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Psychische Gesundheit und Arbeit

Das Thema psychische Gesundheit und Arbeit hat im letzten Jahrzehnt große Aufmerksamkeit in der Politik, den Gewerk-schaften, bei den einschlägigen Fachverbän-den, den Krankenkassen und insbesondere auch in den Medien erhalten. Die Leitthemen sind „Stress am Arbeitsplatz“ und „Psychi-sche Gesundheit und Arbeit“. Dabei wird vor allem die Zunahme der Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen psychischer und psychosomatischer Erkrankungen seit der Jahrtausendwende sowie der hohe Anteil an Erwerbsminderungsrenten als ein Beleg für die gestiegenen psychosozialen Anforderungen in der Arbeitswelt angesehen; wobei sicherlich ein relevanter Anteil dieser Berentungen bei Langzeitarbeitslosen erfolgt.

Die Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft ist durch ein mehr an psychosozialen Anforderungen gekennzeichnet. Diese umfassen die wachsende Tendenz zur Verdichtung und Intensivierung der Arbeits-aufgabe, die erhöhte Beanspruchung der kognitiven Leistungsfähigkeit (z. B. Multitasking) sowie kommunikativ-interaktionelle und emotionale Herausforderungen. Die Arbeitsprozesse sind in besonderer Weise durch „weiche“ psychosoziale Belastungen charakterisiert, die besonders die Variablen Führungsstil, Kommunikations- und Organisationskultur, Transparenz von Entscheidungsprozessen, aber auch organisationale Werte umfassen. Darüber hinaus wird die zunehmende Vermischung von Arbeit und Privatheit beklagt. Aber auch prekäre Arbeitsbedingungen (Teilzeit- und Niedriglohnarbeit) wie die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit haben sicherlich oftmals auch relevante Folgen für die Zufriedenheit und das psychosoziale Befinden der betroffenen Arbeitnehmer.

Um diesen Belastungen etwas entgegen-zusetzen, sind Ansätze eines systemati-schen Gesundheitsmanagements entwickelt worden, die neben der Gefährdungsbeurtei-lung psychischer Risiken insbesondere auch organisationale Konzepte zur verhaltens- und verhältnisbezogenen Prävention sowie der medizinischen und betrieblichen Rehabilitation umfassen.

Sowohl der kritische und differenzierte Blick auf die Bedingungen der modernen Arbeitswelt, den damit verbundenen Risi-ken für die körperliche und psychische Gesundheit sowie die Entwicklung von präven-tiv wirkenden Interventionsstrategien sind zu begrüßen. Jedoch birgt die Diskussion um die psychischen Risiken der modernen Arbeitswelt, die allzu oft in einen Zusammenhang mit der starken Zunahme der Arbeitsunfähigkeitszeiten in den letzten zehn Jahren gebracht werden, auch die Gefahr, dass Arbeit und die Arbeitsbedingungen dann generalisierend zu „schlecht“ geredet werden. Die Teilhabe am Arbeitsprozess stellt grundsätzlich erst einmal einen positiven Faktor dar, der bedeutsame psychosoziale Funktionen wie z. B. Existenzsicherung, soziale Integration, Anerkennung, individuelle Entwicklungsräume, das Gefühl der Selbstwirksamkeit etc. umfasst. Auch wenn vielleicht argumentiert wird, dass die heutige Arbeitswelt nur noch we-nig von diesen positiven Facetten aufweisen würde, findet sich doch der empirische Sachverhalt, dass Erwerbslose gegenüber Erwerbstätigen ein nahezu doppelt so hohes Risiko aufweisen, eine psychische Erkrankung zu entwickeln.

Eine besonderes Problem bei der Gefährdungsanalyse ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass psychische Belastungen sich nicht einfach im Sinne des Reiz-Reaktions-Modells als „Außenreize“, die per se eine negative Beanspruchung auf Seiten des Individuums darstellen würden, verstehen lassen, sondern in der Regel als Ausdruck einer Wechselwirkung zwischen äußeren Reizen und inneren Verarbeitungsmechanismen an-zusehen sind. Psychische Anforderungen werden vielfach erst durch die individuellen Verarbeitungsprozesse als Belastung bewer-tet. Dabei ist zu beachten, dass eben auch Persönlichkeitsmerkmale (Motivation, Be-lastbarkeit, Ehrgeiz) sowie die aktuelle private Lebenssituation und etwaige damit ver-bundene Konflikte oder Spannungen einen Einfluss darauf haben, ob und in welchem Ausmaß Arbeitsanforderungen als belastend erlebt werden.

