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Interview mit Prof. Pavel Dietz zum Tag der Rückengesundheit

Darüber hinaus können Berufstätige, die ihre Arbeit vorwiegend im Sitzen verrichten mit regelmäßiger Bewegung und Unterbrechungen des Sitzens einiges tun. Unser Experte Prof. Dr. phil. Dipl.-Sportwiss. Pavel Dietz, vom Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin an der Universitätsmedizin in Mainz erklärt, wie es zu Rückenschmerzen kommt und wie man diesen vorbeugen kann.

 

Herr Dietz, wer selbst keine Rückschmerzen hat, kennt jedoch mit Sicherheit jemanden, der betroffen ist. Wie viele Menschen in Deutschland leiden eigentlich unter einer Rückenerkrankung?

Vorab kann gesagt werden, dass zwischen unspezifischen und spezifischen Rückenschmerzen unterschieden werden sollte, letztere sind in der Regel die Folge einer Rückenerkrankung. Mit „Rückenerkrankung“ bzw. „Wirbelsäulenerkrankungen“ werden spezifische, diagnostizierbare Krankheitsbilder bezeichnet, wie z.B. ein Bandscheibenvorfall. Diese Erkrankungen gehen meist mit strukturellen Veränderungen einher und sind mit dem Symptom „Rückenschmerz“ assoziiert.

Dagegen sind bei unspezifischen Rückenschmerzen keine strukturellen Ursachen zu finden, sie sind in der Regel von begrenzter Dauer und kommen wesentlich häufiger vor als spezifische Rückenerkrankungen. In einer repräsentativen Befragung (DOI 10.25646/7854) in Deutschland aus dem Jahr 2020 gaben 61% der Teilnehmenden an, dass sie in den letzten 12 Monaten mindestens einmal Rückenschmerzen hatten. Dabei waren es 66% der Frauen und 56% der Männer.

Diese Zahlen stimmen alarmierend und daher sollten beim Auftreten von Rückenschmerzen sowohl die Verhältnisse als auch das eigene Verhalten am Arbeitsplatz und im Alltag hinterfragt und angepasst werden, um weiteren Folgen, wie dem Entstehen von Erkrankungen, vorzubeugen.

 

Wie kommt es bei sitzender Tätigkeit zu Rückenproblemen, was genau spielt sich im Körper ab? Welche Faktoren begünstigen Rückenerkrankungen?

Übergeordnet können sowohl ungünstige Verhältnisse, als auch das individuelle Verhalten zu Rückenbeschwerden führen. Mit Verhältnissen sind die äußeren Bedingungen gemeint, wie z.B. die Ausstattung des Arbeitsplatzes, Pausenregelungen oder die Interaktion mit Kolleg*innen. Das eigene Verhalten ist natürlich auch von großer Bedeutung. Zum einen, da gerade in Bezug auf sitzende Tätigkeit Personen meist selbst zu einem Großteil beeinflussen können, in welcher Körperhaltung sie arbeiten. Zum anderen, da das eigene Verhalten bestimmt, inwiefern die vorhandenen Verhältnisse genutzt, werden.

Drei wesentliche Faktoren bedingen das Entstehen von Rückenschmerzen sowie langfristigen Haltungsveränderungen und Rückenerkrankungen. Diese sind Bewegungsmangel, Fehlbeanspruchungen und einseitige, monotone Belastungen. Bei allen dreien spielen sowohl Verhältnisse als auch Verhalten eine Rolle.

Bewegungsmangel führt dazu, dass der Stütz- und Bewegungsapparat degeneriert, neben den ohnehin negativen Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit, wie z.B. das Herz-Kreislauf-System. Besonders die Stoßdämpfer der Wirbelsäule – die Bandscheiben – brauchen Bewegungsreize um ihre Funktion zu erhalten, da sie durch Bewegung mit Flüssigkeit und Nährstoffen versorgt werden. Allgemein führt Bewegungsmangel dazu, dass unser System weniger belastbar und damit auch anfälliger für Beschwerden ist, z.B. durch Fehlbeanspruchungen.

Unter Fehlbeanspruchung kann im Zusammenhang mit sitzender Tätigkeit vor allem eine ergonomisch ungünstige Sitzposition gesehen werden, die über dauerhaft angespannt Muskelstränge zu muskulären Verspannungen und über Dauer zu chronischen Veränderungen der Körperhaltung und der Körperstrukturen führen kann.

Ähnlich wirken auch Einseitigkeit und Monotonie bei sitzender Tätigkeit auf unseren Körper. Selbst die sitzende Tätigkeit an einem ergonomisch ideal eingerichteten Arbeitsplatz kann durch fehlende Variabilität in der Körperhaltung und damit einhergehender mangelnder Bewegung zu Beschwerden führen.

Außerdem können am Arbeitsplatz auch psychische Belastungen zu Verspannungen und Rückenschmerzen beitragen.

 

Spätestens seit der Pandemie arbeiten viele Menschen mobil, häufig dient der Küchentisch als Arbeitsplatz. Kann man in diesem Zusammenhang eine Zunahme der Rückenbeschwerden feststellen?

Der aktuelle Forschungsstand (https://doi.org/10.3390/ijerph19084599) liefert tatsächlich Hinweise, dass sowohl die Häufigkeit als auch die Intensität von Rückenschmerzen während der Pandemie zugenommen haben.

 

Können Sie uns sagen, welchen Einfluss Stress auf Rückenschmerzen hat?

