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Leistungsbeurteilung im Fachgebiet der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie

Arbeit kann aber auch eine Kehrseite haben. Eher seltener ist Arbeit in westeuropäischen Ländern alleinige Ursache von psychischer bzw. psychosomatischer Erkrankung, obwohl dies natürlich auch vorkommt. Viel häufiger führt nach klinischer Erfahrung eine entsprechende individuelle und multifaktoriell bedingte Erkrankung dazu, dass eine Arbeitstätigkeit nicht mehr adäquat ausgeübt werden kann. Allerdings ist der Beitrag von ungünstigen Arbeitsbedingungen, gemessen als Arbeitsstress auf dem Boden etablierter Arbeitsstressmodelle, signifikant,beispielsweise für Herzinfarkt (Kivimäki et al. 2006) oder für Depression (Rugulies et al. 2017). Entsprechende klinische und wissenschaftliche Erfahrungen sprechen dafür, dass ca. 20 % der Arbeitstätigen auch potenziell krankmachendem bzw. zur Erkrankung beitragendem Stress ausgesetzt sind. Und tatsächlich sind immer wieder Krankheitsverläufe zu beobachten, bei denen gerade körperlich schwere oder sonst belastende/beanspruchende Arbeit zu einer im höheren Lebensalter deutlich werdenden körperlichen und/oder seelischen Beeinträchtigung und konsekutiven Leistungseinschränkung beigetragen hat.

Vor dem klinischen Hintergrund zumindest der in der Psychosomatischen Medizin gesehenen Patienten sind dabei in einer bedeutsamen Untergruppe von Betroffenen schon wichtige frühkindliche Belastungen vorhanden, wie emotionale Vernachlässigung, frühe Trennungserlebnisse/Bindungstraumatisierungen, manchmal sogar physische und/oder sexuelle Misshandlung. Im Rahmen einer privaten und/oder beruflichen Belastungssituation im Erwachsenenalter (z.B. Trennungen, Konflikte am Arbeitsplatz, drohender Arbeitsplatzverlust) kommt es bei dieser relevanten Untergruppe im Sinne eines „second hit“ oder „third hit“ dann zu einer akuten Dekompensation im Sinne einer psychischen Krise oder einer schleichenden, zunehmenden Erkrankung wie Erschöpfung, „Burnout“, zunehmende körperliche Beschwerden bis hin zu morphologisch fundierten Erkrankungen (z.B. Bandscheibenvorfall, Herzinfarkt usw.). Für Patienten mit einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-11 konnten spezifische Einschränkungen der Teilhabe am Erwerbsleben (Brenner et al. 2019) nachgewiesen werden.

In jedem Fall steigen die dokumentierten Zahlen der AU-Tage aufgrund von psychischen Erkrankungen und ebenso die der vorzeitigen Berentungen aufgrund von psychischen und psychosomatischen Ursachen. Dies ist unabhängig davon, dass bislang die Prävalenz psychischer Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung eher gleichbleibend ist.

Da heutige Generationen gleichzeitig in einem Zeitalter der „technischen Revolution“ leben (s. „Weitere Infos“: M. Vestager, Vortrag re:publika 5/2019) und sich die Arbeitsbedingungen dynamisch und teilweise grundlegend verändern, ist in Zukunft ein eher noch (etwas?) größerer Beitrag der gesellschaftlichen und Arbeitsbedingungen zum Entstehen so genannter stressassoziierter Erkrankungen zu vermuten. Und dies insbesondere bei älteren Arbeitnehmern, die beispielsweise mit der technischen Entwicklung, aber auch mit den sich verändernden Arbeitsbedingungen insgesamt nicht Schritt halten können und „abgehängt“ werden. Die Digitalisierung schafft dabei neue ungewohnte Arbeitsformen (z.B. mehr ergebnis-, weniger zeitorientiert; weniger Festanstellung, mehr projektbezogene Arbeit), und so entsteht bei den entsprechend Beschäftigten auch genuin mehr „Stress“, d.h. Unsicherheit und Angst, Zeitdruck etc. Solche Entwicklungen können dann „der Tropfen“ sein, die ein schon angefülltes Glas „zum Überlaufen“ bringen.