Diese Perspektive wird bei der Debatte, ob Arbeitsbedingungen ein hohes Risiko für die Herausbildung von stressevozierten Befindlichkeitsstörungen oder psychischen und psychosomatischen Erkrankungen darstellen, zunehmend unterschlagen. Vernach-lässigt wird im Weiteren, dass eine Vielzahl an wissenschaftlichen Befunden aus den Fächern der Psychologie, Psychotherapie oder auch der Psychiatrie/Psychosomatischen Me-dizin nahelegen, dass insbesondere frühe Beziehungs- und Sozialisationserfahrungen in ihrer Interaktion mit genetischen Faktoren, einen zentralen Einfluss auf die psychische Entwicklung eines Individuums aufweisen. Dies bedeutet, dass wir früh psychosoziale Kompetenzen oder auch Einschränkungen herausbilden, die uns auf unserem weiteren Lebensweg begleiten und letztlich neben den sozialen Rahmenbedingungen unsere Ziele aber auch unsere Möglichkeiten mit Heraus-forderungen umzugehen beeinflussen. Die so relativ früh erworbenen Persönlichkeits-charakteristika modifizieren sich in einem ge-wissen Ausmaß unter dem Einfluss von Erfah-rungen im späteren Leben, gestalten jedoch in relevanter Weise unsere spätere Biografie.

In der Regel ist die Entwicklung psychischer oder psychosomatischer Erkrankungen als eine Folge multikonditionaler Prozesse zu verstehen, so dass die These, dass es allein oder vorwiegend die Arbeitsbedingungen seien, die eine entsprechende Erkrankung bedingen, nur eingeschränkt überzeugend ist. Soweit wir eine relativ freie Wahl haben, unsere beruflichen Motive und Ziele zu formulieren und umzusetzen, sind wir auch in einer gewissen Weise für die Passung zwischen diesen und den damit verbundenen beruflichen Anforderungen verantwortlich.

Kritisch zu hinterfragen ist auch, inwieweit die oftmals berichtete Zunahme von psychischen Erkrankungen überhaupt der Realität entspricht. Epidemiologische Daten, die auf der Basis der modernen psychiatrischen Diagnosensysteme (DSM-IV) erhoben worden sind, sprechen nicht dafür. Das die Anzahl an Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen psychischer Erkrankungen in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zugenommen hat, ist vor allem ein Ausdruck davon, dass unsere Gesellschaft sich für die Beachtung und Wahrnehmung von psychischen Prozessen stärker geöffnet hat. Wir beach-ten unser psychisches Wohlbefinden und Abweichungen davon stärker als die Generationen vor uns; dabei kommt dem Einfluss der öffentlichen Bewertungen, insbesondere auch seitens der Medien, dass unsere Arbeitswelt sowie unsere Gesellschaft ein zunehmendes Risiko und für unsere psychische Gesundheit „gefährlich“ sei, eine besondere, durchaus dysfunktionale Bedeu-tung zu. In der Folge suchen verunsicherte Individuen, die Befindlichkeitsstörungen und „Stress“ erleben, den Arzt auf und spre-chen mit diesem über ihre psychischen Probleme, die oftmals als im Zusammenhang mit ihrem Berufsleben oder ihren sozialen Problemen stehend verstanden werden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung haben Ärzte eine erhöhte Sensibilität dafür heraus-gebildet, etwaige psychische oder psychosomatische Probleme auf Seiten ihrer Patienten zu erkennen und stellen entsprechend häufiger psychiatrische Diagnosen, schreiben diese krank und leiten psychopharmakologische, psychiatrische oder psy-chotherapeutische Behandlungen ein. Die Tendenz der psychiatrischen Diagnostik, den Krankheitsbegriff in Bezug auf psychi-sches Erleben und Verhalten immer mehr auszuweiten und die Schwelle, ab wann wir von einer psychischen Erkrankung immer weiter abzusenken, fördert entsprechendes Verhalten bei den Ärzten.

Bei der kritischen und sicherlich berechtigten Diskussion der psychosozialen Risiken der modernen Arbeitswelt sollte jedoch beachtet werden, dass wir differenziert und überlegt mit dieser Thematik umgehen sollten und diese nicht aus ideologischen Gründen überzeichnen, wie es tendenziell geschieht. Letztlich leiden nicht nur die Individuen darunter, wenn relativ „normales“ Erleben und Verhalten pathologisiert wird und sie im ungünstigen Fall über komplexe Prozesse, an denen unterschiedliche gesellschaftliche Institutionen beteiligt sind, zunehmend in Passivität und Resignation ge-raten, sondern auch die Gesellschaft. Dies über den Verlust an selbstbestimmten und -wirksamen Individuen und über die Kosten, die sich aus den medizinischen Behand-lungen sowie aus den direkten und indirek-ten finanziellen Anforderungen seitens der Betriebe und Organisationen und u. U. etwai-gen Frühberentungen – beachten wir die demografische Entwicklung – ergeben.

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Wolfgang Schneider, Rostock

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