Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Wiedereingliederung psychisch kranker Menschen

Wiedereingliederung psychisch kranker Menschen

Einleitung: Menschen mit psychischen Erkrankungen stellen in der betriebsärztlichen Praxis eine Herausforderung dar, weil Arbeits- und Betriebsärzte einerseits selten spezifisch psychiatrisch/psychologisch geschult sind, zum anderen diese Fälle jedoch in der Praxis häufiger und daher bedeutsamer werden.

Material und Methode: Wir analysierten anhand der Fälle in einem Großunternehmen der Automobilindustrie, ob sich bei den Wiedereingliederungen zwischen Menschen mit psychischen Erkrankungen und solchen ohne wesentliche Unterschiede zeigen, die besondere Wiedereingliederungsbemühungen rechtfertigen würden. Dazu wurden alle ersten Wiedereingliederungsfälle eines deutschen Großbetriebes der Autoindustrie zwischen 2004 und September 2015 ausgewertet.

Ergebnis: Es zeigen sich erwartungsgemäß signifikante Unterschiede zwischen psychischen Erkrankungen und anderen Erkrankungsformen, die einerseits die Anwendbarkeit des vorhandenen Systems nahelegen, andererseits weitere Verbesserungsmöglichkeiten in den Fokus rücken.

Schlussfolgerungen: Der Vergleich der gewonnenen Daten mit bundesweiten Referenzdaten bezüglich der Erkrankungsdauern spricht für die Wirksamkeit eines konsequenten BGM-Ansatzes. Die Mitarbeiter, die im Wiedereingliederungsprozess im Betrieb ankommen, können oft erfolgreich wieder eingegliedert werden. Dennoch zeigt sich die besondere Herausforderung für alle Akteure in der betrieblichen Wiedereingliederung.

Schlüsselwörter: psychische Erkrankungen – Automobilindustrie – Wiedereingliederung – betriebliches Gesundheitsmanagement

Reintegration of people with mental illness

Introduction: People with mental illness constitute a challenge in occupational medical practice: on the one hand, occupational physicians and company medical officers rarely have specific training in psychiatry/psychology and, on the other hand, these cases are actually becoming more common and therefore more significant.

Materials and methods: We looked at cases in a major automotive company to ascertain whether there are any substantial differences between the reintegration of people with mental illness and those without and, if so, whether such differences would justify special efforts or processes in reintegration. Therefore, all the initial cases of reintegration at a major German OEM between 2004 and September 2015 were analysed.

Findings: As expected, there were significant differences between cases with mental illnesses and others. This suggests on the one hand that the present system is applicable and, on the other hand, offers opportunities for further development.

Conclusions: A comparison between the collected data and national reference data on the duration of illness speaks in favour of the efficacy of a consistent approach to occupational health management. Employees undergoing a process of reintegration at work can often be reintegrated successfully. Nevertheless, there are particular challenges for everyone involved in the process of occupational reintegration.

Keywords: mental illnesses – automotive industry – reintegration – occupational health management

S. Weiler

(eingegangen am 25.04.2016, angenommen am 04.05.2016)

Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2016; 51: –447

Einleitung

Die Bedeutung psychischer Erkrankungen nimmt seit etlichen Jahren bundesweit zu (BKK Bundesverband 2014). Die Gruppe der Erkrankten stellt zwar nur einen relativ geringen Anteil der Fallzahlen, weist jedoch eine sehr lange Erkrankungsdauer pro Fall von mehr als 30 Tagen pro Erkrankungsfall auf (DAK n. d.). Auch deshalb stellen sich im Betrieblichen Gesundheits- (BGM) und Eingliederungsmanagement (BEM) häufig Fragen zum Umgang mit psychischen Erkrankungen im Betrieb. Dies betrifft alle Aspekte von der Prävention bis zur Rehabilitation. In den Betrieben werden Häufigkeiten und kausale Zusammenhänge psychischer Erkrankungen von verschiedenen Akteuren unterschiedlich bewertet (Hamann et al. 2013), was auf Unsicherheiten und divergierende Ratschläge beim Umgang mit psychischen Erkrankungen hinweist. So empfehlen nach Hamann et al. (2013) die Mehrzahl betrieblicher Führungskräfte und Betriebsräte einen sehr zurückhaltenden Umgang mit der Offenlegung einer die Psyche betreffenden Diagnose. Gleichwohl sind Betriebe gehalten, ein betriebliches Eingliederungsmanagement ungeachtet der (in der Regel dort auch nicht bekannten) Diagnose durchzuführen.

Fragestellung

Am Beispiel eines Großunternehmens der Automobilindustrie wird analysiert, ob bei psychisch Erkrankten spezielle Prozesse in der Wiedereingliederung erforderlich sein könnten oder sich diese Gruppe von Erkrankten von anderen unterscheidet. Hieraus sollen Empfehlungen für den konkreten Umgang mit psychisch Erkrankten abgeleitet werden.