Diese Entwicklungen bilden den Hintergrund dafür, dass nach vorliegenden Daten eine steigende Zahl von Beschäftigten einen Rentenantrag stellt. In der Summe steigt die Zahl der Antragsteller bezüglich eines Rentenwunsches. Aufgrund der Veränderungen in der Arbeitswelt weg von körperlich anstrengender Tätigkeit und hin zu wachsenden Anforderungen an die Team- und Kommunikationsfähigkeit stehen dabei psychische und psychosomatische Erkrankungen zunehmend im Vordergrund. In den letzten fünf Jahren schieden mehr als 330.000 Menschen wegen psychischer und psychosomatischer Erkrankungen vorzeitig aus dem Erwerbsleben aus – das sind mehr Personen als wegen der drei nächsthäufigen Diagnosegruppen (Muskel-Skelett-System, onkologische Erkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen) zusammengenommen. Dies birgt individuelle, aber natürlich auch gesellschaftliche Themen, die dringend diskutiert und beantwortet werden müssen.

Grundlagen

Im Folgenden sollen einige Grundsätze und persönliche klinische Erfahrungen in der Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Rentenantragstellern aus psychosomatischer Sicht dargestellt werden. Detaillierte Informationen finden sich unter anderem bei den Leitlinien zur Begutachtung der Berufsunfähigkeit (s. „Weitere Infos“: Schneider et al. Leitlinien, in Überarbeitung) oder im aktuellen Beitrag von Köllner et al. (2019).

Vorab Folgendes: Eine Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit findet in unterschiedlichen Rechtsgebieten statt, in denen jeweils eigene Regeln bzw. Bemessungsmaßstäbe gelten. Es sind hier gerade die Unterschiede zwischen Sozial-, Zivil- und Verwaltungsrecht zu beachten. Es gilt in der Regel: Beurteilt wird die berufliche Leistungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Begutachtung. Häufig müssen jedoch auch (dann möglichst gut) begründete Annahmen für zurückliegende Zeiträume getroffen werden.

Gerade auf dem Gebiet psychischer und psychosomatischer Beschwerden ist zentral, dass nicht aufgrund von ICD-10-Diagnosen (ursprünglich Klassifikationen), sondern aufgrund einer individuellen und sorgfältigen Beurteilung von individuell bestehenden/verbliebenen Funktionen sowie Leistungseinschränkungen und noch vorhandenen Ressourcen gutachterlich Stellung genommen wird.

Hierfür grundlegend ist die 2001 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedete „Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ („International Classification of Functioning, Disability and Health“ = ICF). Dieses Krankheitsfolgemodell erleichtert das strukturierte Verständnis und die entsprechend detailliertere Beschreibung von Chronifizierungsprozessen und unterstützt bei der Identifikation von Bewältigungsressourcen. Das Klassifikationssystem ICD-10 kann die Folgen von Erkrankungen auf die so genannte funktionale Gesundheit nicht vergleichbar gut beschreiben. Es reicht also keinesfalls, Leistungseinschränkungen mit entsprechenden Diagnosen zu begründen.

In den allermeisten Fällen einer gutachterlichen Leistungsbeurteilung ist die Frage der Ursachen einer psychischen Erkrankung für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit nicht wesentlich, im Unterschied zur Begutachtung zum Beispiel von Traumata (wie nach dem Opferentschädigungsgesetz) oder nach Unfallereignissen und der Frage eventuell andauernder Unfallfolgen (worauf in diesem Beitrag nicht näher eingegangen wird, weitere Infos z.B. bei Gruner u. Köllner 2016)).