Ja, zunächst aber mit dem Hinweis, dass mit empfundenem Stress immer verschiedenste Stressoren – also Stressauslöser – verbunden sind, die sich alle sehr unterschiedlich auf ein gesundheitliches Merkmal, wie z.B. Rückenschmerzen, auswirken können. Stress und Stressoren sind auch nicht nur auf einer mentalen Ebene einzuordnen. Auch körperliche Stressor, wie z.B. Lärm oder auch langes Sitzen in gerundeter Haltung können Stress auslösen. Da der Begriff Stress aber häufig sehr stark mit mentalen Faktoren in Verbindung gebracht wird, lässt sich sagen, dass hier besonders die Faktoren „soziale Unterstützung bei der Arbeit“ und Depressionssymptome starke Zusammenhänge mit Rückenschmerzen aufzeigen(10.1016/j.spinee.2018.05.018).

 

Gibt es belastbare Zahlen, wie häufig die Beschwerden stressbedingt sind?

Dazu lassen sich keine Zahlen angeben, da Rückenschmerzen (und auch Rückenerkrankungen) in aller Regel durch mehrere Faktoren gleichzeitig bedingt sind. Für Behandelnde ist es bspw. allein schon wertvoll zu wissen, wie groß der Einfluss unterschiedlicher Faktoren in etwa bei einer einzelnen Person ist.

 

Was empfehlen Sie Berufstätigen, die vorwiegend im Sitzen arbeiten, damit es gar nicht erst zu Rückenproblemen kommt?

Bei einer vorwiegend sitzenden Tätigkeit ist es von außerordentlicher Bedeutung, möglichst häufig die Position zu wechseln und eben auch möglichst häufig das Sitzen zu unterbrechen. Wenngleich wir hier gerade eigentlich über Rückenschmerzen sprechen, ist es auch besonders wichtig zu betonen, dass langfristig die Auswirkungen von täglich langem Sitzen vor allem auch für das Herz-Kreislauf-System vehement sind und sich täglich langes Sitzen auch kaum durch Sport am Abend ausgleichen lässt. Daher sind regelmäßige Unterbrechungen von entscheidender Bedeutung. Laut aktueller Es empfiehlt sich, das Sitzen mindestens alle 30 bis 60 Minuten für 3-5 Minuten zu unterbrechen. Für diese Unterbrechung genügt schon leichte Bewegung, wie ein Gang über den Flur oder Mobilisationsübungen, die ja auch individuell für eingeschränkte Körperbereiche ausgesucht sein können. Hier gibt es viele verschiedene Ansätze, die in der Regel alle ihre Berechtigung haben wie z.B. Übungen, die aus dem Yoga inspiriert sind, Übungen nach dem Prinzip Kraft in der Dehnung, leicht kräftigende Körpergewichtsübungen oder verschiedene Ganzkörperbewegungen. Beim Bildschirmarbeitsplatz sind auch Augenübungen sehr empfehlenswert. Bei längeren Sitzzeiten über 90 Minuten sollte dann bestenfalls schon eine größere Pause von ca. 15 Minuten mit moderater Aktivität eingeräumt werden. Weiterhin ist es auch trotz regelmäßigen Unterbrechungen des Sitzens natürlich höchst empfehlenswert zusätzlich gesundheitsförderliche Ausdauer- und Kräftigungs-Aktivitäten auszuüben. Denn die Reduktion des Risikofaktors Sitzen durch regelmäßige Unterbrechungen stellt etwas anderes dar als gesundheitsförderliche körperliche Aktivität. Auch Sitz-Steh-Tische können einen großen Mehrwert darstellen, da viel Beschäftigte dadurch vielleicht eher das Sitzen unterbrechen können, sich beim Stehen leicht bewegen können und nicht das Gefühl haben, dass die Pausen sie unter Druck setzen – wenngleich gerade regelmäßige ca. 3-minütige Pausen die Effizienz sogar erhöhen können.

 

Was können Arbeitgeber tun, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer möglichst gut geschützt sind?

Für Arbeitgeber ist es empfehlenswert, dass sowohl die Verhältnisse bei der Arbeit gesundheitsförderlich gestaltet werden, als auch, dass es Angebote zur Verhaltensprävention gibt. Konkret heißt das z.B., dass bzgl. der Verhältnisse eine ergonomische Einrichtung der Arbeitsplätze gewährleistet wird und bestenfalls auch alternative Ausstattung wie Sitz-Steh-Tische, höhenverstellbare Schreibtischauflagen oder verschiedene Sitz- und Stehmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Auch sollte organisatorisch geklärt sein, dass die zuvor genannten regelmäßigen Unterbrechungen des Sitzens möglich und sogar erwünscht sind. Im Hinblick auf das Verhalten ist es in dem Zusammenhang auch von entscheidender Bedeutung, dass die Arbeitnehmer*innen Hinweise, Training oder Coaching erhalten, wie sie die vorhandenen Mittel auch nutzen können. Des Weiteren werden im besten Fall Maßnahmen oder Kurse angeboten, die orientiert sind am Bedarf der Arbeitnehmer*innen. Sowohl Bewegungseinheiten als auch Kurse zu Themen wie Kommunikation am Arbeitsplatz können hier dazugezählt werden und sind im Optimalfall integriert in ein betriebliches Gesundheitsmanagement, welches Arbeitssicherheit, Arbeitsmedizin und Gesundheitsförderung umfasst.

 [HS1]DOI 10.25646/7854 [HS2]https://doi.org/10.3390/ijerph19084599 [HS3]10.1016/j.spinee.2018.05.018