Material und Methode

Wiedereingliederungen nach längerer Erkrankungsdauer werden bei Audi schon seit 2000 systematisch betriebsärztlich begleitet, eine Auswertung von Daten ist aus technischen Gründen (EDV-Umstellungen, Digitalisierung) jedoch erst ab 2004 möglich. Hierbei wird jeder Mitarbeiter vor und in einer stufenweisen Wiedereingliederung betriebsärztlich begleitet. Dazu meldet sich der Mitarbeiter vor Beginn und regelmäßig während des Arbeitsversuches beim zuständigen Werksarzt. Dieser kennt die spezifischen Arbeitsplatzanforderungen und Veränderungsmöglichkeiten, in der Regel auch die beteiligten Akteure (Führungskräfte, Personalwesen, Betriebsräte und oft auch einzelne Kollegen), hat Zugriff auf ergonomische Arbeitsplatzbewertungen und kann dadurch arbeitsplatzbezogen angemessen beraten. Die Beratung ist natürlich freiwillig; Mitarbeiter, die nach einer langen Arbeitsunfähigkeit sofort vollzeitig wieder beginnen zu arbeiten, müssten sich nicht zwangsläufig beim Werksarzt melden. Jedoch belegen unsere internen Daten eine hohe Inanspruchnahme und ein hohes Vertrauen in die betriebsärztliche Beratung und Verschwiegenheit. Bei den folgenden Arztgesprächen während des Arbeitsversuchs wird jedes Mal der aktuelle Stand reflektiert, über Über- und Unterforderungen gesprochen, das weitere Vorgehen individuell und weitgehend unabhängig vom vorgefertigten Wiedereingliederungsplan festgelegt. Bei Bedarf können nach Erteilung einer Schweigepflichtsentbindung Rücksprachen mit behandelnden Ärzten erfolgen. Die dadurch entstehenden Verläufe sind sehr individuell an die Genesung angepasst.

Bewertete Parameter sind dabei die Dauer der Arbeitsunfähigkeit (in Monaten) vor der Wiedereingliederung, die Dauer von Wiedereingliederungsmaßnahmen (in Wochen) und die Erfolgsrate dabei in Abhängigkeit von der Existenz psychiatrisch relevanter Diagnosen bei den Betroffenen. Die Diagnosekodierung erfolgte mit einem reduzierten ICD-Schlüssel, der bei psychischen Erkrankungen zwischen Substanzmissbrauch, einzelnen depressiven Episoden, rezidivierender oder anhaltender Depression, Neurose, affektiven Störungen und Psychosen sowie sonstigen psychischen Diagnosen unterscheidet.

In die folgende Auswertung sind alle Erst-Wiedereingliederungsfälle zwischen 01. 01. 2004 und 25. 09. 2015 eingeschlossen (n = 4714). Im Fall einer erfolglosen Wiedereingliederung können weitere Versuche erfolgen, diese bleiben hier außer Betracht. In unternehmensinternen Prozessen wird die Vorstellung beim Betriebsarzt obligat einem Arbeitsversuch vorgeschaltet.

Ergebnisse

Wiedereingliederungsbedarf für psychisch Erkrankte: Von 4714 Wiedereingliederungsfällen betrafen 12,5 % Mitarbeiter mit einer oder mehreren psychischen Diagnosen. In der gesamten Belegschaft sind zugleich nur für 3,91 % chronische oder rezidivierende psychische Erkrankungen dokumentiert.

Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit vor einer Wiedereingliederung und auch die Dauer der Wiedereingliederung selbst dauern bei psychisch kranken Arbeitnehmern signifikant länger als bei anderweitig Erkrankten (p(Anova)=0,02 bzw. p(Anova)Abb. 1).

Die Erfolgsquote der Arbeitsversuche unterscheidet sich stark in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Diagnose, ist jedoch bei psychischen Erkrankungen überwiegend signifikant schlechter als bei deren Fehlen ( Abb. 2)

Diskussion

Auch psychisch Erkrankte lassen sich zu einem hohen Prozentsatz im bestehenden und gut etablierten System mit einem standardisierten Eingliederungsmanagement in den Betrieb wiedereingliedern. Die von vielen Betriebsärzten „gefühlten“ schwierigen Bedingungen und Misserfolgserlebnisse lassen sich in der ersten Wiedereingliederung bestätigen. Es bestehen signifikante Unterschiede bei zeitlich beschreibenden Parametern der Wiedereingliederung (Dauer Arbeitsunfähigkeit vor Arbeitsversuch, Dauer des Arbeitsversuches) und im Erfolg. Ob hierfür erkrankungsimmanente Faktoren ursächlich sind oder besondere Qualifikationsmaßnahmen für die verschiedenen Akteure das Ergebnis verbessern können, beispielsweise frühere Wiedereingliederungsversuche oder psychiatrisch noch besser geschulte Betriebsärzte, ist anhand der vorliegenden Daten nicht zu klären. Aus unserer Sicht ist die Vermeidung einer diskriminierenden, weil besonderen, Behandlung psychisch Erkrankter für die Akzeptanz der Wiedereingliederungsbemühungen ausschlaggebend. Damit wird auch Datenschutzaspekten Rechnung getragen und Verbesserungen sollten in einer gezielten Ansprache spezifischer Problemlagen, nicht jedoch in einem besonderen Verfahrenssetting bei der Wiedereingliederung beruhen.