In der Regel sind die Anforderungen an den Gutachter, der die verbliebene Leistungsfähigkeit (positives Leistungsbild) bzw. die verlorengegangenen Fähigkeiten und Funktionen (negatives Leistungsbild) beschreiben soll, wie folgt strukturiert:

  1. Klärung und Feststellung der medizinischen Diagnosen.
  2. Nach ausführlicher Untersuchung Beschreiben des verbleibenden Leistungsvermögens, also des positiven und (komplementär) des negativen Leistungsbildes in qualitativer Hinsicht. Was ist noch möglich bzw. bei zumutbarer Willensanstrengung noch erreichbar/leistbar, was geht nicht mehr (negatives Leistungsbild)? Der Gutachter muss hier darlegen und begründen, dass und wieso er von seiner Einschätzung überzeugt ist bzw. keinen vernünftigen Zweifel hat. Wenn Zweifel bestehen bzw. der Gutachter in seinem Urteil nicht sicher ist, muss er/sie dies beschreiben und so gut es geht begründen. Dies ist in nicht wenigen Fällen dann eine zwar auch etwas unbefriedigende, letztlich aber die ehrlichste und passendste Lösung. Es gilt in der Regel das Prinzip des „Vollbeweises“, das heißt, der Gutachter muss selbst in seiner Einschätzung sicher sein, damit dies den Antragsteller in seinem Anliegen unterstützt. Der Antragsteller muss also durch das Gutachten nachweisen, dass sein Anliegen berechtigt ist.
  3. Die Leistungseinschränkungen sollen auch quantitativ beurteilt werden.
  4. Abschließend sollen meist noch Aussagen zur individuellen Prognose getroffen werden. Insbesondere sollte der Gutachter auch Stellung nehmen, ob alle therapeutischen Optionen ausgeschöpft sind oder noch wichtige Optionen offenstehen. Immer wieder gibt es auch Rentenantragssteller, die einerseits angeben, aufgrund ihrer psychischen bzw. psychosomatischen Erkrankung bestimmte Tätigkeiten oder auch eine regelmäßige allgemeine Arbeitstätigkeit nicht mehr ausüben zu können, gleichzeitig aber keine ausreichende entsprechende Behandlung absolviert haben. Eine vorauszusetzende „zumutbare Willensanstrengung“ bedeutet nach Ansicht der Autoren, dass der Antragsteller dafür Sorge trägt, eine den klinischen Erfahrungen bzw. entsprechenden Leitlinien gemäße ausreichende Behandlung zu realisieren, bevor der Antrag gestellt wird.

Worin besteht eine solche adäquate Behandlung? Dies ist natürlich im Einzelfall zu beurteilen, in der Regel ist hier aber zumindest eine ambulante Psychotherapie und (wenn erfolglos) auch mindestens ein stationärer und/oder tagesklinischer Aufenthalt zu erwarten, je nach Krankheitsbild und individueller Indikation in einer Akut-Klinik für Psychosomatische Medizin bzw. in einer entsprechenden Rehabilitationsklinik. Gegebenenfalls – je nach Krankheitsbild (z.B. psychotische Erkrankungen, schwere Depressionen, bipolare Erkrankungen etc.) – kommt natürlich auch eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Frage. Bei den so genannten „common metal disorders“ (also Ängste, Depressionen/„Burnout“, funktionelle körperliche Störungen etc.) spricht sehr viel für einen speziell psychosomatisch-psychotherapeutischen Aufenthalt, da hier Psychotherapie im gesamten Behandler-Team erfolgt. Ein psychotherapeutisch erfahrenes Team kann auch oft wertvolle Eindrücke im Entlassbrief berichten, die dem Gutachter später in seiner Entscheidung weiterhelfen.

Ein ambulanter gutachterlicher Kontakt, sei er auch noch so intensiv und gründlich und gegebenenfalls auch mehrfach, kann nicht die Erkenntnisse aus einem multimodalen psychosomatisch-psychotherapeutischen Behandlungsverfahren ersetzen. Diese sind allerdings auch nur „Hilfsmittel“ und liefern zusätzliche Anhaltspunkte für die entsprechende gutachterliche Beurteilung, da in diesen Behandlungen natürlich keine gutachterliche Fragestellung im Vordergrund stand und die entsprechenden Arztbriefe auch eine subjektive Sicht widerspiegeln.

