ist. Auch bei der betriebsärztlichen Betreuungssituation fallen große Branchenunterschiede auf, die sich nicht allein aus der unterschiedlichen Größenklassenstruktur der Branchen erklären lassen und im Wesentlichen dem bei der sicherheitstechnischen Betreuung festgestellten Branchenmuster folgen: Während in der (von mittleren und größeren Betrieben geprägten) öffentlichen Verwaltung 85 % der Betriebe betriebsärztlich betreut werden, lassen sich in der Branchengruppe IX (Dienstleistungen überwiegend für Unternehmen) nur 24 % der Betriebe von einem Betriebsarzt unterstützen, in Branchengruppe VII (Einzelhandel und Gastgewerbe) liegt der Anteil mit 27 % ähnlich niedrig.“
  5. In der öffentlichen Diskussion wird nur zu oft verschwiegen, dass ebenfalls ein Defizit in der sicherheitstechnischen Betreuung gegeben ist. Im o. g. Abschlussbericht der GDA-Dachevaluation heißt es: „Eine Betrachtung von Betrieben aller Größenklassen zeigt, dass insgesamt nur 59 % der Betriebe eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende sicherheitstechnische Betreuung aufweisen. Die Defizite bezüglich der sicherheitstechnischen Expertise im Betrieb konzentrieren sich jedoch stark auf Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigten: Während bei Kleinbetrieben mit 1 bis 9 Mitarbeitern nur knapp die Hälfte (48 %) eine geeignete Expertise vorweisen können, sind es bei Betrieben mit 10 bis 49 Beschäftigten immerhin bereits 81 %, bei Betrieben mit 50 bis 249 Beschäftigten 95 % und bei Großbetrieben mit 250 oder mehr Beschäftigten praktisch alle Betriebe (99 %). In der Branchenbetrachtung (über alle Größenklassen hinweg) fällt auf, dass besonders Betriebe der Branchengruppen IX (Dienstleistungen überwiegend für Unternehmen) und VII (Einzelhandel und Gastgewerbe) besonders selten eine geeignete Expertise vorweisen können, Betriebe der öffentlichen Verwaltung dagegen besonders häufig. Die Branchenunterschiede erklären sich teilweise allerdings auch aus der durchschnittlichen Größe der Betriebe – Betriebe der öffentlichen Verwaltung sind im Schnitt deutlich größer als etwa Betriebe in Einzelhandel und Gastgewerbe.“
  6. In der öffentlichen Debatte werden die Chancen des Unternehmermodells kaum berücksichtigt. Dieses richtet sich an alle Betriebe mit mindestens einem und bis zu 50 Beschäftigten. KMU machen etwa 40,5 % der Beschäftigten in Deutschland aus, was bei fast 43,5 Millionen (Mai 2016). Erwerbstätigen rd. 17,62 Millionen Beschäftigten entspricht. Gerade das Unternehmermodell eröffnet, eingedenk des Präventionsgesetzes, neue Möglichkeiten. Im Rahmen von regionalen Netzwerken können nun Krankenkassen, Unfallversicherungsträger sowie die für Arbeitsschutz zuständigen Landesbehörden mit örtlichen Unternehmensorganisationen, arbeitsmedizinischen Lehrstühlen und regionalen bzw. lokalen Medien zusammenarbeiten. Gerade die arbeitsmedizinischen Institute könnten als Kompetenzzentren fungieren und die Netzwerkbeteiligten – insbesondere die Unternehmen – direkt beraten und so sehr effektiv zur Kompensation des vorgeblichen Betriebsärztemangels beitragen. Ein Beispiel eines ähnlich strukturierten Netzwerks gibt es bereits in Mecklenburg-Vorpommern. Auf diesem Wege können die Anforderungen aus Arbeitsschutz- und Präventionsgesetz umgesetzt und neue Synergien erzeugt werden.
  7. Die Unternehmen sind an einer guten Beratung interessiert, nicht aber an einem Betriebsarzt „light“. Gemeinsam mit anderen Akteuren ist die DGAUM zu der Diskussion bereit, wie der Zugang zur Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin ohne Qualitätseinbußen erleichtert oder gar berufsbegleitend erworben werden und wie das o. g. Unternehmermodell mit arbeitsmedizinischer Expertise nachhaltig und zukunftsfähig unterstützt werden kann.
  8. Unternehmen und Betriebe brauchen unbestreitbar eine qualifizierte und qualitätsgerechte arbeitsmedizinische und sicherheitstechnische Betreuung, entsprechend des in den Betrieben vorliegenden Gefährdungsprofils der Beschäftigten: Sicherlich ist die Mitwirkung von Arbeitspsychologen und Arbeitswissenschaftlern, aber auch Naturwissenschaftlern, Sportwissenschaftlern, Sozialwissenschaftlern und Epidemiologen in der Prävention sehr wertvoll und aus arbeitsmedizinischer Sicht zu begrüßen. In Großunternehmen hat dies sich durchaus bewährt. Für die vor allem im Bereich KMU diskutierten Betreuungslücken ergeben sich aber keinerlei Entlastungsmöglichkeiten, hier sind die Arbeitsmediziner und Betriebsärzte weiterhin unmittelbar vor Ort gefordert. Allerdings sollte über unterstützende Maßnahmen, etwa im Bereich der Telemedizin o. Ä. nachgedacht werden. Die DGAUM ist für solche Diskurse offen und gesprächsbereit.