Ob die Überhäufigkeit psychischer Erkrankungen im Wiedereingliederungsgeschehen darauf zurückzuführen ist, dass sich die Erkrankten eher beim Betriebsarzt offenbaren oder die Länge der Arbeitsunfähigkeit zu dieser Verzerrung führt, können die hier vorgestellten Daten nicht erklären. Es ist jedoch zu verzeichnen, dass psychische Erkrankungen in unserer betriebsärztlichen Dokumentation deutlich seltener angegeben werden als nach Krankenkassenangaben zu erwarten.

Auch Lammerts et al. (2016) beschreiben in einer Untersuchung zu biopsychosozialen Einflüssen zu einer erfolgreichen Wiedereingliederung keine besonderen Wiedereingliederungsverfahren, jedoch eine signifikante Bedeutung von Arbeitsplatzsicherheit und Alter der Betroffenen. Diese Faktoren werden bei den hier vorgestellten Daten wie auch zeitliche Entwicklungen noch weiter untersucht.

Fazit

Der Vergleich der gewonnenen Daten mit bundesweiten Referenzdaten bezüglich der Erkrankungsdauern spricht für die Wirksamkeit eines konsequenten BGM-Ansatzes. Die Mitarbeiter, die im Wiedereingliederungsprozess im Betrieb ankommen, können oftmals erfolgreich wieder eingegliedert werden. Dennoch zeigt sich in den Daten die besondere Herausforderung für alle Akteure in der betrieblichen Wiedereingliederung.

Nach unserer Erfahrung (die wir jedoch nicht statistisch untermauern können), ist die Kommunikatorenrolle von Betriebsärzten bei der Wiedereingliederung psychisch Erkrankter besonders wertvoll. Durch ihre Einbeziehung kann die Anschlussbetreuung psychisch Erkrankter kontinuierlich gestaltet werden. Hilfreich im Verfahren ist es, wenn Therapeuten die Benennung pauschaler Tätigkeitseinschränkungen ohne Kenntnis der Arbeitsverhältnisse vermeiden. Derzeit werden die Daten hinsichtlich der Erfolge bei wiederholten Eingliederungsbemühungen psychisch kranker Menschen in den Betrieb analysiert, erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Erfahrung des Scheiterns in einer ersten Wiedereingliederung bei späteren Bemühungen nicht hinderlich ist. Die Bemühungen sollten daher fortgesetzt werden.

Die Ergebnisse sprechen in der Gesamtschau für eine regelhafte Berücksichtigung von Betriebsärzten in Wiedereingliederungsprozessen. Deshalb sollte der § 84 SGB IX dahingehend geändert werden, dass Betriebsärzte nicht wie bislang „falls erforderlich“ ohne Definition dieser Erforderlichkeit, sondern wo immer möglich in das betriebliche Eingliederungsmanagement einbezogen werden.

Literatur

BKK Bundesverband: BKK Gesundheitsreport 2014. Berlin: BKK Bundesverband, 2014.

DAK (n. d.): Durchschnittliche Falldauer von Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen nach Alter und Geschlecht im Jahr 2012 (in AU-Tagen). In: Statista – Das Statistik-Portal. Zugriff am 24. April 2016, von de.statista.com/statistik/daten/studie/254252/umfrage/falldauer-von-au-aufgrund-psychischer-erkrankungen-nach-alter-und-geschlecht/

Hamann J, Mendel R, Kissling W: Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz aus Sicht von Unternehmensmitarbeitern. Psychiat Praxis 2013; 40: 447–447.

Lammerts L, Schaafsma F, Eikelenboom M, Vermeulen SJ, van Mechelen W, Anema JR, Penninx BW: Longitudinal associations between biopsychosocial factors and sustainable return to work of sick-listed workers with a depressive or anxiety disorder. J Occup Rehabil 2016 ; 70: 9.

Interessenkonflikt: Es besteht kein Interessenkonflikt.

Verfasser

Priv.-Doz. Dr. med. Stephan W. Weiler

Gesundheitswesen Audi AG

Ettinger Straße

85045 Ingolstadt

stephan.weiler@audi.de

Fußnoten

Gesundheitswesen Audi AG, Ingolstadt