Anders ist hier die Rolle der Rehabilitationsbehandlung. Ein zentraler Behandlungsauftrag in der psychosomatischen Rehabilitationsmedizin ist die Überwindung von psychosozialen Folgen bei chronischen Erkrankungen, die Verminderung von Funktionseinschränkungen sowie eine bessere Teilhabe am Arbeitsleben und im alltagspraktischen Handeln. Im Unterschied zur Krankenhausbehandlung steht am Ende der psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung auch immer eine sozialmedizinische Beurteilung (Köllner et al. 2018). Daher ist für eine Begutachtung der Leistungsfähigkeit, zumindest bei Fragestellungen im Zusammenhang mit der gesetzlichen Rentenversicherung, eine vorangegangene Rehabilitationsbehandlung inhaltlich sehr sinnvoll und auch für den späteren Gutachter eine wichtige Informationsquelle.

Es gibt sicher Fälle, in denen Gutachtenprobanden angeben, von den primär behandelnden Ärzten nicht auf die Möglichkeit einer tagesklinischen oder stationären psychosomatisch-psychotherapeutischen Behandlung hingewiesen worden zu sein. Dies muss dann im Einzelfall beurteilt werden. Falls dies glaubhaft erscheint, sollte das Fehlen einer solchen Behandlung nicht von vornherein als negativ für den Gutachtenprobanden ausgelegt werden. Meistens ist dies aber eine sinnvolle Empfehlung zur zukünftigen Behandlung; unter Umständen kann dann eine Berentung auf Zeit bzw. eine Neubeurteilung nach absolvierter Behandlung erwogen werden.

Gesetzliche Rentenversicherung

Bei der Begutachtung im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) geht es um das so genannte quantitative Leistungsvermögen. Beurteilt werden soll, ob ein Versicherter regelmäßig über 5 Tage/Woche über 6 Stunden täglich arbeiten kann oder abgestuft zwischen 3 bis unter 6 Stunden täglich. Kriterium für diese Beurteilung sind alle Tätigkeiten, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt grundsätzlich und hypothetisch überhaupt ausgeübt werden können. Es geht dabei nicht darum, welche Tätigkeit genau vor dem Erkrankungsfall zuletzt ausgeübt wurde, es geht für den medizinischen Gutachter auch nicht darum, ob solch ein hypothetisch angenommener Arbeitsplatz, der grundsätzlich noch ausgeübt werden könnte, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt überhaupt zur Verfügung steht.

Insbesondere die Beurteilung unabhängig vom zuletzt ausgeübten Beruf ist ein zentraler Unterschied zu Berufsunfähigkeits-Versicherungen und den damit verbundenen gutachterlichen Fragestellungen (s. unten).

Zusätzlich zu diesen zentralen gutachterlichen Einschätzungen kann (und sollte) der Gutachter hier Einschränkungen machen, welche speziellen Arbeitstätigkeiten nicht mehr ausgeübt werden können, also z.B. Schichtarbeit, Arbeit im Akkord, Arbeiten allgemein unter Zeitdruck, Überkopfarbeiten, schwere körperliche Tätigkeiten und andere. Diese speziellen Punkte sind meist im Gutachtenauftrag bzw. dem Beweisbeschluss näher ausgeführt.

Private Berufsunfähigkeitsversicherung

In der privaten Berufsunfähigkeits(-Zusatz)versicherung ist der jeweils mit dem Versicherten geschlossene Vertrag mit den jeweiligen Detailbestimmungen zentral für die Fragen an den Gutachter. Entscheidend anders als bei Beurteilungen im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung kommt es in der Regel darauf an, ob der zuletzt ausgeübte Beruf zu einem bestimmten Prozentsatz (s. individueller Vertrag), oft mindestens 50 %, noch ausgeübt werden kann oder eben nicht. Um dies zu beurteilen, wird die zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit in der Regel in so genannte Teiltätigkeiten aufgeteilt (also beispielsweise bei einem PKW-Verkäufer Teiltätigkeiten wie Kundenkontakt, Büroarbeit, Teambesprechungen., jeweils mit Angabe des ungefähren prozentualen Anteils). Diese Teiltätigkeiten werden dann jeweils einzeln, entsprechend den spezifischen Fragen des Gutachtenauftrags, im Hinblick auf den jeweiligen Grad der Berufsunfähigkeit bewertet. Am Ende des Bewertungsprozesses wird – je nach Gutachtenauftrag – ein Gesamtgrad der Berufsunfähigkeit bestimmt. Dies erfolgt meist durch die zuständigen Versicherungen. Berufsunfähigkeit und entsprechende Versicherungsleistungen werden nur unterhalb der vertraglich vereinbarten Schwelle gewährt. Die Frage, ob eine entsprechende Stelle auf dem Arbeitsmarkt verfügbar ist, ist für den medizinischen Gutachter auch hier nicht wichtig und zu beurteilen – die gutachterliche Bewertung ist davon losgelöst.