  9. Die öffentliche Debatte um die betriebsärztlichen Ressourcen ist erfreulich, wenn es den Beteiligten um eine Stärkung der arbeitsmedizinischen Betreuung bzw. Versorgung der arbeitenden Bevölkerung geht. Nicht vergessen werden darf allerdings, dass die Duldung einer langjährigen Niedrigpreisorientierung und Outsourcing-Tendenz im Arbeitsschutz erheblich zur mangelnden Attraktivität einer betriebsärztlichen Tätigkeit beigetragen hat. Die neuen Herausforderungen im Verständnis des Arbeitsplatzes als des in Deutschland größten Präventionssettings und das damit verbundene Potenzial zur Prävention der mit den wesentlichen arbeitsbedingten Erkrankungen deckungsgleichen Zivilisationserkrankungen erfordern eine Neubetrachtung aller Ressourcen und der handelnden Akteure in der deutschen Gesundheits- und Arbeitspolitik.
  10. Die Arbeitsmedizin muss gestärkt werden, Attraktivität alleine reicht dazu nicht aus. Am besten gelingt dies, wenn die relevanten Akteure nach den Maßgaben des Arbeitssicherheitsgesetzes (ASiG), also Arbeitsmediziner und Betriebsärzte sowie Fachkräfte für Arbeitssicherheit (FaSi), in ihren jeweiligen Arbeits- und Tätigkeitsbereichen gestärkt werden. Dies setzt voraus, dass beide in ihren jeweiligen Verantwortungssphären autonom in der Sache, aber kollegial an der Schnittstelle zwischen Arbeitsmedizin und Arbeitssicherheit entscheiden und sich verhalten können. Vor diesem Hintergrund sind allen Überlegungen und Bestrebungen, arbeitsmedizinische Kenntnisse und Tätigkeiten in welcher Form auch immer zu substituieren, eine deutliche Absage zu erteilen. Es ist zu prüfen, ob und ggf. wie Ressourcen zwischen ärztlichen und nichtärztlichen Tätigkeiten anders verteilt werden können. Die im Falle einer Delegation ärztlicher Tätigkeiten auf andere Berufsgruppen notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen müssen von den jeweiligen wissenschaftlichen Fachgesellschaften und praxisorientierten Berufsverbänden auf unerlässliche Qualitätsstandards geprüft werden.
  11. Die arbeitsmedizinische Forschung trägt entscheidend zur Qualitätssicherung der Präventionsaktivitäten in den Unternehmen und Betrieben bei. Gerade vor dem Hintergrund des neuen Präventionsgesetzes müssen Arbeitsmediziner und Betriebsärzte aktiv auf die gesetzlichen Krankenkassen zugehen und breitflächig über das Tätigkeitsspektrum und die Aktivitäten der Arbeitsmedizin bzw. Betriebsärzte informieren, um auch von diesen Akteuren in ihrer Arbeit unterstützt zu werden. Die DGAUM ist mit der Barmer GEK eine Kooperation eingegangen, die dem Ziel dient, das Präventionsgesetz in die Praxis umzusetzen und neue Präventionspfade bzw. Versorgungswege zur Förderung der Gesundheit am Arbeitsplatz zu entwickeln. Dies beinhaltet ebenfalls Evaluierung und Qualitätssicherung von Maßnahmen im Feld von BGF bzw. BGM.
  12. Die DGAUM hat das demografische Problem eines drohenden Nachwuchsmangels im Feld ärztlicher Tätigkeiten im Allgemeinen und der Arbeitsmedizin im Besonderen nicht nur erkannt, sondern seit mehreren Jahren auch ein Konzept zur Verbesserung der Nachwuchssituation vorgelegt (vgl. www.dgaum.de/nachwuchs/). Als Initiatorin und Akteurin im „Aktionsbündnis zur Sicherung des arbeitsmedizinischen Nachwuchses e.V.“ arbeitet die Fachgesellschaft aktiv an der Förderung der arbeitsmedizinischen Ausbildung von Medizinstudierenden, der Fort- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten.
  13. Die Anforderungen aus dem Arbeitssicherheitsgesetz und dem Arbeitsschutzgesetz können auch künftig erfüllt werden. Eine Änderung dieser Gesetze ist daher nicht erforderlich, allerdings sollten die Aufsichtsbehörden stärker auf deren Umsetzung drängen.

Quelle:

[1] Bundesärztekammer (BÄK) (2016): Statistik „Arbeitsmedizinische Fachkunde“, Stand 31.12.2015.

    Kontakt für den Vorstand DGAUM:

    Prof. Dr. med. Hans Drexler

    Dr. phil. Thomas Nesseler

    Geschäftsstelle DGAUM

    Schwanthaler Straße 73 B

    80336 München

    tnesseler@dgaum.de

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