Üblicherweise kann Berufsunfähigkeit überhaupt erst angenommen werden, wenn ein Zeitraum von mindestens 6 Monaten seit dem Zeitpunkt der letzten Berufsausübung vergangen ist. Ebenso ist im Allgemeinen eine einmal gewährte Berufsunfähigkeit grundsätzlich unbefristet, kann jedoch nach einiger Zeit (z.B. nach 2–3 Jahren) wieder erneut gutachterlich überprüft werden.

Gerade diese letztgenannte Regelung ist ein gutes Instrument, weil es einerseits erlaubt, in nachvollziehbaren persönlichen Krisen mit Krankheitswert und einer zeitweisen Unfähigkeit den letzten Beruf auszuüben, überbrückende und existenzsichernde Leistungen zu gewähren. Andererseits liegt es im Wesen der Krise und der meisten Erkrankungen, dass auch wieder eine Befundbesserung, idealerweise eine Heilung, auftritt und ab einem gewissen Zeitpunkt ein Versicherter auch wieder berufstätig werden kann und nicht per se dauerhaft berufsunfähig bleibt.

Konkrete und spezifische Zahlenangaben sind uns diesbezüglich nicht bekannt, die Autoren vermuten aber aufgrund von persönlichen Erfahrungen und vereinzelten Rückmeldungen, dass der Anteil von Personen mit Wiedereinstieg in das Berufsleben nach einmal gewährter BU-Versicherung eher verhältnismäßig gering ist. Dies spricht allerdings in keiner Weise gegen die Empfehlung einer erneuten Begutachtung nach einem individuell passenden Zeitraum.

Zentral bei der Bewertung der Berufsunfähigkeit (s. „Weitere Infos“: Schneider et al., Leitlinien) ist, dass der Gutachter für das jeweils spezifisch erfasste Tätigkeitsprofil des zuletzt ausgeübten Berufs mit den jeweiligen Teiltätigkeiten die noch vorhandenen Funktionen und Aktivitäten des Versicherten, also sein positives Leistungsbild, mit den Fähigkeiten vergleicht, die für die jeweiligen Teiltätigkeiten benötigt werden. Darauf muss er detailliert begründen, wie hoch der jeweilige Grad der Berufsunfähigkeit geschätzt wird.

Weitere ausgewählte Erfahrungen

Die Rolle von Beschwerdevalidierungstests

Gemäß den Leitlinien sollten Beschwerdevalidierungstests im Rahmen testpsychologischer Zusatzdiagnostik bei entsprechender Indikation eingesetzt werden. Diese sollen Auskunft vor allem über eine individuelle Anstrengungsbereitschaft, letztlich über die Glaubwürdigkeit einer angegebenen Leistungsfähigkeit beim Gutachtenprobanden geben. Hierbei ist zu beachten, dass Beschwerdevalidierungstests vor allem zur Beurteilung kognitiver Leistungsfähigkeitseinschänkungen nach organischen Hirnschäden (insbesondere Schädel-Hirn-Traumata) entwickelt wurden, zur Beurteilung kognitiver Beeinträchtigungen im Rahmen einer Depression, PTBS oder Somatisierungsstörung aber nicht validiert sind.

Orientierende Beurteilungen sind im Rahmen der medizinischen Begutachtung je nach den Qualifikationen des Gutachters bei entsprechender Einarbeitung durch diesen selbst möglich. Letztlich ist das Gebiet der neuropsychologischen Untersuchung bei Verdacht auf hirnorganische Leistungsminderung eine Domäne entsprechend qualifizierter Neuropsychologen und sollte in Form eines Zusatzgutachtens durch diese erhoben werden.

Aber cave: Manche Gutachter vertreten die Auffassung, durch die Einführung von Beschwerdevalidierungstests stünde eine objektive Untersuchungsmethode, z.B. vergleichbar einem Elektroenzephalogramm (EEG), zur Verfügung, die zentral zur Wahrheitsfindung beiträgt. Dies ist nach eigener Erfahrung nicht der Fall. Es ist bei Beschwerdevalidierungstests zu bedenken, dass sie aus der Neuropsychologie kommen, also primär kognitive Fähigkeiten erfassen, aber noch unklar ist, ob das Grundprinzip dieser Tests auch (zumindest immer) bei primär emotionalen und „subjektiven“, eben psychischen Erkrankungen „greift“. Daher sollten diese Tests gerade in unsicheren und schwierig zu beurteilenden Fällen eingesetzt werden; sie sind dann ein weiterer Baustein für eine möglichst schlüssige Gesamtbewertung. Die klinische Beurteilung bleibt jedoch führend (Übersicht über Beschwerdevalidierungstests: z.B. Dohrenbusch et al. 2011).

Klinische Beurteilung

Bei der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit müssen alle vorhandenen Informationen, also Aktenunterlagen, Eindrücke aus den persönlichen Untersuchungen (persönliche Empfehlung: zwei persönliche Untersuchungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für einen fundierten Eindruck unabhängig von der „Tagesform“ von Probanden und Untersucher), der psychische Befund sowie Informationen aus Psychometrie (Fragebögen) und gegebenenfalls neuropsychologischen Leistungstests zusammen gesehen und dann bewertet werden. Weisen die Informationen kongruent in eine Richtung oder entstehen „Brüche“, Unklarheiten, Widersprüche? Diese sind dann eventuell zu beschreiben. Sind positives und negatives Leistungsbild weitgehend klar oder bestehen Zweifel? Ergibt sich eine überzeugende Gesamtbewertung durch den Gutachter?

Für die Bewertung hilfreich können auch individuelle Momente im gutachterlichen Gespräch sein, in denen der Gutachter durch eine passende, empathische Fragetechnik insbesondere emotionale Befindlichkeiten in bestimmten Situationen und Konflikten erfragt (wiederholtes, „nichtwissendes“ Fragen, um wirklich zu verstehen und „etwas mehr in die Tiefe zu gehen“) und auf die Reaktion des Gegenüber achtet. Kommt es eventuell zu spontanen vegetativen Reaktionen beim Gutachtenprobanden, wie plötzliche Hautrötung, Brüchigkeit der Stimme oder Ähnlichem, die authentisch persönliche Betroffenheit, gegebenenfalls sogar aktuell wirksame („unverarbeitete) Traumata signalisieren? Vermittelt sich beim Untersucher in solchen Momenten der Eindruck eines „echten“ Leidensdrucks, der möglicherweise nicht ausreichend verbal ausgedrückt oder in Worte gefasst werden kann, aber nonverbal spürbar ist, zum Beispiel durch ein Achten auf Gestik und Mimik? Beim entsprechend geschulten Untersucher kommt zusätzlich ein Beachten der eigenen vor- bzw. unbewussten Reaktion in der dyadischen Gesprächssituation, der so genannten Gegenübertragung, als zusätzliche Informationsquelle in Frage. Letzteres ist allerdings aufgrund der hohen Subjektivität keine zentrale Entscheidungshilfe, aber eine Möglichkeit, den gutachterlichen Eindruck weiter zu validieren oder im Gegenteil noch einmal alle Informationen sorgfältig zu überprüfen und zu gewichten.

Eine wiederholte Erfahrung ist, dass auf solche emotionalen Reaktionen nicht von jedem Gutachter geachtet wird, sondern stattdessen manchmal eine überhöhte „Pseudoobjektivität“ in der Untersuchungssituation hergestellt werden soll. Eine objektive Grundhaltung beim Gutachter ist natürlich selbstverständlich. Diese wichtige Grundhaltung beim Gutachter stößt aber an ihre Grenzen, wenn wichtige psychische Phänomene beim Patienten und in der Untersuchungsbeziehung nicht erfasst bzw. beachtet undgegebenenfalls zusätzlich gewertet werden. Psychische Erkrankungen sind im Kern subjektiver Natur. Der in der Erfassung und Bewertung solcher psychischen Phänomene nicht sicher geschulte Gutachter einer primär somatischen Fachrichtung sollte daher im Zweifelsfall eine je nach Krankheitsbild psychosomatische und/oder psychiatrische Begutachtung empfehlen.

Es ist selbstverständlich, dass ebenso sorgfältig auf bewusstseinsnahe Aggravation und möglicherweise Simulation geachtet werden muss. Hier sind neben dem persönlichen Eindruck immer wieder auch Informationen aus Vorbehandlungen (z.B. aus der Reha-Medizin) hilfreich. Bewusstseinsnahe Aggravation und Simulation müssen abgegrenzt werden von einer bewusstseinsfernen Beschwerdeverdeutlichungstendenz, die nicht einem genuinen Leiden widerspricht, aber nonverbal (manchmal kulturell unterlegt) die eigene Betroffenheit und das erhebliche persönliche subjektive Leiden dem Gegenüber unbewusst demonstrieren möchte und damit im Urteil des Gutachters eventuell „übertreibt“. Eine solche bewusstseinsferne Beschwerdeverdeutlichungstendenz spricht nicht gegen die Glaubwürdigkeit des Probanden.

Zusammenfassung

Beurteilungen der Leistungsfähigkeit sind hochrelevant, sowohl für die einzelnen Betroffenen als auch für die Gesellschaft. Sie erfolgen in unterschiedlichen Rechtskontexten mit zum Teil unterschiedlichen Regeln, die oft im individuellen Gutachtenauftrag spezifiziert sind. Eine entsprechende Bewertung sollte sorgfältig und in der Regel interdisziplinär bzw. auf interdisziplinären Befunden aus dem Vorfeld beruhend vorgenommen werden.

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Literatur

Brenner L, Bachem R, Köllner V: Capacity limitations and complex posttraumatic stress disorder. Berlin: DRV-Schriften Band 117, S. 450–451.

Dohrenbusch R, Henningsen R, Merten T: Die Beurteilung von Aggravation und Dissimulation in der Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen. Versicherungsmedizin 2011; 63: 81–85.

Gruner B, Köllner V: Psychotherapeutische Versorgung nach Arbeitsunfällen. Psychotherapie im Dialog 2016; 2: 44–47.

Kivimäki M, Virtanen M, Elovainio M, Kouvonen A, Väänänen A, Vahtera J: Work stress in the etiology of coronary heart disease – a meta-analysis. Scand J Work Environ Health 2006; 32: 431–442.

Köllner V, Hildenbrand G, Gündel H: Psychosomatische Rehabilitation – Unterschiede zur Krankenhausbehandlung und Differentialindikation. Ärztliche Psychotherapie 2018; 13: 1–80.

Köllner V, Hölzer M, Gündel H: Sozialmedizin und Begutachtung. In: Senf W, Broda M (Hrsg.): Praxis der Psychotherapie. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme, im Druck.

Rugulies R, Aust B, Madsen IE: Effort-reward imbalance at work and risk of depressive disorders. A systematic review and meta-analysis of prospective cohort studies. Scand J Work Environ Health 2017; 43: 294–306.

    Weitere Infos

    Benzenhöfer U: Kurt Goldsteins ganzheitliche Neurologie. Forschung Frankfurt, 2014

    www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/51322900/FoFra_2014_1_Hirnforschung_Kurt_Goldsteins_ganzheitliche_Neurologie.pdf

    Schneider W, Widder B et al. Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen (berufliche Leistungsfähigkeit und Kausalitätsfragen). Siehe hier auch weitere Literaturhinweise

    https://www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/051-029.html

    Vortrag von Margrethe Vestager auf der re:publica 2019

    https://19.re-publica.com/de/session/fairness-competitiveness-digitised-world

    Für die Autoren

    Prof. Dr. med. Harald Gündel

    Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

    Uniklinikum Ulm

    Albert-Einstein-Allee 23

    89081 Ulm

    harald.guendel@uniklinik-ulm.de

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